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Bei Energie unabhängig von Russland werden: Wieso Atomkraft der falsche Weg ist

Energiekrise: Wie wir auch ohne Atomkraft unabhängiger von russischen Importen werden
Foto: CC0/ Pixabay/ jplenio

Der Atomausstieg ist eigentlich beschlossene Sache. Trotzdem wird die Option eines Rückzugs immer wieder aufgeworfen – zuletzt von Bundesfinanzminister Christian Lindner. Wir haben einen Experten nach seiner Meinung gefragt.

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat sich gegenüber der Bild-Zeitung dafür ausgesprochen, eine Rückkehr zur Kernkraft nicht kategorisch auszuschließen. Wirtschaftlich sei er zwar noch nicht überzeugt, dass sich neue Investitionen in Kernkraft wirklich rechneten. „Aber Deutschland darf sich einer Debatte nicht verschließen, die überall auf der Welt geführt wird.“ Die Menschen erwarten, dass wegen des Klimaschutzes, der Abhängigkeit vom russischen Staatschef Wladimir Putin und der Inflation alle Möglichkeiten erwogen würden, so Lindner.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) widersprach dieser Ansicht. „Zur Atomenergie ist nicht mehr viel zu sagen“, sagte er der Bild. Das Thema sei zu Beginn der Legislaturperiode noch einmal „ideologiefrei fachlich“ geprüft worden und die Fachministerien hätten erneut entscheiden: „Das ist kein Weg, den Deutschland weiter gehen wird.“

Auch andere Parteien haben sich für die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken in Deutschland ausgesprochen, allen voran der CSU-Vorsitzende Markus Söder. Er argumentierte bereits im März: „So für drei bis fünf Jahre wäre das einfach in dieser Notsituation ein guter Übergang, um billigen Strom zu produzieren, der gleichzeitig auch keine Klimabelastung bringt“.

Deutschland deckt ein Viertel des Energieverbrauchs durch russische Rohstoffe

Deutschland bezieht Gas, Öl und Kohle aus Russland. Damit deckte die Bundesrepublik noch im März gut ein Viertel ihres Energieverbrauchs – doch der Anteil nimmt bereits beständig ab, wie unter anderem aus dem „Zweiten Fortschrittsbericht Energiesicherheit“ hervorgeht.

  • Bei russischem Öl hat die Mineralölwirtschaft Verträge nicht verlängert oder sie auslaufen lassen – es wird erwartet, bis zum Spätsommer unabhängig von Rohölimporten zu sein. Ein geplantes EU-weites Einfuhrverbot für russisches Öl unterstützt die Bundesregierung.
  • Zudem hat die EU vor kurzem ein Importverbot für russische Kohle mit einer Übergangsfrist beschlossen.
  • Bei russischem Gas sei die Abhängigkeit Deutschlands bis Mitte April auf etwa 35 Prozent gesunken. Kompensiert wird mit Importen aus Norwegen, den Niederlanden und mit Importen von Flüssigerdgas. Bis zum Sommer 2024 soll der Anteil auf zehn Prozent gedrückt werden, auch durch den Ausbau erneuerbarer Energien.

Die Importe vollständig zu kompensieren, dürfte trotzdem schwierig werden. Atomkraft kann dagegen direkt im Land erzeugt werden. Drei Kraftwerke tun dies in Deutschland auch immer noch: Eines liegt nahe Landshut, ein weiteres im Emsland bei Lingen und das dritte bei Heilbronn. Doch im Rahmen des Atomausstiegs sollen alle drei bis Ende des Jahres abgeschaltet werden.

Umweltverbände warnen vor Uran-Abhängigkeit

Umweltverbände warnten bereits anlässlich des Tschernobyl-Jahrestags im April davor, Laufzeiten von Atomkraftwerken in Deutschland zu verlängern. Olaf Bandt, Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), erklärte: „Tschernobyl zeigt, dass Atomkraft nicht beherrschbar ist. Der Krieg gegen die Ukraine führt uns deutlich vor Augen, dass wir uns Atomkraft mit all ihren Gefahren und Folgen nicht leisten können.“ Damit bezog er sich unter anderem auf die Gefahren, die verirrte Geschosse oder längere Stromausfälle und ein Versagen der Kühlsysteme in AKWs in der Ukraine aktuell darstellen können.

Atomausstieg: Ein Schutzbau bedeckt den explodierten Reaktor im Kernkraftwerk Tschernobyl.
Mahnmal für den Atomausstieg: Ein Schutzbau bedeckt den explodierten Reaktor im Kernkraftwerk Tschernobyl. (Foto: Efrem Lukatsky/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++)

Wieso der Weiterbetrieb der Kraftwerke nicht zur Unabhängigkeit Deutschlands von russischen Importen beiträgt, führt der neue „Uranatlas“ auf, den der BUND gemeinsam mit der Greenpeace-Umweltstiftung, der Nuclear Free Future Foundation und der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben hat. Er zeigt auf, wieso selbst ein Rückzug aus dem Atomausstieg keine Unabhängigkeit von Russland garantiert.

  • Laut Atlas stammen 40 Prozent der europäischen Uranimporte aus Russland und seinem Verbündeten Kasachstan. Auch die noch bis Ende des Jahres laufenden deutschen AKW würden laut Bandt zum großen Teil damit betrieben.
  • „Bei der Herstellung von angereichertem Uran, das für den Betrieb von Atomkraftwerken benötigt wird, ist die Abhängigkeit noch größer“, so die Nuklearexpertin Angela Wolff vom BUND. „Über ein Drittel des weltweiten Bedarfs kommt vom russischen Staatskonzern.“
  • Aus den Daten geht hervor, dass osteuropäische Länder besonders abhängig von Brennelementen aus russischer Produktion sind. 18 Reaktoren in Bulgarien, Ungarn, der Slowakei, Tschechien sowie Finnland sollen nur mit sechseckigen russischen Brennelementen betrieben werden können.

