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Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie? Forscher:innen sind gespalten

Darwins Evolutionstheorie zweifelhaft? Forscher:innen sind gespalten
Foto: CC0 / Pixabay / jplenio

Wissenschaftler:innen spaltet eine Diskussion über die Evolution. Laut der einen Fraktion ist die bisher bekannte Evolutionstheorie stark lückenhaft. Was fehlen soll und wieso das so umstritten ist.

Durch die Evolution wurde der Mensch so, wie er heute ist. Doch was sind die Gründe und Auslöser für die Veränderung des Menschen? Bereits in der Schule lernen die meisten Menschen, dass die Evolutionstheorie von Charles Darwin den Prozess am besten beschreibt.

Doch selbst in der Biologie sind sich Wissenschaftler:innen nicht einig. 2014 veröffentlichen Wissenschaftler:innen einen bedeutenden Artikel, der an den Konflikt anknüpft und die neue, erweiterte Evolutionstheorie verteidigt. Der Guardian hat ihn aufgegriffen.

Die natürliche Selektion: Nicht die treibende Kraft in der Evolution?

2014 veröffentlichen acht Wissenschaftler:innen den Artikel „Does evolutionary theory need a rethink?”
2014 veröffentlichen acht Wissenschaftler:innen den Artikel „Does evolutionary theory need a rethink?”
(Foto: CC0 / Pixabay / PublicDomainPictures)

Die natürliche Selektion gilt als allgemeingültig. Sie bedeutet – kurz gesagt – dass über mehrere Generationen hinweg nur die am besten an die Umwelt angepassten Individuen überleben. So entsteht die Anpassung und Veränderung von Lebewesen und somit die Evolution. Die Theorie wurde 1859 von Charles Darwin entwickelt.

Die heutige, auf Darwins Erkenntnissen basierende Theorie wird „standard evolutionary theory“ (SET) oder „synthetische Evolutionstheorie“ genannt. Doch für immer mehr Wissenschaftler:innen ist diese Erklärungsweise zu stark vereinfacht oder irreführend.

2014 veröffentlichen acht Wissenschaftler:innen den Artikel „Does evolutionary theory need a rethink?” (Braucht die Evolutionstheorie ein Umdenken?). Ihre Antwort: „Ja, dringend.“ Jede:r der Wissenschaftler:in kommt von innovativen und hochmodernen wissenschaftlichen Subfeldern. Zusammen bringen sie Argumente hervor für den Ansatz, dass Darwins Theorie und damit auch die SET nicht allumfassend für die gesamte Evolution ist. Die natürliche Selektion sei nicht die stärkste Kraft in der Evolution.

Sie argumentieren stattdessen für ein Framework mit dem unspektakulären Namen Extended Evolutionary Synthesis (EES), das in den 1950er Jahren entstand und sich seitdem weiterentwickelt. Im gleichnamigen Forschungsprojekt in etwa testen und erforschen 51 weltbekannte Expert:innen interdisziplinär das EES weiter.

Dem EES zufolge reicht Darwins Evolutionstheorie nicht aus. Ein möglicher Grund für die vermeintlichen Versäumnisse: Er stellte die Theorie über die natürliche Selektion auf, ohne zu wissen, was Gene sind.

Fehlende Aspekte in der SET sind laut dem wissenschaftlichen Paper unter anderem die Aspekte der:

  • Plastizität: wie die Umwelt direkt die Eigenschaften eines Organismus beeinflusst; Englisch: „plasticity“
  • Entwicklungsverzerrung: wie körperliche Entwicklung das Vorkommen von Variation beeinflusst; Englisch: „developmental bias“
  • Nischenkonstruktion: wie Organismen Umgebungen verändern, um der natürlichen Selektion zu entgehen; Englisch: „niche construction“
  • Außergenetische Vererbung: wie Organismen mehr als Gene an nachfolgende Generationen weitervererben

Für die SET basierend auf Darwin sind das Resultate der Evolution. Für Anhänger:innen der EES sind es weitere Auslöser.

Evolutionstheorie: Ist Darwin noch das Maß aller Dinge?

