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500 Tage alleine unter der Erde: Psychologin erklärt, was das mit einem macht

Extrem-Experiment Isolation: Eine Psychologin erklärt, was wir daraus lernen können und warum Alleinsein wichtig ist.
Fotos: Dokumalia/dpa

Wie fühlt es sich an abzutauchen? Weg von äußeren Reizen, allein mit den eigenen Gedanken. 500 Tage lang. Die Spanierin Beatriz Flamini hat das Experiment gewagt und zeigt sich nach ihrer Rückkehr regelrecht euphorisch. Gegenüber Utopia erklärt die Psychologin Ursula Wagner, was Menschen aus dem Alleinsein lernen können.

Die Spanierin Beatriz Flamini hat Erstaunliches geschafft: 500 Tage lang lebte die 50 Jahre alte Bergsteigerin völlig isoliert unter der Erde. 70 Meter in der Tiefe – freiwillig, zu Forschungszwecken. „Ich habe diese ganze Zeit mit niemandem gesprochen, nur mit mir selber“, erklärte Flamini nachdem sie am Freitag aus einer Höhle in der südspanischen Provinz Granada aufgestiegen war.

Ihr Experiment, das nun wissenschaftlich aufgearbeitet und für einen Dokumentarfilm genutzt wird, stellt ein Extrembeispiel des Alleinseins da. Laut der Psychologin Ursula Wagner kann es aber Aufschluss über ein Grundentwicklungsziel des Menschen geben: die eigene Autonomie und Selbstwirksamkeit.

Wagner, die Menschen im Umgang mit sich selbst berät, sagt im Gespräch mit Utopia: „Menschen brauchen Abhängigkeit und Unabhängigkeit in unterschiedlicher Dosierung.“ Obgleich Flamini ein Extrembeispiel darstellt, kann jede:r davon lernen. Zwar sind Menschen grundsätzlich soziale Wesen, allerdings wollen sie laut der Expertin auch autonom von Freunden oder Familie – „eben nicht ständig eingebunden“ – sein.

Projekt „Timecave“: Völlige Isolation, kein Kontakt zur Außenwelt

Wie wenig Flamini eingebunden war, zeigte der Aufbau des Experiments, das den Namen Projekt „Timecave“ trägt. Forschende verschiedener Disziplinen der Universitäten Granada und Almería haben es geleitet und begleitet. Nach ihren Angaben hatte Flamini seit Beginn des Experiments im November 2021 überhaupt keinen Kontakt zur Außenwelt. Sie hatte unter anderem keine Uhr und kein Telefon. Sie verfügte über Strom und einen Laptop, mit dem sie zwar Information an die Außenwelt habe senden, aber nicht empfangen können.

Die Folge: Das Abflachen der Corona-Pandemie oder den Ausbruch des Angriffskriegs auf die Ukraine hatte die 50-Jährige während ihrer Zeit unter der Erde nicht mitbekommen. Auch deshalb dürfte das Projekt auf breites öffentliches Interesse gestoßen sein.

Psychologin Wagner sieht noch eine weitere Komponente. „Extreme Leistungen wie diese interessieren uns generell, weil wir daran sehen, dass die Grenzen des Möglichen viel weiter weg liegen als in unserer Komfortzone. Alleinsein fasziniert Menschen, weil in unserer Gesellschaft das Bedürfnis nach Kontakt und Kommunikation so übererfüllt wird.“ Und genau hierin sieht die Expertin den Mehrwert des Alleinseins: Es helfe Menschen dabei, äußere Reize zu verarbeiten.

Wagner erklärt: „Wenn man nicht abgelenkt wird, ist man angehalten, sich mit dem Erlebten und den eigenen Gedanken sowie Gefühlen auseinanderzusetzen. Dazu zählen Fragen wie: ‚Was ist mir wirklich wichtig im Leben?‘“ So findet ein „Abgleich mit den eigenen Vorstellungen und der Realität“ statt, wie Wagner sagt. Allerdings müsse man das aushalten können, weswegen manche Menschen das Alleinsein meiden würden.

Psychologin Wagner: Alleinsein kann man üben

Im Gegensatz zur Isolation muss man sich für das Alleinsein völlig der Außenwelt entziehen. Das zeigen Beispiele, mit denen Menschen das Alleinsein im Alltag laut der Psychologin üben können – etwa in einem Restaurant oder Café. „Dort sind sie umgeben von anderen Menschen, aber letztlich sind sie dann doch alleine. Je öfter man solche Situationen einübt, desto eher kann sich eine Gewöhnung einstellen.“ 

Da es hier aber noch Reize gibt, die von den eigenen Gedanken und Emotionen ablenken können, empfiehlt die Expertin in einem zweiten Schritt, Abende alleine zu verbringen und das, was einem durch den Kopf geht, aufzuschreiben. Auch ein „Schweigeretreat“, bei dem man bewusst den Kontakt mit anderen Menschen meidet, kann helfen.

Wann Alleinsein problematisch wird

Wann aber wird Alleinsein zur Belastung? Laut Medienberichten ist Bergsteigerin Flamini eine „Elitesportlerin“, machte gesundheitlich und emotional einen guten Eindruck, obwohl sie nach ihrem Aufstieg etwas Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu halten, wie sie einräumte. Ihren eigenen Zustand beschrieb sie zunächst als „ausgezeichnet, nicht zu übertreffen“. Dass Flamini während ihrer Isolation mit sich selbst gesprochen hat, könnte nach Einschätzung von Psychologin Wagner ebenfalls zu diesem positiven Erleben beigetragen haben.

„Um dabei gesund zu bleiben, muss ein Mensch zunächst grundlegend psychisch stabil sein. Außerdem ist es notwendig, dass die Person mit sich selbst emphatisch ist und zum Beispiel positive, aufmunternde Selbstgespräche führen kann (wenn auch nur in Gedanken). Denn wir brauchen als Menschen Resonanz und Reflexion. Wem es gelingt, dies mit sich selbst aufzubauen, verfügt danach über eine größere Unabhängigkeit als davor“, so die Expertin.

Wagner warnt jedoch davor, dass die Grenzen zwischen gesundem Alleinsein und Einsamkeit fließend sind. Nämlich dann, wenn Menschen merkten, sich nirgendwo mehr einfügen zu können. „Wenn ständig alles eine Zumutung ist, was andere von einem wollen. Wer nicht mehr mit anderen klarkommt und sich abkapselt, ist auf dem Weg in die Einsamkeit.“

Flamini: „Das Leben anderer Menschen verbessern“

Für Flamini selbst war das Experiment nicht nur eine Mutprobe. Die Forscher:innen, die sie begleiteten und sie die ganze Zeit versorgten, wollen die Auswirkungen der vollkommenen Isolation untersuchen und unter anderem ermitteln, ob diese zu neuropsychologischen und kognitiven Veränderungen geführt hat. Um Flaminis Wohlergehen während des Experiments sicherzustellen, musste sie in der Höhle in einer „Sicherheitszone“ vorstellig werden. Dort wurden ihr auch Lebensmittel und Wasser überreicht.  

In einer Pressekonferenz, die nur zweieinhalb Stunden nach Abschluss ihrer Ausdauerleistung stattfand, sagte Flamini: „Ich tue das auch, weil ich denke, dass es dazu beitragen kann, zu helfen und das Leben anderer Menschen zu verbessern“.

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