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„Die schlimmsten Tage meines Lebens“: Sat1-Journalistin undercover in Tönnies-Fleischfabrik

Tönnies Schlachtfabrik
Foto: www.sat1.de / Sat.1 Investigativ

Die Dreharbeiten sollten Anwält:innen ursprünglich verhindern. Jetzt ist die kritische Reportage über den Fleischkonzern kurzfristig bei Sat1 zu sehen. Hat sich bei Tönnies seit den massenhaften Corona-Ausbrüchen etwas verändert?

Am Dienstagabend kam es beim Privatsender Sat1 zu einer kurzfristigen Programmänderung. Der Anlass: eine investigative Dokumentation zur Fleischfabrik Tönnies und dessen Geschäftsführer, Clemens Tönnies.

Dabei wäre es fast nicht zu den Dreharbeiten von „Inside Tönnies“ gekommen, denn diese hätten durch Anwält:innen von Tönnies verhindert werden sollen, so der Sender.

Deutschlands größter Schweineschlachtbetrieb im Fokus

Mehr als 16.000 Mitarbeiter:innen und 7 Milliarden Euro Umsatz im vergangenen Jahr, diese Zahlen machen Tönnies zum größten Fleischfabrikanten Deutschlands. Sat1 meint sogar, „Wer Schwein isst, isst Tönnies.“

2020 geriet Tönnies aufgrund eines Corona-Massenausbruchs in die Schlagzeilen und mit dem Konzern die schlechten Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Doch wie sieht es heute hinter den Kulissen bei Tönnies aus? Damit befasst sich die aktuelle Dokumentation, für die laut „Sat1-Investigativ“ über mehrere Monate verdeckte Ermittlungen vor Ort erfolgten.

Die Reportage zeigt unter anderem verdeckte Aufnahmen einer Journalistin aus Bulgarien. Die 38-Jährige nannte sich für die Zeit der Recherche Milena und schleuste sich als Arbeiterin bei Tönnies ein. Sie arbeitete einen Tag (unbezahlt) zur Probe, unterschrieb dann einen Vertrag. In dem Vertrag, den sie heimlich mit dem Smartphone fotografierte (weil sie keine eigene Kopie ausgehändigt bekam) steht: Für eine Unterkunft soll sie 250 Euro monatlich bezahlen und ihr Arbeitslohn liegt bei 9,50 Euro pro Stunde.

Arbeiter der Toennies Schlachtfabrik
Arbeiter:innen der Tönnies Schlachtfabrik arbeiten und leben zuweilen unter menschenunwürdigen Bedingungen. (Foto: www.sat1.de)

Schon an den ersten beiden Arbeitstagen musste Milena jeweils eine Stunde länger arbeiten. Eine Kollegin erklärte: „Du musst immer eine Stunde extra arbeiten.“ 50 Überstunden kamen so im vorherigen Monat zusammen, fügte sie hinzu. Milenas Bilanz zu den ersten Tagen: „Die schlimmsten Tage meines Lebens, ich hab‘ überall Schmerzen.“ Es wurde ihr auch erzählt, dass es aufgrund von Erschöpfung bei Arbeiter:innen zu Zusammenbrüchen käme und dass sich einige der Arbeiter:innen nach der Arbeit im Schlachthaus auf dem Parkdeck prostituieren würden.

„Es sind Wegwerf-Menschen“

Nicht nur Tiere werden im Namen des Betriebs Tönnies ausgebeutet, auch die Arbeiter:innen fristen „ein trauriges Dasein“. In der Reportage ist die Rede von Unterdrückung der Arbeiter:innen in „einem respektlosen System“ und von „moderner Sklaverei mitten in Deutschland“. Zudem heißt es, der Unternehmer Tönnies missachte (mindestens bis Sommer 2021) deutsche Gesetze. Zum Beispiel werden Arbeitsverträge den Arbeiter:innen nach Unterzeichnung nicht ausgehändigt und verbleiben ausschließlich im Unternehmen. Den Recherchen zufolge sind die Dokumente auf Deutsch und werden damit von vielen der Arbeiter:innen gar nicht erst verstanden.

Undurchsichtige Subunternehmer-Leiharbeit ist seit dem Corona-Skandal 2020 rechtlich nicht mehr in der Fleischindustrie erlaubt. Doch die Recherchen zeigen, dass die alten Strukturen aktuell noch bestehen. So sorgen frühere Sub-Firmen auch heute für ausreichend Rekrutierung von Arbeiter:innen, vornehmlich aus osteuropäischen Ländern. Die Recherchen lassen aber offen, ob Tönnies sich so auch weiterhin von Personalverantwortung und Sozialabgaben-Pflicht befreit. Stattdessen berichten die Journalist:innen von Einschüchterung der Mitarbeiter:innen bei Tönnies und von „Mietwucher für menschenunwürdige Unterkünfte“, die das Unternehmen über die Tönnies Immobilien GmbH an Arbeiter:innen vermietet. Der Transport zum Arbeitsort kostet extra.

