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„Echte Flüchtlinge“? Wie die Aufnahmebereitschaft durch Vergleiche zu 2015 einen üblen Beigeschmack erhält

Foto: CC0 Public Domain / Unsplash - Edoardo Ceriani

Seit Tagen flüchten Menschen aus der Ukraine und werden von den Nachbarländern aufgenommen – und auch von Deutschland. Es ist richtig und wichtig, dass wir Geflüchtete aufnehmen. Aber wieso stimmen dem dieses Mal scheinbar mehr Menschen zu als 2015?

Diese Tage wecken Erinnerungen an das Jahr 2015. Noch viele Menschen in Deutschland können sich an die Zeit und die damaligen Debatten erinnern. Viele Menschen suchten damals in Deutschland Schutz. Nun bereitet sich das Land wieder auf Zuflucht suchende Menschen vor – aus der Ukraine, weil das Land bombardiert wird. Aber leider finden in manchen Berichterstattungen, Talkshows und sozialen Plattformen Debatten statt, wer die Menschen aus der Ukraine sind und wie sie sich positiv unterscheiden von Menschen aus beispielsweise Syrien.

Debatte auf Twitter: Sind Frauen willkommener als Männer?

Bei Twitter schreiben Menschen über ihren Unmut, befürchten Deutschland würde „wieder die Tore für Kriminelle und Terroristen“ öffnen. Es zeigt sich aber auch eine große Bereitschaft zur Aufnahme von Geflüchteten. Größer als 2015? Wenn ja, liegt das daran, dass die flüchtenden Ukrainer:innen anders wahrgenommen werden als die Menschen aus Syrien? So wird darüber diskutiert, dass aus der Ukraine hauptsächlich Frauen und Kinder kommen, während Geflüchtete aus Syrien hauptsächlich Männer seien – Männer, vor denen sich manche Menschen fürchten.

Ein Twitter-User fasste die Debatte zusammen und zeigte, dass er sich durch diese Aussagen fremd in Deutschland fühlt. „Dieses ganze „die Flüchtlinge sind sauberer als die Geflüchteten von 2015“, „endlich hat Scholz die 100 Milliarden fürs Militär freigegeben“, „das erste Mal Krieg in Europa seit WW II“ der restliche eurozentrizismus – ich habe mich selten fremder in diesem Land gefühlt als Zzt.“

Fotojournalist und Politiker Erik Marquardt twitterte: „Wir sollten übrigens nicht für die Aufnahme von Geflüchteten sein, „weil das ja ganz andere Flüchtlinge sind“, oder „jetzt ja keine jungen Männer kommen“. Wir sollten dafür sein, weil wir eine Empathie für die Opfer des Krieges haben, die man vorher zurecht vermisst hat. #Ukraine“

„Echte Flüchtlinge“?

Ebenfalls zu lesen ist die Aussage „echte Flüchtlinge“. Auch das führt zu Debatten. Eine Twitter-Userin schrieb: „Habs für euch korrigiert @NZZ“. Auf dem dazu geposteten Foto ist die Zwischenüberschrift eines Artikels der Neuen Züricher Zeitung abgebildet: „Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge“. Jedoch strich die Twitter-Userin das Wort „echte“ mit roter Farbe durch und schrieb „weisse“ darüber.

Ein anderer Twitter-User äußerte sich entsetzt darüber, dass sich die Frage nach echten und falschen Flüchtlinge stelle und ob Krieg nicht überall eine Katastrophe sei.

Fatale Aussagen in den Medien

Doch nicht nur bei Twitter werden solche Aussagen verbreitet. Der Guardian veröffentlichte am Mittwoch einen Artikel zu dem Thema. Demnach hätte ein Korrespondent von CBS News in einem Interview gesagt: „Dies ist eine relativ zivilisierte, relativ europäische – ich muss diese Worte auch sorgfältig wählen – eine Stadt, in der man das nicht erwarten oder hoffen würde, dass es passieren wird“ (Übersetzung). Dafür wurde er angegriffen – sagte er damit aus, dass Ukrainer:innen zivilisierter sind und damit unsere Sympathie mehr verdienen als Iraker:innen und Afghan:innen?

Im französischen Fernsehen sagte ein Journalist: „Wir reden davon, dass Europäer:innen in Autos fahren, die wie unsere aussehen, um ihr Leben zu retten.“ Der Guardian beschreibt das als abgedroschene Beobachtung, die „ernsthaft als Grund angeführt wird, warum wir uns um die Ukrainer:innen kümmern sollten“.

Ein Journalist aus Polen berichtete, dass jetzt das Undenkbare passiert sei und die Ukraine kein Entwicklungsland der Dritten Welt sei, sondern Europa. Der Guardian widerspricht: „Als ob Krieg immer und für immer eine gewöhnliche Routine wäre, die auf Entwicklungsländer der Dritten Welt beschränkt wäre“. Mal ganz davon abgesehen, dass der Begriff „Entwicklungsland“ problematisch ist und für die Menschen aus diesen Ländern verletzend wirken kann, weil der Begriff als Rückständigkeit, unterentwickelt oder nicht entwickelt interpretiert werden kann. Der Begriff zieht eine Abgrenzung zu „den anderen“, die die wünschenswerte Norm darstellen.

Utopia meint: Die Debatten sind zum Schaudern. Es geht um Menschen, die aus ihrem Zuhause flüchten, die ihre gewohnten Straßen, Häuser und vielleicht auch geliebte Menschen zurücklassen. Es zeugt von Menschlichkeit, anderen in Not zu helfen und dabei keine Unterscheidung im Geschlecht, der Hautfarbe, der Religion oder des Autobesitzes zu machen.

Wir können keine sieben Jahre in die Vergangenheit reisen und unser damaliges Verhalten ändern. Aber wir können mit der Wahl unserer Aussagen, die wir jetzt treffen, Menschen verletzen, die 2015 (oder auch zu einem anderen Zeitpunkt) zu uns gekommen sind, indem wir von den Geflüchteten aus der Ukraine von „echt“ oder „zivilisiert“ sprechen. Das sollten wir unbedingt vermeiden.

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