Utopia Image

32-Stunden-Woche für Menschen mit Suchterkrankungen: Deutsche Firma will Vorbild sein

Heyho Bio-Müsli
Foto: Philipp Schulze/dpa

Eine Drogen- oder Knastkarriere führt oft in die Arbeitslosigkeit. Dass es auch anders geht, will ein soziales Unternehmen in Lüneburg beweisen. Die Uni Lüneburg unterstützt das Projekt und sucht Nachahmer.

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels wurde der Begriff „Junkie“ verwendet. „Junkie“ kommt vom englischen Wort „junk“, das „Abfall“ bedeutet. Daher stellt „Junkie“ eine abwertende Bezeichnung von Menschen mit Suchterkrankungen dar, die negative Stereotype reproduziert. Dies war nicht unsere Absicht. Wir haben den problematischen Begriff deshalb durch die neutralen Bezeichnungen „Mensch mit Suchterkrankung“ und „Drogenabhängiger“ ersetzt.

Daniel schleppt die gerösteten „Apfelstroodle“-Mischungen auf großen Blechen durch die kleine Produktionshalle. Sein Gesicht ist gerötet, er schnauft. Der 43-Jährige kommt aus Leipzig und hatte schon in jungen Jahren viel mit Drogen zu tun. In Lüneburg lebte er eine Zeit lang in besetzten Häusern, bevor er vor drei Jahren eine Anstellung beim Müslihersteller Heyho am Rande der Hansestadt fand. 

„Ich habe hier den kalten Entzug gemacht, das war heftig“, erzählt er. 20, 30 Jahre sei er nur betäubt gewesen. „Jetzt bin ich clean und habe trotzdem Spaß.“ Der Weg dahin war steinig. 

In der „sozialen Rösterei“ darf man auch mal zu spät kommen

Geschäftsführer Timm Duffner eröffnete mit Daniel das erste Girokonto seines Lebens. „Es war für ihn eine große Herausforderung, pünktlich zu kommen“, erzählt der Gründer der „sozialen Rösterei“, wie sie sich nennt. 

„Das Müsli ist im Grunde nur Mittel zum Zweck“, sagt Duffner.  „Uns ging es darum, wertige Produkte zu erschaffen, die stolz machen, und wir sehen, dass sich unser Team dadurch langfristig mit der Arbeit identifiziert.“ Nach einer Karriere in der Lebensmittelindustrie wollte er etwas Sinnvolles schaffen und verzichtete auf öffentliche Gelder zum Start Ende 2016. „Wir sind inzwischen ein bunter Haufen.“ 

Daniel schafft es nicht immer, pünktlich um 8.30 Uhr seinen Kittel und die Netzhaube überzustreifen. Wenn er zu spät kommt, wird über die Gründe geredet und er kann die Zeit auch einmal dranhängen. „Es ist wahnsinnig, was er für eine Entwicklung hinter sich hat, das ist fantastisch“, betont Duffner.  

Maximal 32 Stunden für ungeübte Arbeitskräfte

32 Stunden arbeitet der Ex-Drogenabhängige wie einige Kolleg:innen – das ist das Maximum, damit sich die teils ungelernten Kräfte bei der körperlich anstrengenden Arbeit nicht überfordern. „Hier kann ich mich öffnen, habe mittlerweile Freunde“, erzählt Daniel, der in der Produktionshalle auch mal seine Musik für alle abspielt. 

Probleme werden offen angesprochen – das gehört zu den Regeln des Mini-Unternehmens mit 26 Mitarbeitern. Gibt es Frust oder Streit könne man die Arbeit unterbrechen und alles bereden, bestätigen die Mitarbeitenden. Alle zwei Wochen steht ein Termin für einen Runden Tisch im Kalender, wo schwierige Themen besprochen werden. 

Mittags um 12.30 Uhr sitzen ohnehin alle um zwei lange Tische herum. Jeweils einer kocht, zusätzlich gibt es Äpfel und Bananen – alles ähnelt der Atmosphäre in einer Wohngemeinschaft. Eine Kollegin redet ohne Punkt und Komma, erzählt aus früheren Jobs – mancher möchte vielleicht einfach in Ruhe seine Nudeln essen. 

