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„Behinderte Menschen müssen herhalten, wenn Autofans nichts ändern wollen“

Raul Krauthausen Interview Utopia
Foto: Anna Spindelndreier

Im Utopia-Interview erklärt Inklusions-Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen, welche Herausforderungen der öffentliche Nahverkehr in Deutschland für Menschen mit Behinderung birgt – und was in der öffentlichen Debatte um autofreie Innenstädte schief läuft.

Raúl Aguayo-Krauthausen ist Aktivist für Inklusion und Menschenrechte, betreibt mehrere Podcasts und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Wegen der Erbkrankheit Osteogenesis imperfecta (umgangssprachlich Glasknochenkrankheit) sitzt er selbst im Rollstuhl. 2003 gründete er die Aktionsgruppe Sozialhelden (seit 2019 Sozialheld*innen), die sich für eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen einsetzt – mit Fokus auf Menschen mit Behinderung.

Auch der Klimaschutz ist dem 42-jährigen ein Anliegen. Im Gespräch mit Utopia erklärt Krauthausen, auf welche Hindernisse Rollstuhlfahrer:innen stoßen, wenn sie den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland nutzen wollen und was der Föderalismus damit zu tun hat. Außerdem kritisiert er, dass behinderte Menschen in der Verkehrspolitik oft als Ausrede herhalten müssen, und mahnt, dass wir heute schon blinde Autofahrer:innen mitdenken sollten.

Raúl Krauthausen über 9-Euro-Ticket: „Behinderte Menschen sind nie mitgedacht worden“

Utopia: Was sind die größten Herausforderungen für Menschen mit körperlicher Behinderung, die den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland nutzen wollen?

Raúl Aguayo-Krauthausen: Ich bin dafür, dass viele Menschen den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Doch wenn viele es tun, dann ziehen behinderte Menschen immer den Kürzeren. Weil dann alles voller Menschen und Fahrräder ist und für den rollstuhlfahrenden Fahrgast kein Platz mehr.

Utopia: Also gehen Maßnahmen wie das 9-Euro-Ticket und das 49-Euro-Ticket, das ab Mai in Deutschland gelten soll, in die falsche Richtung?

Krauthausen: Das spricht nicht gegen das 9- oder das 49-Euro-Ticket. Sondern offensichtlich gibt es zu wenige öffentliche Verkehrsmittel für zu viele Menschen, die ein Bedürfnis haben zu reisen. Und behinderte Menschen werden bei verkehrspolitischen Entscheidungen wie dem 9-Euro-Ticket selten mitgedacht.

Das Problem zieht sich auch durch Themen wie Elektromobilität und Katastrophenschutz. Behinderte Menschen sind nie mitgedacht worden. Doch müssen sie die Folgen am ehesten und am meisten ausbaden.

Utopia: Wie viele der öffentlichen Verkehrsmittel in Deutschland sind nicht barrierefrei?

Krauthausen: Es gibt kaum einen deutschen Zug, außer der S-Bahn und neuen U-Bahnen, in die rollstuhlfahrende Menschen ohne fremde Hilfe einsteigen können. Seien es ICEs, der Regionalexpress, ICs, ECs – man braucht fast immer eine Rampe oder einen Hublift. Wenn der Schaffner eines Regionalexpresses einen zum Beispiel übersieht und die Rampe nicht rausklappt, dann kann man nicht einsteigen und kommt nicht weg.

Das ist ein großes Problem, das auch mit dem Föderalismus zusammenhängt. In Deutschland gibt es 16 Verkehrsminister und -ministerinnen und die Deutsche Bahn. Diese müssten sich alle auf eine Bahnsteighöhe einigen und diese an allen Haltestellen angleichen. Das will niemand bezahlen. Deshalb zeigen alle mit dem Finger auf den anderen.

„Niemand weiß, wie du nach Hause kommst, inklusive der Bahn“

Utopia: Inwiefern könnte man behinderte Menschen in Bezug auf öffentliche Verkehrsmittel noch besser mitdenken?

Krauthausen: Indem es zum Beispiel nicht nur einen Rollstuhlplatz gibt im Regionalexpress, sondern jeder Waggon mindestens einen hat. Am besten als flexiblen Ort, also zum Beispiel mit wegklappbaren Sitzen.

Das Problem beim Regionalexpress ist, dass Fahrräder mit Rollstuhlfahrenden den gleichen Platz teilen müssen. Und wenn es mal einen Schienenersatzverkehr gibt, ist dieser nicht immer barrierefrei. Oft müssen sich Menschen mit Behinderung anhören, dass sie dann eben ICE fahren sollen. Aber behinderte Menschen sind häufig von Armut betroffen. Viele können sich kein ICE-Ticket leisten. Außerdem fährt nicht überall ein ICE hin.

Utopia: Haben Sie auch schon schlechte Erfahrungen gemacht?

Krauthausen: Ich war mal nachts um 23 Uhr am Bahnhof Brand Tropical Islands gestrandet. Es gab Schienenersatzverkehr für den Regionalexpress und der war nicht barrierefrei. Und dann stehst du da, mit lauter Fremden, einige davon Nazis, im Regen, und niemand weiß, wie du nach Hause kommst, inklusive der Bahn.