Unterkunft für Tönnies-Mitarbeiter:innen
Die Unterkünfte für Tönnies-Mitarbeiter:innen sind zuweilen in einem mangelhaften Zustand. (Foto: www.sat1.de)

Doch damit nicht genug: Den Sat1-Recherchen zufolge werden Mitarbeiter:innen der Schlachterei gezielt überwacht, isoliert und kontrolliert. Bei vielen Arbeiter:innen führe die Angst dazu, dass sie Missstände nur anonym ansprechen und keine rechtlichen Schritte einleiten. Sat1-Investigativ erwägt hingegen, bezüglich der Mietverhältnisse Strafanzeige gegen Tönnies zu stellen.

Auch öffentlich-rechtliche Sender befassten sich kürzlich mit dem Thema Tönnies und strahlten dazu am 22.11.2021 eine Sendung mit dem Titel „Die Schlachtfabrik“ aus. Der Firmenchef Clemens Tönnies kommt dort zu Wort und lässt sich interviewen. Sat1 deutet dies als einen Versuch, durch die Dokumentation der ARD „seinen schlechten Ruf reinzuwaschen“.

Tönnies reagiert umgehend mit Kritik

In einer Stellungnahme vom 14.12.21 reagiert Tönnies auf die Veröffentlichung der Reportage von „Sat1-Investigativ“. Dort beruft sich das Unternehmen auf einen laufenden Transformationsprozess, der bereits heute zu Verbesserungen führe.

Der Fleischfabrikant wehrt sich so gegen die Darstellung seitens Sat1 und lässt bezüglich der eigenen Weiterentwicklung verlauten:
„Dabei lassen wir uns auch nicht von reißerischen und tendenziösen Berichterstattungen aus der Bahn werfen.“

Die Dokumentation „Inside Tönnies“ ist jetzt in der Sat1-Mediathek zu sehen.

„Preis der Herzlosigkeit“ 2021 geht an die Firma Tönnies

Nicht nur aufgrund der Reportage gerät Tönnies aktuell wieder in die Schlagzeilen. Das Fleischimperium erhielt dieser Tage einen Preis, über den sich Tönnies nicht freuen dürfte: den „Preis der Herzlosigkeit“.

Jedes Jahr vergibt das Deutsche Tierschutzbüro diesen Negativ-Preis. Mit diesem Preis sollen Firmen oder Personen „ausgezeichnet“ werden, die von Tierquälerei profitieren, diese nicht abstellen oder direkt bzw. indirekt Tiere misshandeln oder ausbeuten. Dieses Jahr geht der „Preis der Herzlosigkeit“ an die Firma Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Das Deutsche Tierschutzbüro begründet seine Entscheidung damit, dass kaum ein anderes Unternehmen so sehr von der Massentierhaltung profitiere, wie der Schlachtgigant.

Knapp 20 Millionen Schweine tötet das Unternehmen pro Jahr. Alleine der Schlachthof am Hauptsitz der Firma in Rheda-Wiedenbrück hat eine Schlachtzulassung von bis zu 30.000 Tieren pro Tag. Dabei betreibt Tönnies selbst keine Mastanlagen, sondern arbeitet nach eigenen Angaben mit über 10.000 landwirtschaftlichen Betrieben zusammen. „Die bei Tönnies geschlachteten Schweine stammen überwiegend aus der Massentierhaltung, wo sie auf Spaltenböden gehalten werden und keinerlei Auslauf haben“, sagt Jan Peifer, Vorstandsvorsitzender vom Deutschen Tierschutzbüro.

Bei Fleisch gilt: Weniger ist mehr

Über katastrophale Bedingungen in Viehbetrieben und Schlachthöfen wird immer wieder berichtet (auch bei Tönnies) – meist geht es dabei um Tierquälerei. Die vielen Corona-Infektionen in Schlachtbetrieben sowie aktuelle Berichte bringen ans Licht, wie auch Menschen in solchen Anlagen ausgebeutet werden. Damit die Supermärkte Hackfleisch für ein paar Cent anbieten können, werden menschenunwürdige und gesundheitsschädliche Zustände für die Beschäftigten in Kauf genommen. Ein Grund mehr, auf Fleisch zu verzichten, oder den Fleischkonsum zumindest zu reduzieren.

Wenn es Fleisch sein soll, dann lieber in Bio-Qualität, idealerweise von den Bio-Anbauverbänden Demeter, Naturland oder Bioland. Und generell gilt bei Fleisch: Weniger ist mehr.

(Mit Material der dpa)

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