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„Emotionale Vergewaltigung“: Ricardo Lange kritisiert Umgang mit Pflegekräften

„Emotionale Vergewaltigung“: Ricardo Lange kritisiert Umgang mit Pflegekräften
Foto: Thorsten Wulff

Überfüllte Kinderkliniken, überforderte Pflegekräfte und keine Besserung in Sicht. Im Interview mit Utopia berichtet Intensivpfleger Ricardo Lange vom zermürbenden Krankenhausalltag und fordert ein Umdenken.

Ricardo Lange ist Deutschlands bekannteste Pflegekraft. Seit zwölf Jahren arbeitet er auf der Intensivstation. Als er 2020 auf Facebook über die Zustände im Gesundheitswesen wetterte, ging sein Post viral. Es folgten Einladungen in die Bundespressekonferenz, zahlreiche Talkshows und mit seinem Buch „Intensiv: Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist“ landete er Anfang 2022 einen Spiegel-Bestseller. Auch in den Sozialen Medien setzt er sich weiterhin unermüdlich für eine Behebung des Pflegenotstands ein.

Im Interview mit Utopia gibt Ricardo Lange einen Einblick in die derzeitige Notlage. Er berichtet davon, wie Menschen sterben, weil sich zu wenige Pfleger:innen um zu viele Patient:innen kümmern müssen. Er erklärt, warum die Behandlung seines Berufsstands für ihn einer emotionalen Vergewaltigung der Pflegekräfte gleicht. Und er verrät, was jetzt geschehen muss, damit das Gesundheitssystem in Deutschland nicht zusammenbricht.

Intensivpfleger Ricardo Lange im Interview mit Utopia

Utopia: Anfang 2020, als die Corona-Pandemie begann, war die Krankenpflege sehr im Fokus. Menschen standen auf ihren Balkonen und klatschten aus Solidarität zu den Pflegekräften. Was hat diese Geste letztendlich bewirkt?

Ricardo Lange: Wir leben in einer Zeit, in der gewisse mediale Trends auftauchen. Mal ist es der Pflegenotstand, mal die Klimakrise, mal der Krieg. Aber die Aufmerksamkeitsspanne ist kurz. Damals hat man Karikaturen gezeichnet mit Pflegekräften als Helden, heute schreiben mir Leute, ich solle mein Maul halten, ich hätte mir den Job schließlich selbst ausgesucht. Von dem anfänglichen Klatschen ist nicht viel übrig geblieben…

Utopia: Das ist überraschend, dass ausgerechnet eine Pflegekraft so angefeindet wird. Reagieren viele Leute negativ auf Ihren Beruf?

Ricardo Lange: Nicht alle, aber vielen Menschen ist es einfach scheißegal. Hauptsache der Laden läuft und es gibt viele, die sagen „Hört auf rumzujammern!“ oder „Kündigt doch!“. Das Problem ist nur, dass viele genau das machen. Sie verlassen den Beruf oder wechseln weg von der Intensivstation in einen etwas ruhigeren Bereich.

Wenn die Reanimation Stunden zu spät kommt

Utopia: Nun liest und hört man viel über den Pflegenotstand. Doch die wenigsten bekommen ihn im Alltag zu spüren. Wie oft passiert es, dass jemand ernsthaft zu Schaden kommt oder gar stirbt, weil nicht genug Pflegekräfte da sind?

Ricardo Lange: Häufig. Ich hatte zum Beispiel mal den Fall, da war ich auf einer Intensivstation und es wurde zu einer Reanimation gerufen.

Die hilfesuchende Station, eine Kardiologie, war total unterbesetzt. Da war ein Pfleger alleine für 30 Patienten zuständig. Der rannte hin und her, musste Medikamente zustellen, die Patienten lagern, ihnen auf die Toilette helfen. Um es kurz zu machen: Er war sehr beschäftigt. Der Arzt ist dann zur Reanimation gerannt und war nach ein, zwei Minuten wieder da. Da hat er mir erklärt, dass der Patient schon Leichenstarre hatte.

Utopia: Was ist passiert?

Ricardo Lange: Das EKG-Kabel ist vom Körper abgegangen. Das passiert manchmal, wenn der Patient sich dreht. Dann gibt es ein Piepen, das signalisiert, dass ein Kabel ab ist. Der Pfleger war aber nicht am Monitor, sondern musste von Zimmer zu Zimmer laufen und dort seine Arbeit machen. Er hat es dann erst zwei, drei Stunden später geschafft, dorthin zu kommen. Währenddessen hatte der Patient aber einen Herzinfarkt, der nicht erkannt und übermittelt werden konnte, weil das EKG-Kabel nicht mehr an ihm befestigt war.

