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Psychologe erklärt, warum nicht für jeden Menschen eine Therapie sinnvoll ist

Warum nicht für jeden Menschen eine Therapie sinnvoll ist
Foto: CC0 Public Domain / unsplash - Priscilla Du Preez

Würden Menschen und Gesellschaft profitieren, wenn sich alle zumindest eine Zeit lang einer Psychotherapie unterziehen? Der Gedanke klingt einleuchtend, der Psychologe Umut Özdemir ist jedoch anderer Meinung. Außerdem warnt er vor Selbstdiagnosen.

Eine Psychotherapie sei nicht für jede:n gleichermaßen sinnvoll, erklärt der Psychologe Umut Özdemir im Interview mit der Zeit. Özdemir ist Psychologe, Psychotherapeut, Paar- und Sexualtherapeut sowie Autor.  

Wann eine Psychotherapie sinnvoll ist

Nicht bei jeder Person, die in seine Praxis komme, könne Özdemir eine Diagnose stellen. Eine Psychotherapie sei somit nicht immer indiziert. „Eine Psychotherapie ist nun mal eine medizinische Behandlung, die dann erfolgt, wenn Menschen eine diagnostizierte psychische Störung haben“.

Dabei nehmen nicht alle Menschen mit einer psychischen Störung eine Therapie in Anspruch. Eine Therapie erfolge zumeist dann, wenn die Erkrankung den Alltag einschränke. Einige Menschen mit Zwangsstörungen zum Beispiel hätten sich auch ohne Therapie in ihrem Alltag arrangiert. Es sei möglich „mit Diagnosen zu leben“. Özdemir räumt jedoch auch ein, dass dies „vielleicht qualitativ gesehen nicht das beste Leben“ sei.

Wie sinnvoll eine Psychotherapie ist, hängt dem Psychologen zufolge auch davon ab, ob die betreffende Person etwas an ihrer Situation ändern wolle. Als Beispiel nennt Özdemir eine Nikotinabhängigkeit. Da es sich um eine Sucht handelt, liege eine psychologische Diagnose vor. Doch dem Psychologen zufolge hegen einige Raucher:innen gar nicht den Wunsch, mit dem Rauchen aufzuhören.

Auf die Frage, ob nicht alle Menschen von einer Therapie profitieren würden, antwortet Özdemir mit einem klaren Nein. Um die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, sich um sich selbst zu kümmern und die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen bedürfe es nicht immer einer Psychotherapie. Wenn keine Diagnose vorliege „sollte nicht die Solidargemeinschaft in Form von psychotherapeutischen Kassensitzen zahlen“, so die persönliche Überzeugung des Psychologen.

Bei psychischen Leiden eine therapeutische Sprechstunde aufsuchen

Es gebe jedoch auch viele Menschen, bei denen eine Psychotherapie sinnvoll sei, die diese jedoch nicht in Anspruch nehmen. Grund sind Özdemir zufolge sowohl fehlende Kassensitze als auch die Tatsache, dass viele Menschen ihre Leiden herunterspielen.

Im Zweifelsfall sollte man nicht davor zurückschrecken, eine Sprechstunde zu vereinbaren. Denn ob jemand eine psychische Störung hat und eine Therapie braucht, müsse Özdemir zufolge „niemand für sich selbst entscheiden.“ Das sei die Arbeit von Psycholog:innen oder Therapeut:innen. In einer ersten psychotherapeutischen Sprechstunde, entscheide sich, ob eine Psychotherapie ratsam sei, so der Psychologe.

Er rät deswegen allen Menschen mit Leidensdruck in eine Sprechstunde zu gehen. Konkreter: „Wenn man viel traurig ist, sich zu nichts aufraffen kann und sich auch nicht mehr mit Freundinnen treffen kann, weil man keine Energie dafür hat, dann sollte man sich Hilfe suchen.“

Warnung vor Selbstdiagnosen

Gleichzeitig warnt Özdemir vor Selbstdiagnosen – die hält er für problematisch. Als Beispiel nennt er eine Person mit Liebeskummer. Dieser Zustand erfülle ähnliche Kriterien wie bei einer Depression. Dazu gehöre beispielsweise Weinen, aber auch Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, so Özdemir. Dennoch sei es ihm zufolge in den meisten Fällen wahrscheinlich keine Depression. 

Denn: Psychische Diagnosen seien, wie so oft in der Psychologie, „ein Kontinuum“, erklärt Özdemir. „Man kann zwischen null und hundert Prozent der diagnostischen Kriterien erfüllen. Selbst wenn wir manche Symptome einer Diagnose haben, heißt das nicht, dass eine psychische Störung vorliegt.“

Selbstdiagnosen bergen die Gefahr, so der Psychologe, sich zu intensiv mit der vermeintlichen Diagnose zu identifizieren. Die vermeintliche Krankheit könne sogar als Teil der Persönlichkeit wahrgenommen werden – und beides ohne dass die Person wirklich krank ist. Daher betont Özdemir, dass Diagnosen ausschließlich von Therapeut:innen gestellt werden sollten.

Wenn du psychischen Leidensdruck verspürst, dann nutze entsprechende Hilfsangebote oder wende dich an eine:n Therapeut:in. Das gilt auch, wenn du unsicher bist, ob bei dir eine psychologische Störung vorliegt. Wenn du akut depressive oder Suizid-Gedanken hast, wende dich an die Telefonseelsorge online oder unter Tel. 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222 oder 116123. Auch die Deutsche Depressionshilfe unter Tel. 0800 / 33 44 533 hilft. In Notfällen kontaktiere bitte die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter Tel. 112.

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