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Autismus: Warum Aktivist:innen einen anderen Umgang mit Neurodiversität fordern

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Foto: CC0 / Unsplash / Caleb Woods

„Man sollte nicht einfach alles pathologisieren“: Ein Experte erklärt, dass längst nicht jeder Mensch mit Autismus darunter „leidet“, und warum sich Aktivist:innen für ein besseres Verständnis der neurologischen Vielfalt einsetzen.

Das Selbstverständnis von autistischen Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Viele verstehen sich längst nicht mehr als krank, sondern sehen ihre Neurodiversität als natürlichen Teil ihres Selbst. Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater Sven Bölte, warum und wie Menschen aus dem Autismus-Spektrum jetzt Druck auf die Wissenschaft ausüben: Sie fordern sowohl mehr Teilhabe in der Forschung als auch ein gesellschaftliches Umdenken.

Sven Bölte leitet das Zentrum für Neuroentwicklungsstörungen und die Abteilung für Neuropsychiatrie am Karolinska-Institut in Stockholm. Er unterstützt nach eigenen Angaben die Aktivist:innen dabei, sich bei Fachleuten mehr Gehör und Unterstützung zum Thema Autismus zu verschaffen.

Autismus ist „sehr heterogen“: Wie äußert sich Autismus?

„Andere Menschen können für Autisten eine Art Blackbox sein“, erklärt der Kinderpsychologe ein häufiges Merkmal von Autismus. Menschen aus dem Autismus-Spektrum seien oft unsicher in Bezug auf die Gefühle und Erwartungen anderer Menschen, wüssten zum Beispiel oft nicht, was gemeint ist, wenn das Gegenüber es nicht ganz konkret ausspricht. Daher würden sich autistische Menschen untereinander generell auch wohler fühlen als unter neurotypischen – also nicht-autistischen – Menschen, so Bölte: Ihre Art zu kommunizieren ähnele sich tendenziell mehr.

Ein weiteres häufiges Merkmal von Autismus sind laut dem Psychater sensorische Schwierigkeiten. Betroffene reagieren beispielsweise sehr empfindlich auf helles Licht, laute Geräusche oder Berührungen. Das könne den Alltag für sie schwieriger machen. „In unserer Gesellschaft gibt es eine recht eindeutige Auffassung davon, wie man zu sein hat“, sagt der Experte, und neurodivergente Menschen könnten diesem Bild meist nicht entsprechen.

Bölte beschreibt gegenüber der FAZ, dass Fachleute vor 25 Jahren noch gemeint hätten, man könne Autismus sehr leicht, sozusagen mit nur einem Blick, diagnostizieren. Heute wisse man das besser. Autismus ist, so sagt er, „sehr heterogen und eher eine Eigenschaft mit teils fließendem Übergang zum ‚neurotypischen‘, also der Allgemeinbevölkerung.“

Unterscheidung zwischen Krankheit und Vielfalt

In Fachkreisen wie auch unter den Aktivist:innen herrscht Bölte zufolge eine Debatte um die Unterscheidung zwischen Neurodiversität und Krankheit beziehungsweise Störung. Immer mehr Betroffene setzen sich demnach dafür ein, dass Autismus nicht mehr als krankhaft oder gestört angesehen wird, sondern einfach als Teil der Persönlichkeit. Dazu beigetragen habe, dass immer mehr Forschende in dem Gebiet selbst eine Autismus-Diagnose erhalten hätten. Die Aktivist:innen seien zudem stark in den sozialen Medien präsent – unter anderen mit Aussagen wie: „Ich habe nichts, ich fühle mich nicht krank, sondern ich bin so, und das ist ok so“.

Der Psychiater stimmt diesem Sentiment zu: „Man sollte nicht einfach alles pathologisieren, von krank und gesund, normal und nicht normal sprechen. Oder behaupten, dass jeder Autist unter Autismus leidet. Das ist nicht mehr zeitgemäß.“ Seiner Meinung nach dürfen Forschende und Kliniker:innen die aktuelle Diskussion um Neurodiversität nicht ignorieren. Denn ähnlich sei es in der Vergangenheit auch mit Sexualität und anderen Wesensmerkmalen gewesen: Schwule und Linkshänder:innen seien auch als abnorm angesehen worden und mussten sich mitunter umerziehen lassen. „Heute erscheint das absurd“, sagt Bölte. Er findet, ein solches Umdenken sei auch beim Autismus gut denkbar.

