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Nach Atomausstieg: Für Claudia Kemfert steht Deutschlands Süden unter Zugzwang

Interview: Claudia Kemfert, Energieexpertin beim DIW über Atomkraft
Fotos: Claudia Kemfert, Berlin © Oliver Betke (links), CC0 Public Domain / Pixabay - distelAPPArath

Am 15.04. stieg Deutschland endgültig aus der Atomkraft aus. Die renommierte Energieexpertin Claudia Kemfert erklärt im Utopia-Interview, wie sie den Atomausstieg einschätzt, ob unsere Energieversorgung ohne Atomkraftwerke gesichert ist und was jetzt nicht nur bei den erneuerbaren Energien passieren muss.

Die drei letzten Atomkraftwerke, die in Deutschland derzeit noch in Betrieb sind, gingen am Samstag vom Netz. Eigentlich hätte der Atomkraftausstieg bereits zum Jahreswechsel erfolgen sollen. Doch aufgrund der hohen Energiepreise und der Sorge vor Versorgungsengpässen im Zuge des Kriegs in der Ukraine liefen drei AKWs länger als geplant weiter. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte die Abschaltung per Machtwort auf den 15. April 2023 verschoben.

Nun ist seit Samstag endgültig Schluss mit Atomstrom in Deutschland – zumindest fast. Für Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), kommt dieser Schritt zu spät. Im Utopia-Interview erklärt die Professorin für Energiewirtschaft und -politik warum und zählt Maßnahmen auf, die es jetzt für die Energiewende braucht.

Utopia: Der deutsche Ausstieg aus der Atomkraft erfolgt am 15. April 2023 – ist das zu spät oder war der Streckbetrieb der drei verbliebenen Atomkraftwerke (AKWs) aus Ihrer Sicht notwendig?

Claudia Kemfert: Der Streckbetrieb war übertriebene Vorsicht. Deutschland hätte die Atomkraftwerke auch schon wie ursprünglich geplant zum Ende des Jahres 2022 abschalten können, ohne dass die Lichter ausgegangen wären. Der Stresstest der Übertragungsnetzbetreiber hat gezeigt, dass auch ohne Atomenergie die Versorgungssicherheit, auch im Süden Deutschlands, gewährleistet ist. Man wollte auf Nummer sicher gehen. Es hat sich aber bewahrheitet, was auch wir schon vorher sagten: die Lichter gingen nicht aus. Also viel Lärm um nichts.

Für Claudia Kemfert war der Streckbetrieb „viel Lärm uns nichts“

Utopia: Sie sprechen die Versorgungssicherheit an. Nach dem Abschalten von drei der letzten sechs betriebenen AKWs betrug der Anteil von Atomkraft in der deutschen Energieerzeugung 2022 nur etwa sechs Prozent der eingespeisten Strommenge. Sind die sechs Prozent, die AKWs zur Energieerzeugung in Deutschland beitragen, überhaupt relevant?

Kemfert: Die Strommenge ist leicht ersetzbar mit erneuerbaren Energien. Derzeit sind beispielsweise immer noch etwa 10 Gigawatt Windstrom in der Genehmigungsschleife. Würde man sie ähnlich schnell genehmigen wie Flüssigerdgas-Terminals, die mit der neuen „Deutschlandgeschwindigkeit“ in vier Monaten genehmigt wurden, dann hätte Deutschland auf einen Schlag fast dreimal so viel Kapazitäten zur Verfügung, wie die letzten Atomkraftwerke derzeit noch produzieren. Und das ist nur ein Beispiel. Nun ist wichtig, dass insbesondere im Süden Deutschlands die erneuerbaren Energien schneller ausgebaut werden.

Utopia: Sie finden also, man kann die aus Kernenergie erzeugte Energie leicht ersetzen. DIHK-Präsident Peter Adrian sagte der Rheinischen Post jedoch vergangenen Dienstag, Deutschland sei bei der Versorgungssicherheit „noch nicht über den Berg“.