Ricardo Lange
Monitore wie diese zeigen die Vitalzeichen einer Patientin oder eines Patienten. Wenn ein Kabel nicht richtig sitzt, kann es ernste Komplikationen geben. (Foto: CC0 / Pexels - Anna Shvets)

Wäre genug Personal da gewesen, hätte man den Herzinfarkt früh erkennen können, und man hätte zumindest noch eine Chance gehabt, diesem Patienten zu helfen.

„Wie eine emotionale Vergewaltigung“

Utopia: Wie fühlt es sich an, unter diesen Bedingungen zu arbeiten?

Ricardo Lange: Das macht einen fertig. Man wird dort hineingetrieben durch den Personalmangel, der immer wieder ignoriert wird. Also geht man zur Arbeit mit dem Wissen, dass man nicht alles für die Patienten tun kann und Menschen deshalb zu Schaden kommen. Es deprimiert.

Pflegekräfte sind emotional erpressbar. Sie streiken sehr wenig, weil sie die Patienten nicht allein lassen wollen. Man weiß, dass sie den Laden am Laufen halten und nutzt diese Situation aus. Deswegen ist es für mich wie eine emotionale Vergewaltigung. Harte Worte, aber sie beschreiben am besten, wie man sich fühlt.

Utopia: Was könnte getan werden, um die Situation zu verbessern?

Ricardo Lange: Man muss die Arbeitsbedingungen ändern. Es muss eine bessere Work-Life-Balance geben. Es muss möglich sein, mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen, dass man nicht ständig einspringen muss, dass man Zeit zur Erholung hat. Eine ausgebrannte Pflegekraft, die kurz vor dem Burnout steht, bringt dem Patienten nicht viel. Sie verliert ihre Konzentrationsfähigkeit und ihre Empathie.

Ricardo Lange Pflegenotstand
Jobs in der Krankenpflege müssen wieder attraktiver werden, meint Ricardo Lange. Ansonsten werde sich die Lage in den Krankenhäusern noch verschärfen. (Foto: Thorsten Wulff)

Ich würde es außerdem gut finden, wenn jemand, der im Schichtdienst arbeitet, mit 60 in Rente gehen könnte, weil eine gesunde Lebensart bei dieser Arbeitsweise nicht immer möglich ist und einem Lebensjahre dadurch einfach flöten gehen. Durch solche Maßnahmen kann man den Beruf wieder so attraktiv machen, dass Leute sagen: Cool, Pflege ist ein geiler Job. Da würde ich gerne wieder arbeiten.

Dauerstress auf der Kinderintensivstation

Utopia: Aktuell ist auch die Lage an den Kinderkliniken sehr angespannt. Sie mussten selbst mal in einer Kinderintensivstation aushelfen und haben in den Sozialen Medien gepostet, dass sie das nie wieder tun würden. Warum?

Ricardo Lange: Ich war völlig überfordert mit diesen kleinen Wesen. Allein die Medikamentengabe bei den Säuglingen ist etwas ganz anderes als bei Erwachsenen. Dort muss es genau aufs Gewicht ausgerechnet werden. Auch die Vitalzeichen sind unterschiedlich. Zum Beispiel wenn bei einem Erwachsenen die Herzfrequenz über 140 steigt, dann läuten bei mir sofort die Alarmglocken. Ein Baby liegt aber mal mit 190 Herzfrequenz im Bett und das ist normal. Wenn man da als Erwachsenenpfleger hinkommt und gelernt hat, dass dieser Wert kritisch ist, dann ist man im Dauerstress.

Außerdem: Wenn eine Notfallsituation bei mir auf der Erwachsenenintensivstation eintritt, dann weiß ich genau, wie ich die Reanimation einleite, welche Medikamente ich verwenden muss und wie der Defibrillator funktioniert. Passiert mir das auf der Kinderstation, bin ich völlig hilflos. Das ist fahrlässig und deswegen habe ich mir geschworen, nie wieder die Verantwortung für Bereiche zu übernehmen, in denen ich nicht geschult und ausgebildet bin.

Was nun getan werden muss

Utopia: Wenn man nun die Arbeitsbedingungen verbessert, dann dauert es mindestens drei Jahre, bis neue Pflegekräfte ausgebildet werden. Haben Sie Ideen, wie man diese akute Krisensituation in der Zwischenzeit in den Griff bekommen könnte?

Ricardo Lange: Wir haben zum Beispiel viele Pflegekräfte, die den Beruf bereits verlassen haben. Man müsste durch Wiedereinstiegsprämien, durch Verhandlungen mit Dienstplänen und so weiter Anreize schaffen, damit diese Pflegekräfte zurückkommen. Außerdem müsste man aufhören, die Pflegekräfte zu verscheißern. Es gibt diesen Corona-Bonus, den haben so viel andere Berufsgruppen bekommen, aber ich zum Beispiel, wie viele andere meiner Kollegen auch, der die ganze Zeit in Covid-Stationen eingesetzt wurde, habe bis heute keinen Cent gesehen.