Der „Sinn und Unsinn von Autismus-Diagnosen“

Generell müsse man den „Sinn und Unsinn von Autismus-Diagnosen“ überdenken, findet der Kinderpsychiater. Als Nachteil nennt er, dass Betroffene durch eine Diagnose als krank angesehen werden und viele deshalb in der Psychiatrie landen und dass Menschen mit Autismus gesellschaftlich viel mehr exkludiert als inkludiert werden. Gänzlich auf Diagnosen zu verzichten, sei jedoch zumindest derzeit nicht der richtige Weg, denn diese seien für viele neurodivergente Menschen bisher der einzige Weg, Glaubwürdigkeit und Hilfe zu erlangen. Der Mediziner sieht beim Umgang mit Autismus also noch „viel Verbesserungspotential“.

Verhaltenstherapien, die viele autistische Kinder derzeit erhalten, sind ein Beispiel für die Debatte um Autismus als Krankheit. Bölte erklärt, dass gar nicht sicher sei, ob das Ziel der Verhaltenstherapien überhaupt eine „Behandlung“ im ursprünglichen Sinne ist. Aus seiner Sicht sollen sie den Kindern stattdessen eher hilfreiche Fertigkeiten mit auf den Weg geben. Die im Vorschulalter häufig eingesetzte Applied Behaviour Analysis (ABA) sei zum Beispiel gut erforscht und würde mit Belohnungen arbeiten, um für die Kinder als „Entwicklungsbeschleuniger“ zu fungieren.

Unterstützen, nicht behandeln

In dem Sinne würde auch er niemanden wirklich behandeln, sondern eher unterstützen, stellt Bölte klar. Letztendlich sei das Ziel dabei immer, negative Konsequenzen wie zum Beispiel Schulphobien zu verhindern. Statt sich nur auf Probleme zu fokussieren, wolle er dabei die „Stärken, Präferenzen und Interessen der Autisten nutzen“, um ihnen zu helfen, ihre Lebensqualität zu steigern.

Ganz konkret: Mit autistischen Kindern und Jugendlichen könne man trainieren, die Mimik und Gestik anderer Leute richtig zu deuten, oder lernen, wie man Menschen anspricht, Konflikte vermeidet, Gespräche beginnt und beendet. „Es ist ein Ozean von Dingen, die für neurotypische Menschen meist unproblematisch sind, für Autisten aber eine halbe Wissenschaft und meist mit Angst besetzt.“

Empirische Daten sowie die Rückmeldungen der Betroffenen belegen, sagt Bölte, dass diese Trainings nützlich sind. Der Kritik, dieser Ansatz wolle Menschen mit Autismus „normalisieren“, stimmt der Psychiater nicht zu: Wer die Trainings nicht bräuchte, müsse sie nicht in Anspruch nehmen. Denjenigen, die sich im zwischenmenschlichen Leben schwertun, könnten diese Programme jedoch helfen.

Gesellschaftliches und fachliches Umdenken

Um Autismus in Zukunft besser zu verstehen, fordern Aktivist:innen auch in der Forschung selbst mehr Teilhabe – zum Beispiel, indem sie Forschungsfragen mitbestimmen dürfen. Bölte beschreibt, dass er in seinen Studien aus demselben Grund auch immer Menschen mit Autismus miteinbeziehen würde: Es werde immer noch zu wenig darüber geforscht, wie man ihren Alltag beziehungsweise ihr Schul- und Arbeitsleben verbessern könnte.

Gibt es immer mehr Menschen mit Autismus?

Dass die Autismus-Diagnosen in der letzten Jahren so stark angestiegen sind, hat laut dem Kinderpsychologen verschiedene Ursachen. Autismus sei erst in den 1980er Jahren als breiteres Phänomen erkannt worden. Darauf folgte mehr Bewusstsein und eine Entstigmatisierung, zudem sei die Diagnose oft der Weg zu Hilfeleistungen für die Betroffenen. Das bessere Wissen um das Wesen des Autismus führte zu vielfältigeren Diagnosen: Sie würden früher gestellt, aber gleichzeitig auch öfter noch bei Erwachsenen. Auch Frauen und Mädchen wurden erst in den letzten Jahren vermehrt mit Autismus diagnostiziert.

Anm. d. Red.: Dieser Artikel ist auf Kritik gestoßen, da keine neurodivergente Person zu Wort kam. Es wurde über die Menschen gesprochen – nicht aber mit ihnen. Wir als Redaktion nehmen diesen berechtigten Einwand ernst und lernen dazu. Deshalb arbeiten wir derzeit an einem Artikel, der die Perspektive neurodivergenter Menschen abbilden soll. Danke für euer Verständnis!

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