Kemfert: Wir haben in Deutschland ausreichend Strom zur Sicherung der Versorgung. Zum einen gibt es ausreichende Strommengen, zum anderen wird aufgrund der hohen fossilen Energiepreise endlich mehr Energie gespart. Beides trägt zur Versorgungssicherheit bei. Die Gasversorgung ist auch ohne russisches Gas gesichert, genau wie wir es in unseren Studien vorhergesagt haben.

Utopia: Die Stromversorgung ist also gesichert?

Kemfert: Ja, die Stromversorgung in Deutschland ist gesichert. Die Probleme kommen derzeit vor allem aus Frankreich, wo noch immer ein Großteil der Atomkraftwerke nicht am Netz ist, weil sie marode sind oder wegen Klimawandel-bedingter Dürre kein ausreichendes Kühlwasser zur Verfügung steht. Das zum Thema Versorgungssicherheit von Atomenergie. Deutschland ist durchaus über den Berg, die Franzosen nicht.

Energieexpertin Kemfert: Atomkraft ist „extrem teuer, enorm aufwändig und risikobehaftet“

Utopia: Nicht nur Frankreich setzt bei der Energiewende vorwiegend auf Atomkraft, auch schwedische Klimaaktivisten befürworteten die Energiequelle, die im Gegensatz zu Kohle und Erdgas kein CO2 freisetzt (Schweden erzeugte 2022 über 30 Prozent seines Stroms aus Kernenergie). Ist dieser Vorteil für Sie ein ausreichendes Argument, weiter Strom aus Atomkraft zu erzeugen und sogar neue AKWs zu bauen?

Kemfert: Zunächst einmal: Atomenergie ist nicht komplett CO2-frei. Das Umweltbundesamt hat vorgerechnet, dass durchaus CO2-Emissionen entstehen, nämlich beim Kraftwerksbau und -rückbau, der Endlagerung und auch beim Uranabbau und bei der Herstellung der Brennelemente. Aber davon mal ganz abgesehen: Der Neubau der Anlagen ist extrem teuer, enorm aufwändig und risikobehaftet. Ein Großteil der Neubauprojekte dauert deutlich länger als geplant, teilweise über 10 Jahre! Fakt ist: Atomenergie ist teuer, der Neubau ist ohne staatliche Subventionen kaum finanzierbar. Keine Versicherung trägt die Risiken, die Gesellschaft haftet allein. Es gibt so viel billigere, sichere, friedensstiftende und zukunftsfähige Alternativen: nämlich erneuerbare Energien.

„Atomenergie ist keine Technik der Zukunft, sondern der Vergangenheit“

Utopia: Die Rechnung von Frankreich, Schweden und Co. wird also auf längere Sicht nicht aufgehen? Das aufgrund von Dürre fehlende Kühlwasser für Reaktoren haben Sie bereits angesprochen.

Kemfert: In Frankreich sieht man gerade eindrücklich, dass die Rechnung nicht aufgeht. Der Klimawandel führt zu einer extremen Dürre und Wasserknappheit, deswegen fehlt das Kühlwasser und zahlreiche Atomkraftwerke sind deswegen nicht am Netz. Das gefährdet die Versorgungssicherheit in ganz Europa. Atomenergie ist keine Technik der Zukunft, sondern der Vergangenheit.

Claudia Kemfert: Atomkraftwerke behindern die Energiewende

Utopia: Sie sagten in einer Stellungnahme vom 11.04.23: „Der Betrieb der [Atomkraft-]Anlagen hat bereits den Umstieg zu erneuerbaren Energien behindert, da Atomkraftwerke zu unflexibel sind in der Kombination mit erneuerbaren Energien […]“. Könnten Sie das genauer erläutern?

Kemfert: Gern. Atomkraftwerke sind für den Dauerbetrieb ausgelegt und können nicht leicht hoch und runtergefahren werden, wenn Schwankungen durch erneuerbare Energien ausgeglichen werden müssen. Atomkraftwerke sind zu inflexibel in der Kombination mit erneuerbaren Energien und behindern die Energiewende. Bei überschüssigem Strom werden daher Windanlagen abgeregelt, nicht Atomkraftwerke. Atomkraftwerke sind zu schwerfällig und behäbig und behindern eher den Umstieg. Dabei sollten wir den Windstrom effektiv nutzen! Was wir brauchen, sind nicht blockierende Dauerbetrieb- sondern flexible Anlagen.