„Um die beiden slowakischen Atomkraftwerke mit neuen Brennelementen versorgen zu können, durfte am 1. März sogar eine russische Il-76-Transportmaschine mit Sondergenehmigung landen“, so Uwe Witt, Referent Klimaschutz und Strukturwandel bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. „Wenn Europa die Abhängigkeit von Russland im Energiebereich wirklich beenden will, muss es auch im Atombereich seine Zusammenarbeit mit Russland schnellstmöglich einstellen.“

Atomausstieg: Wieso eine Verzögerung keinen Sinn macht

Der langjährige Geschäftsführer des Öko-Instituts Prof. Dr. Rainer Grießhammer sieht die Debatte um eine Verzögerung des Atomausstiegs als „Phantomdiskussion“, denn die Verlängerung der Zulassung sei politisch nicht durchsetzbar. Gegenüber Utopia erklärte der Chemiker im März: „Atomkraftwerke sind hochkomplexe Systeme und nicht zu vergleichen mit alten Autos, die man eigentlich abmelden wollte, dann aber weiter nutzt“.

Zum einen müssten neue Brennstäbe eingebracht werden, was frühestens in eineinhalb Jahren möglich wäre – denn Brennstäbe müssen maßgefertigt werden und es gibt nur wenige Hersteller. Außerdem müssten neue Sicherheitsanalysen durchgeführt werden und die Kraftwerke bei einem längeren Betrieb gegebenenfalls kostspielig nachgerüstet werden.

Auch die Suche nach einem Endlager für Atommüll ist an die Bedingung gekoppelt, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt. Würde der Beschluss gekippt, würden sich Umweltverbände und Bürgerinitiativen aus der Endlagerdiskussion zurückziehen.

Selbst die Betreiber:innen der Kraftwerke sehen Probleme: Laut Spiegel wäre unter anderem Personalmangel zu befürchten, denn viele Mitarbeiter:innen würden zum Jahresende in den Vorruhestand geschickt oder würden den Job wechseln.

Umweltministerin Steffi Lemke hatte sich ebenfalls klar gegen eine Verlängerung der Laufzeiten ausgesprochen – auch aus Sicherheitsgründen. In einer Krisenzeit könne eine Laufzeitverlängerung der drei restlichen Atomkraftwerke Deutschland „besonders verwundbar machen“. Für Sicherheitsprobleme an Atomkraftwerken gibt es in letzter Zeit leider viele Beispiele. Das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine wurde beispielsweise seit Kriegsbeginn mehrmals von der Stromversorgung abgeschnitten, und musste mit Dieselgeneratoren betrieben werden. Die Stromversorgung ist unter anderem dafür nötig, damit die Atomruine durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) kontrolliert werden kann.

Trotz Atomausstieg: Es gibt andere Wege aus der Abhängigkeit von russischen Rohstoffimporten

Erneuerbare Energien sind Atomkraft in vielen Dingen überlegen.
Erneuerbare Energien sind Atomkraft in vielen Dingen überlegen. (Foto: CC0/ Pixabay/ andreas160578)

War es das also für die Atomkraft in Deutschland? „In Deutschland wird es keine Renaissance der Atomenergie geben“, ist sich Rainer Grießhammer sicher. Große Anstrengungen müssen vielmehr in Energieeffizienz und den völlig vernachlässigten Ausbau von Windkraft und Photovoltaik gehen. Denn: Erneuerbare Energien sind einfach günstiger. Den Nachteil der Volatilität kann man zum Beispiel durch Wasserstoffspeicher ausgleichen – auch Batteriesysteme werden immer besser.

„Wenn man die Anstrengung, die die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke kosten würde, in erneuerbare Energien investiert, kann man einen viel größeren Effekt erzielen“, folgert der Chemiker. Grießhammer warnt aber auch vor den Blockaden durch organisierte Windkraftgegner:innen und Bundesländer wie Bayern oder Nordrhein-Westfalen: „Vorgeschobene Argumente gegen Windkraftanlagen oder andere Formen der erneuerbaren Energien spielen Putin in die Hände.“

Erneuerbare Energien können laut Grießhammer also dazu beitragen, Deutschland weniger abhängig von Importen aus Diktaturen zu machen. Dies betreffe auch Länder wie zum Beispiel Saudi-Arabien. Das grundsätzliche Problem sei schon seit der ersten Erdölkrise in den 70er Jahren bekannt – Grießhammer und viele weitere Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen weisen seit Jahren in Büchern und Vorträgen darauf hin. „Trotzdem ist dieses Argument merkwürdigerweise erst jetzt in der politischen und öffentlichen Debatte angekommen“, so Grießhammer, „Wie kann das sein?“.

Utopia meint: Ob es nun eine Phantomdebatte ist oder nicht: Es gibt mehr als genügend Argumente für den Atomausstieg. Diese betreffen die Umwelt, eine zukunftsfähige Wirtschaft und natürlich Sicherheitsbedenken. Von den letztgenannten gab es nie wenige, und doch kommen angesichts des Krieges immer noch neue hinzu. Darum ist es nur richtig, wenn sich die Regierung nach den Fakten richtet – und auf erneuerbare anstelle von nuklearen und fossilen Energien setzt.

Übrigens gibt es viele Möglichkeiten, wie auch Privatpersonen Energie sparen können. Hier findest du Tipps:

Auch interessant: Privatpersonen können Strom sogar selber erzeugen – so könnte fast jede:r zur Energiewende beitragen.

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