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Wie Tierärzt:innen helfen, familiäre Gewalt aufzudecken

Wird ein misshandeltes Haustier in eine Praxis eingeliefert, hätten Ärzt:innen die Chance, auch den Besitzer:innen zu helfen.
Foto: Unsplash / Nadine Shaabana

Wird ein misshandeltes Haustier in eine Praxis eingeliefert, hätten Ärzt:innen die Chance, auch den Besitzer:innen zu helfen. Denn die Verletzungen können Hinweise auf familiäre Gewalt liefern. Doch nur die wenigsten Tierärzt:innen sind sensibilisiert.

Trigger-Warnung: In diesem Artikel geht es um Gewalterfahrungen. Es ist wichtig, über das Thema familiäre Gewalt zu berichten, überlege dir aber, ob du den Inhalt des Artikels lesen möchtest.

Wer Tiere misshandelt, vergeht sich oftmals auch an Menschen. Zu dieser Erkenntnis kam Anfang der 1980er Jahre der britische Sozialarbeiter James Stuart Hutton. Seine Analyse ergab: 83 Prozent der Familien, in denen Tierquälerei aktenkundig wurde, waren schon den Sozialbehörden bekannt.

Rund 80 Prozent der von familiärer Gewalt betroffenen Frauen geben an, sie wären bei ihren gewalttätigen Partner:innen geblieben, sollten Hund oder Katze keinen sicheren Unterschlupf finden. Das berichtet der Spiegel mit Verweis aus Umfragen in US-amerikanischen Frauenhäusern.

Aus diesem Grund können Tierarztpraxen laut Melina Merck, Veterinärforensikerin im texanischen Austin, „der erste Ort sein, an dem die Gewalt in einer Familie auffällt“, wie sie dem Spiegel sagt. Merck gibt als Expertin Einschätzungen für Strafprozesse und leitet Fortbildungen zum Thema „Haustiere und häusliche Gewalt – ist Ihr Team vorbereitet?“.

Die Kinder willigten ein, „wenn er nur den Hund in Ruhe lasse“

„Es ist schwer zu akzeptieren, dass Menschen Tieren und Kindern mit Absicht Leid zufügen“, wird die Wissenschaftlerin zitiert. Es sei für Ärzt:innen daher „schwer, sich einzumischen“. Aber es sei wichtig, mehr und mehr Praxen für dieses Thema zu sensibilisieren, sagt Mercks Fachkollegin Elizabeth Ormerod laut Bericht.

Immer wieder beobachten Expert:innen einen Zusammenhang zwischen familiärer Gewalt und Misshandlungen an Tieren. So etwas Brinda Jegatheesan, Psychologin an der University of Washington in Seattle. Sie untersucht die Beziehung zwischen Kindern und Tieren.

Dem Spiegel schildert Jegatheesan das Schicksal eines Hundes namens Bamboo. Dessen Halter, ein Vater von zwei Töchtern, soll das Tier angeschrien und geschlagen haben – damit die Kinder „alles tun würden, was der Vater von ihnen erwartet“, so die Psychologin. Die Kinder willigten ein, „wenn er nur den Hund in Ruhe lasse“.  Auch die Töchter, die aus Angst um ihr Haustier niemandem etwas sagten, soll der Mann misshandelt haben.

Systematische Aufklärung besonders wichtig

Ein anderer Fall handelt von einer Patientin, zu der Ormerod gerufen wurde. Der englischen Tierärztin, die wegen einer verletzten Hündin einen Hausbesuch abstattete, fielen sofort die Blessuren der Besitzerin auf. Der Mann der Frau gab sich „distanziert und gelassen“, während die Hundebesitzern in einem schlechten Zustand gewesen sei. „Da ging mir ein Licht auf“, schilderte Ormerod dem Spiegel.

Als der Mann kurz den Raum verließ, drückte die Tierärztin der Frau eine Visitenkarte mit ihrer Privatnummer in die Hand. „Rufen Sie mich an“, soll Ormerod gesagt haben. Mit Erfolg: Der Hundehalterin gelang so die Vermittlung in ein Frauenhaus.

Wie wichtig eine systematische Aufklärung und Vernetzung zu familiärer, beziehungsweise partnerschaftlicher Gewalt zwischen den Berufsgruppen ist, haben Organisationen wie die National Link Coalition in den USA und die Links Group im Vereinigten Königreich erkannt. Letztere bietet inzwischen auch Schulungen für Friseur:innen an, um ihren Kund:innen gegebenenfalls zu helfen.

„Die Bestürzung ist immer groß“

Auch in Deutschland muss die interdisziplinäre Zusammenarbeit an Bedeutung gewinnen, findet Thomas Steidl, Präsident der baden-württembergischen Landestierärztekammer. 2020 wurden in Deutschland laut Bundeskriminalamt (BKA) rund 150.000 Fälle partnerschaftlicher Gewalt erfasst. 80 Prozent davon betreffen in der BKA-Statistik als Frauen gelistete Personen.

Die Dunkelziffer liegt Einschätzungen zufolge aber deutlich höher, da viele Opfer die Taten gar nicht erst melden – etwa aus Scham oder Angst, dass sich ihre Situation noch verschlechtert.

Auch laut Steidl kann Gewalt gegen Tiere ein Indiz für Gewalt gegen Menschen sein. Er hält Vorträge auf Konferenzen von veterinär- und humanmedizinischen Gesellschaften oder vor Psychotherapeut:innen. Dem Spiegel sagt er: „Die Bestürzung ist immer groß.“ Dennoch würden Tierärzt:innen in ihrer Ausbildung bislang nicht darin geschult, zu erkennen, in welchen Fällen nicht nur die Haustiere in Lebensgefahr sind.

Solltest du Hilfe benötigen – oder jemanden kennen, der Hilfe braucht – kannst du dich unter 08000 116 016 an das Hilfetelefon der Bundesregierung wenden. Weitere Infos findest du hier: hilfetelefon.de.

Bitte lies unseren Hinweis zu Gesundheitsthemen.

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