Ausbautempo bei erneuerbaren Energien „muss sich mindestens verdreifachen“

Utopia: Was muss sich bei den Erneuerbaren Energien konkret tun, damit diese die fossilen Energiequellen ablösen und vor allem wie schnell?

Kemfert: Die erneuerbaren Energien müssen sehr viel schneller ausgebaut werden, das Ausbautempo muss sich mindestens verdreifachen. So schnell wie möglich, uns läuft die Zeit davon. Genehmigungsverfahren müssen erleichtert werden, mehr Flächen für Windenergie ausgewiesen und die Barrieren und Hemmnisse insgesamt abgebaut werden. In Bayern sollte beispielsweise die pauschale Abstandsregel für Windenergie sofort abgeschafft werden, da der Zubau von Windenergie nahezu zum Erliegen gekommen ist. Erneuerbare Energien sind Teamplayer, wir brauchen alle, von Wind, Sonne, Geothermie bis zu nachhaltiger Biomasse und Wasserkraft. Ein intelligentes Energie- und Lastmanagement samt smarter dezentraler Verteilnetze. Überall sind Lösungen und Umsetzungen gefordert, und das alles so schnell wie möglich. Wenn man nicht will, findet man Gründe. Wenn man will, findet man Wege. Es ist Zeit, endlich die Wege zu beschreiten.

Windräder, Windenergie
Windenergie wird in Deutschland nach Einschätzung von Claudia Kemfert noch zu langsam ausgebaut. (Foto: CC0 Public Domain / Unsplash - RawFilm)

Ausbauziele „gehen in die richtige Richtung“, sind aber zu langsam

Utopia: Reichen die Ausbauziele der Bundesregierung aus?

Kemfert: Sie gehen in die richtige Richtung. Es geht aber alles zu langsam und nicht beherzt genug. Es muss schneller gehen. Aber wir alle sind auch Teil der Lösung: indem wir beispielsweise Energie sparen, auf Elektromobilität oder Fahrrad u.a. umsteigen oder Solarenergie aufs Dach legen. Oder sich an Bürgerenergie-Projekten beteiligen oder Bürgerenergie beziehen. Es gibt so viele Möglichkeiten mitzumachen. Es ist ja eine echte Mitmach-Energiewende. So können wir alle die Energiewende zum Erfolg bringen.

Utopia: Das klingt gut, aber mehr E-Autos benötigen mehr Strom, mehr Wärmepumpen ebenso. Inwieweit erhöhen diese Beiträge zum Klimaschutz den Stromverbrauch in Deutschland und kann dies zu Versorgungsengpässen führen?

Kemfert: Der für effiziente Wärmepumpen und Elektromobilität benötigte Strom kann und wird problemlos durch erneuerbare Energien abgedeckt werden. Wichtig ist hier zu verstehen: Je effizienter wir Strom nutzen, d.h. nicht verschwenden, desto weniger wird der Stromverbrauch steigen. Das Schöne ist ja: Erneuerbarer Energien-Strom wird vor Ort produziert und kann sofort verbraucht werden. Das schafft enorme Effizienz. Wenn allerdings Strom unnötig verschwendet wird, indem beispielsweise kostbarer Wasserstoff im SUV oder der Heizung eingesetzt wird, wird 3 bis 5 mal so viel Strom benötigt, als wenn man ihn sofort nutzen würde. Bei E-Fuels sogar 5 bis 8 mal so viel. Nur das kann zu Versorgungsengpässen führen.

Utopia: Wenn man als Verbraucher:in zur Energiewende beitragen will, kommt man am Stromsparen nicht vorbei. Wie relevant ist zusätzlich der Umstieg zu einem Ökostrom-Anbieter?

Kemfert: Es ist durchaus relevant. Je mehr zu einem Ökostromanbieter wechseln, der beispielswiese Ökostrom vor Ort produziert, desto mehr Ökostrom muss auch ausgebaut werden. Daher ist beides sehr wichtig: Energie sparen und Ökostrom beziehen.

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