Utopia: Was würde denn passieren, wenn alles so bleibt, wie es ist?

Ricardo Lange: Dann würden weiterhin Pflegekräfte kündigen. Andere würden akut intensive Bereiche verlassen und in ruhigere Bereiche wechseln. Und die ganze Generation Baby-Boomer, die kurz vor der Rente stehenden Pfleger und Schwestern, würden in Rente gehen. Diese Lücke ist nicht leicht zu besetzen und dann würden wir in Zukunft häufiger Situationen haben, wo die Politik uns erklärt, wir dürfen das Gesundheitssystem nicht überlasten, weil kein Personal mehr da ist.

Zum Beispiel wie jetzt mit diesem RS-Virus oder bei irgendwelchen anderen Szenarien, wenn viele Patienten auf einmal in die Klinik kommen. Wir haben immer weniger Möglichkeiten, diese Menschen adäquat zu betreuen, weil man die Personalflucht nicht stoppt.

Ricardo Lange Pflegenotstand
Aktuell sorgt der RS-Virus in Kinderkliniken für volle Krankenbetten. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Dabei hätten wir viele super ausgebildete Pflegekräfte. Doch was machen die? Die gehen in die Schweiz, nach Norwegen, nach Schweden. Die werden hier in Deutschland für teures Geld ausgebildet, werden hier nicht ernstgenommen und dann sagen die ganz klar: Macht euren Scheiß alleine. Das ist doch schade. Auf der einen Seite hauen die ganzen guten Pflegekräfte ab, auf der anderen Seite machen wir uns einen Kopf, wie wir neue Pflegekräfte aus dem Ausland rankriegen. Das ist doch absurd.

Wir müssen die halten, die noch da sind. Solange uns das nicht gelingt, sind alle Bemühungen, neue Pflegekräfte anzuwerben, bedeutungslos.

„Es geht nicht um Wertschätzung, es geht um Menschenleben“

Utopia: Also sind die Hauptursachen zu schlechte Arbeitsbedingungen und zu geringe Wertschätzung?

Ricardo Lange: Ich finde das Wort Wertschätzung mittlerweile ganz furchtbar. Es geht nicht um Wertschätzung, es geht um Menschenleben. Klar ist Wertschätzung ein Punkt, aber was man nicht vergessen darf, wenn man sich die letzten Streiks von Pflegekräften anguckt: Die sind nicht für mehr Geld auf die Straße gegangen, sondern für einen besseren Personalschlüssel. Für mehr Entlastung, damit mehr Personal in der Schicht ist und dass die Patienten wieder besser und sicherer versorgt werden können.

Alle anderen Berufsgruppen – und das ist auch völlig legitim – gehen für mehr Geld auf die Straße und die Menschen im Gesundheitswesen gehen für Menschenleben auf die Straße. Es geht nicht darum, dass der Pflegekraft über den Kopf gestreichelt wird und sie gesagt kriegt: „Du machst nen tollen Job!“ Sondern es geht darum, dass Menschen nicht mehr gefährdet werden.

Utopia: Was kann denn jede:r Einzel:ne tun, um diese Situation zu verbessern?

Ricardo Lange: Zum Beispiel nicht mehr wegen Kleinigkeiten in die Rettungsstelle fahren. Jeder, der wirklich einen Notfall erahnt, soll natürlich kommen. Aber Sie glauben nicht, wie viele Menschen in die Rettungsstelle kommen wegen Lappalien. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, weil die Rettungsstellen momentan total überbelastet sind.

Außerdem kann man ganz viel auf Social Media machen, man kann sich die Beiträge von vielen Mitarbeitern aus dem Gesundheitswesen, die sich engagieren, teilen. Man kann an Streiks und Demonstrationen teilnehmen. Man kann seine Stimme laut machen.

Und wenn man dann selbst im Krankenhaus liegt, kann man seinen Unmut zwar der Pflegekraft äußern, aber es würde viel mehr bringen, sich bei der Klinikleitung und der Politik zu beschweren. Die müssten Herr Lauterbach so zuschütten mit Post, dass der nicht mehr weiß, wo hinten und vorne ist. Die Kliniken müssten so viele Beschwerde-Mails und -Briefe erhalten, dass denen der Kopf raucht. Nur so steigt der Druck, dass auch wirklich was passiert und damit würde man uns eine Menge Arbeit abnehmen.

Bitte lies unseren Hinweis zu Gesundheitsthemen.

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