Der britische Naturforscher Charles Darwin.
Der britische Naturforscher Charles Darwin.
(Foto: CC0 / Pixabay / aitoff)

Darwins Theorie ist weltbekannt, aber sehr allgemein gehalten. Über die Zeit konnte er beobachten, wie Lebewesen sich an ihre Umwelt anpassen. Wie diese Veränderung vererbt wird, konnte er nicht erklären.

Neue Erkenntnisse und Überlegungen schienen Darwins Theorie eher zu verkomplizieren. Im 20. Jahrhundert versuchte Gregor Mendel die Vererbung zu verstehen. Reproduktion schien die Gene auf mysteriöse Weise zu mischen. Beispielsweise kann ein Großvater rote Haare haben und sein Sohn nicht. Die roten Haare können dann doch wieder bei seiner Enkelin auftreten. Wie funktioniert natürliche Selektion, wenn Variationen zwischen zwei Generationen nicht jedes Mal auf die nächste übergehen?

Nach Darwin geschieht die natürliche Selektion schleichend, kleine Veränderungen von Generation zu Generation. Er schrieb einmal „Nature does not make jumps“: Die Natur macht keine Sprünge. Zoologe und Genetiker Thomas Hunt Morgan experimentierte 1910 mit radioaktivem Futter für Fliegen und zeigte so, dass die Natur doch manchmal „springt“: Die Fliegen bekamen mutierte Merkmale, welche sie direkt weitervererbten. Diese Erkenntnis ließ sich nur schwer mit Darwins Theorie vereinbaren.

„Kultur-Krieg” in der Biologie

Der Anstoß für das Umdenken kam ursprünglich aus der Molekularbiologie, wo die Forscher:innen individuelle Moleküle durch ein Mikroskop beobachten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts fanden sie Argumente dafür, dass die natürliche Selektion nicht die alles vorantreibende Kraft ist: Sie entdeckten, dass die Moleküle unserer Zellen in einer sehr hohen Rate mutieren.

Anders als von der Evolutionstheorie vorausgesagt, wurden jedoch nicht nur die nützlichen Änderungen weitervererbt und die nutzlosen irgendwann aussortiert – oft blieben Mutationen aus nichts weiter als Zufall bestehen. Die Rolle der natürlichen Selektion schien zumindest bei diesem Prozess also klein bis nicht vorhanden.

Vertreter:innen der synthetischen Evolutionstheorie und Vertreter:innen der „Non-Darwin-Evolution“ diskutierten über die Bedeutung der natürlichen Selektion. Bis heute bleibt die synthetische Evolutionstheorie der Mittelpunkt der modernen evolutionären Biologie.

„Wir sind nicht hier, um den Rüssel eines Elefanten zu erklären“, so Brian Charlesworth, britischer Evolutionsbiologe, gegenüber dem Guardian. Charlesworth gilt weithin als einer der alteingesessenen Vertreter der Synthetische Evolutionstheorie, glaubt jedoch nicht, dass die Evolutionstheorie radikal überarbeitet werden muss. Schließlich solle Evolution universell sein und sich auf die kleinen Faktoren fokussieren, die alle Lebewesen betreffen.

In der Wissenschaft bilden sich jedoch auch Meinungsgruppen mit verhärteten Fronten. Für manche wirkt die Diskussion der beiden Seiten mehr wie ein Kultur-Krieg als eine wissenschaftliche Uneinigkeit – ein Kampf zwischen der traditionsbehafteten Theorie und einer erweiterten, welche neue Erkenntnisse miteinbezieht. Der Biologe Eugene Koonin findet jedoch, die Forschenden müssen sich an Uneinigkeit gewöhnen, denn es könne nicht eine einzig richtige Evolutionstheorie geben. „Es gibt keine einzelne Theorie für alles“, äußert er sich gegenüber dem Guardian.

Auch das EES Forschungsprojekt vertritt die Meinung, dass das neue Framework nicht die alte Denkweise ersetzt, sondern dass alle Erkenntnisse gleichzeitig genutzt werden sollten, um Forschung zum Thema zu stimulieren. Unter extendedevolutionarysynthesis.com kannst du mehr zum Thema lesen.

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