Utopia: Der öffentliche Nahverkehr bietet für Menschen im Rollstuhl also Probleme, auch in Städten. Sind Menschen mit Behinderung dann besonders auf das Auto angewiesen?

Krauthausen: Das wird oft so dargestellt. Aber wir würden Städte auch autofrei und barrierefrei hinkriegen. Mit barrierefreiem ÖPNV, barrierefreien Radwegen, breiten Fußwegen, wenig Bordsteinkanten, und so weiter. Das Auto ist nicht die einzige Option.

Utopia: Andere argumentieren, dass das Auto gerade für Menschen mit Behinderung sehr wichtig ist, auch aus den Gründen, die Sie bereits angeführt haben.

Krauthausen: Was mich maßlos ärgert an der Autofreie-Städte-ja-nein-aber-die-Behinderten-Debatte, ist, dass die behinderten Menschen immer dann als Argument herhalten müssen, wenn Autofans nichts verändern wollen. Ja, natürlich gibt es behinderte Menschen, die ein Auto benötigen, aber die Ausnahmeregelungen kann man dann ja schaffen. Macht man beim Lieferverkehr ja auch.

„Noch gibt es keine blinden Autofahrer – aber bald“

Utopia: Auch Elektromobilität gilt als Lösung für die Verkehrswende.

Krauthausen: Ja, alle reden von Elektromobilität, meinen aber eigentlich einen Hipster, der Tesla fährt. Barrierefreie Elektrofahrzeuge gibt es kaum. Das wird damit begründet, dass in Elektroautos der Akku im Boden verbaut ist, dadurch ist die Einstiegshöhe höher. Die Rampe müsste also länger sein, das gehe angeblich nicht. Das heißt, auch unter dem Aspekt der Elektromobilität wurden behinderte Menschen eiskalt ignoriert.

Auch Elektroladesäulen werden gerade zu Tausenden in Europa gebaut. Doch auch hier wurden die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung nicht mitbedacht. Rollstuhlfahrer bräuchten niedrigere Stecker, außerdem sollte die Säule möglichst an keiner Bordsteinkante stehen. Auch blinde Menschen sollte man mitdenken. Noch gibt es keine blinden Autofahrer – aber bald. Nämlich dann, wenn das autonome Fahren kommt. Es ärgert mich, dass wir diese Dinge ständig zu spät bedenken. Die Stecker an einer Ladesäule niedriger anzubringen, wäre nicht teurer, das ist nur eine Designentscheidung.

Utopia: Wie kann man es in Zukunft besser machen?

Krauthausen: Nur mit gesetzlichen Verpflichtungen kommt man überhaupt einen Schritt weiter. Und mit Sanktionierungen, wenn diese Verpflichtungen nicht eingehalten werden. Das gilt auch für die Deutsche Bahn. Wenn sie nicht in die Lage ist, Barrierefreiheit herzustellen in ihren Zügen, muss man sie dafür bestrafen. Dann soll sie eben den behinderten Menschen das Taxi bezahlen. Wenn es barrierefreie Taxis gäbe.

Utopia: Von einem ausgebauten, barrierefreien ÖPNV profitieren Menschen mit und ohne Behinderung und das Klima. Gibt es denn weitere Schnittmengen zwischen Nachhaltigkeit und Inklusion?

Krauthausen: Manche müssen in Berlin mit dem Bus in die Europacity fahren, um ins Kino gehen. Nach 23 Uhr ist dort aber tote Hose. Und der Potsdamer Platz ist nur für den Konsum gebaut, aber nicht zum Leben.

Mehr Zentren innerhalb einer Stadt können dazu führen, dass wir weniger Mobilität brauchen. Das wäre nachhaltig und inklusiv. Man könnte zu Fuß oder per Fahrrad die gleichen Erledigungen machen. Dann gäbe es überall Supermärkte, Freizeitmöglichkeiten, Cafés. Und vielleicht würden sich die Menschen verantwortlicher führen für ihren Kiez. Es gäbe also vielleicht weniger Verschmutzung und mehr soziales Engagement.

Utopia: Gibt es sowas heute schon?

Krauthausen: Ich habe während der Coronapandemie zwei Jahre lang Kreuzberg nicht verlassen müssen – und das fand ich wirklich schön. Damals bin ich nicht mit dem Bus gefahren, weil man nicht wusste, wie sicher das ist. Meine Partnerin und ich waren also zwei Jahre nur bei uns in der Gegend unterwegs. Es war alles da, wir brauchten nichts, uns hat nichts gefehlt. Das geht aber nur in Stadtteilen wie Kreuzberg. 

Hinweis: Das Interview wurde im Mai 2023 erstmals veröffentlicht.

Ob zum Einkaufen, zur Arbeit oder in den Urlaub: Ständig bewegen wir uns von A nach B. Wie wir das tun, hat einen direkten Einfluss auf die Umwelt und das Klima. Utopia legt deshalb diese Woche einen Fokus darauf, wie wir „besser unterwegs“ sein können.  Dabei stellen wir uns Fragen wie „Wie kann man nachhaltig(er) verreisen?“, „Wie werden Städte zu Fahrradstädten?“ und „Wie ist es, auf dem Land auf das Auto zu verzichten?“ Alle Beiträge aus der Themenwoche findest du unter dem Tag „Besser unterwegs“.

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