„Wir reden nicht übereinander, sondern miteinander“, sagt Duffner, der eine Mitarbeiterin später noch zum Einzelgespräch trifft. „Sich mit unterschiedlichen Menschen zusammenzutun und etwas Gutes zu schaffen, kostet Kraft, ist total anstrengend, aber erfüllend.“ Linda Pulver, die im Sommer in die Geschäftsführung aufrückt, reizen diese herausfordernden Momente: „Es gibt mir Energie und macht Spaß, Stress ist es nicht.“

Eine neue Chance für Ausgegrenzte

30 Prozent der Belegschaft war vorher stigmatisiert, von der Arbeitswelt ausgeschlossen. So wie Romano, der schon im fünften Jahr dabei ist. Dass er nach sieben Jahren im Gefängnis wegen Drogendelikten einen unbefristeten Arbeitsvertrag besitzt, ist für ihn ganz besonders. „Das ist das erste Mal im Leben, dass ich arbeite“, erzählt der 52-Jährige und wischt dabei den Boden müslifrei. Mit 50 Bewerbungen hatte er zuvor keinen Erfolg.

Auseinandersetzungen gebe es im Alltag, weil das Pensum unterschiedlich ist. „Wir sind nicht alle gleich stark. Diejenigen, die ein bisschen fitter sind, geben eben mehr Gas“, sagt Romano. So eine offene Atmosphäre habe er noch nie erlebt, wo das Soziale im Vordergrund stehe. „Ich wäre froh, wenn es Nachahmer gibt, die Leuten wie mir die Chance geben, sich zu beweisen. Wir schaffen was, nur nicht so viel“, betont Romano. 

Universität begleitet die Integration wissenschaftlich

Einer der Mitgründer in Lüneburg hat mit Wohnungslosen gearbeitet und Kontakte hergestellt. Um die Idee der Integration von Menschen mit sogenannten multiplen Vermittlungshemmnissen wie Gefängnisaufenthalten, Sucht- oder seelischen Erkrankungen wissenschaftlich zu begleiten, hat die Leuphana Universität in Lüneburg zudem vier Mitarbeiterstellen geschaffen. Das von der EU geförderte Projekt „Sozial-innovative Transformation durch inklusive Arbeitswelten“ läuft über drei Jahre. Damit sollen andere Firmen unterstützt werden, die ähnliche Wege gehen wollen.

Steffen Farny, einer der Projektleiter, ist davon überzeugt, dass sich die Arbeitswelt angesichts von zunehmendem Fachkräftemangel wandeln müsse. „Viele junge Menschen wollen durch ihre Arbeit einen positiven Beitrag für die Gesellschaft leisten. Dafür sind sie bereit, sich stärker einzubringen“, sagt er. „Es gibt wirklich einige Unternehmen, die versuchen, die Dinge revolutionär anders zu machen und dazu gehört Heyho.“ Der Mensch stehe im Mittelpunkt. 

Weitere Unternehmen bekunden Interesse

Die Uni schrieb 100 Unternehmen an und die Hälfte habe Interesse an einem Mitwirken an dem Projekt gezeigt. „Wir sind überwältigt von der Resonanz“, sagt der Professor. Es gehe um Tätigkeiten im Arbeitsalltag, die sich gut bewältigen lassen. „Sie geben Menschen das Gefühl, einen Beitrag zu leisten.“ Ein Team könne zusammenwachsen und kompensieren – eben nicht nach klassischen Effizienzkriterien. 

Heyho will in diesem Jahr noch weitere Kräfte einstellen. Die Bio-Manufaktur röstet per Hand pro Woche zwei Tonnen Hafer und will expandieren. Im vergangenen Jahr wurde erstmals eine Million Euro umgesetzt. „Wir glauben, dass es die Verantwortung von Unternehmen ist, eine Brücke zu schlagen“, sagt Duffner mit Blick auf ausgegrenzte Menschen einerseits und Arbeitskräftemangel auf der anderen Seite. Stigmatisierte Menschen würden es ohne Arbeit nicht zurück in die Gesellschaft schaffen.   

Die Idee wurde von einer Bäckerei in New York inspiriert, die nicht nach Qualifikationen einstellt, sondern allen Menschen ungeachtet ihrer Lebensläufe eine Chance geben will. Bewerber:innen können sich in eine Liste vor Ort eintragen und damit ihr Interesse zeigen, berichtet Duffner. „Vielleicht gibt es bei Heyho auch irgendwann eine solche Liste im Eingang.“

** mit ** markierte oder orange unterstrichene Links zu Bezugsquellen sind teilweise Partner-Links: Wenn ihr hier kauft, unterstützt ihr aktiv Utopia.de, denn wir erhalten dann einen kleinen Teil vom Verkaufserlös. Mehr Infos.

Gefällt dir dieser Beitrag?

Vielen Dank für deine Stimme!