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„Eine der existenziellsten Fragen“: Was passiert, wenn wir Kipppunkte erreichen?

"Eine der existenziellsten Fragen": Was passiert, wenn wir Kipppunkte erreichen?
Foto: CC0 Public Domain - Pixabay/ AlexAntropov86

Werden sogenannte Kipppunkte erreicht, kann sich unser Klima schnell ändern. Der bekannte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber erklärt in einem Interview, wie wahrscheinlich solchen Szenarien sind und was passiert, wenn wir sie erreichen.

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) definiert Klima-Kippelemente als wichtige, großskalige Bestandteile des Erdsystems. Deren Verhalten ändert sich, wenn gewisse Schwellen (sogenannte Kipppunkte) überschritten werden.

Diese Veränderung kann sprunghaft sein und bereitet Wissenschaftler:innen Sorge. Denn durch die globale Erwärmung könnten diverse Elemente auf der Welt ihre Kipppunkte erreichen und damit die Lebensgrundlage vieler Menschen gefährden. Die schnelle Veränderung könnte zudem weitere Elemente zum Kippen bringen, laut PIK wird eine „dominoartige Kettenreaktion“ befürchtet.

Der deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber hat das PIK gegründet und jahrzehntelang geleitet und das Konzept der Kippelemente in die Klimaforschung geprägt. Aktuell leitet er die österreichische Forschungseinrichtung Internationales Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA).

Gegenüber dem Standard erklärt er, ob die Menschheit Folgen noch stoppen kann, sobald Kipppunkte überschritten werden. „Das ist eine der existenziellen Fragen, die heute die Forschung umtreiben“, so der Wissenschaftler. Er sieht durchaus Hoffnung, allerdings nur bei schnellem Handeln.

Irreversibel? Experte verweist auf „Karenzzeit“ bei Kipppunkten

2010 einigten sich 194 Staaten auf der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC), die globale Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Schellnhuber erläutert den Hauptgrund: Höhere Durchschnittstemperaturen würden zu mehr Kippereignissen führen, als die Menschheit bewältigen könne.

Forschende und Aktivist:innen sind sich derzeit allerdings weitestgehend einig: In puncto Klimaschutz passiere noch zu wenig. „Es ist nun zu befürchten, dass wir auch über die zwei Grad hinausschießen werden“, betont Schellnhuber in dem Interview. „Entscheidend wird aber sein, wie lange und wie steil sich das Überschießen vollzieht.“

Als Beispiel verweist Schellnhuber auf den Grönländischen Eisschild. Auch dieser ist ein Kippelement, dem PIK zufolge kann er bereits bei einer globalen Erwärmung von 1,5 bis 2 Grad kippen. Laut einer Studie von Forschenden der Universität Leeds, die am Dienstag im Fachblatt Scientific Reports veröffentlicht wurde, sind zwischen 1980 und 2010 bereits 1,6 Prozent der Eisfläche Grönlands geschmolzen. Würde der Eisschild komplett schmelzen, würden Meeresspiegel weltweit um bis zu sieben Meter steigen. Auch andere Kippelemente wie die Atlantische Umwälzzirkulation (und damit der Golfstrom) wären laut PIK dadurch gefährdet.

Schellnhuber betont, dass das schnellere Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds vielleicht gestoppt werden könnte, wenn man den Kipppunkt etwa nur für 30 bis 50 Jahre überschreite. Viele Systeme bieten dem Forscher zufolge „eine Art Karenzzeit, bevor der Kippvorgang des Systems irreversibel wird“.

„Befürchtete Rückkopplungseffekte schon eingetreten“

Neben dem Eisschild in Grönland sind zahlreiche weitere Kippelemente gefährdet. Schellnhuber weist etwa auf den Golfstrom hin. Ein Klimamodell von Forscher:innen der niederländischen Universität Utrecht legt nahe, dass die Atlantische Umwälzzirkulation vor einem Kipppunkt stehe. Das Klimamodell erschien Anfang Februar im Fachmagazin Science Advances. Sollte dies eintreten und der Golfstrom zusammenbrechen, prognostiziert der Klimaforscher eine „heftige Abkühlung“ für West- und Mitteleuropa, welche von der globalen Erwärmung jedoch langfristig ausgeglichen werde.

Eine weitere am Mittwoch veröffentlichte Studie sagt voraus, dass das Amazonasgebiet schon 2050 seinen Kipppunkt erreichen könne – wegen Klimawandel und Abholzung. Sie wurde im Fachblatt Nature publiziert. Der Amazonas-Regenwald ist für ein Viertel des weltweiten Kohlenstoff-Austausches zwischen Atmosphäre und Biosphäre verantwortlich. Würde er sich etwa zu einer Graslandschaft wandeln, prognostiziert das PIK „grundlegende Auswirkungen auf das Erdklima“.

Ein Forschungsteam stellte außerdem fest, dass das westantarktische Eisschild innerhalb von 200 Jahren an einer Stelle 450 Meter dünner geworden ist – Utopia berichtete. Die Daten deuten darauf hin, dass die Antarktis sehr schnell an Eis verlieren könnte, sobald sie ihren Kipppunkt überschreitet. Die Eisschilde drohen den globalen Meeresspiegel insgesamt um circa 57 Meter zu erhöhen.

Bedrohliche Rückkopplungseffekte

Schellnhuber warnt außerdem vor Rückkopplungseffekten, etwa durch den Verlust der tropischen Regenwälder, der Permafrostböden und von Methaneis-Vorkommen auf den Kontinentalschelfen. Denn hier würden neben menschlichen Emissionen auch Treibhausgase aus natürlichen Quellen freigesetzt.

Tauvorgänge würden etwa CO2 und Methan emittieren – sobald sich die Prozesse beschleunigen, seien sie kaum zu stoppen. Dem Experten zufolge steigt die Methankonzentration in der Atmosphäre seit Jahren immer wieder an und stammt wahrscheinlich bereits aus natürlichen Quellen. „Das würde bedeuten, dass die Ökosysteme bereits reagieren und die befürchteten Rückkopplungseffekte schon eingetreten sind“, so der Klimaforscher.  

Kipppunkt-Experte: Menschheit muss CO2 aus Atmosphäre entfernen

Schellnhuber betont auch, dass die Menschheit CO2 aus der Atmosphäre entfernen muss, um das Klima zu stabilisieren. „Selbst wenn wir es schaffen sollten, bis spätestens 2045 weitgehend emissionsfrei zu wirtschaften, wird das in der Tat nicht ausreichen“, so der Experte. Allerdings brauche es dazu Maßnahmen, die in der Breite wirksam und nicht teuer sind. Derzeit wird etwa an der Carbon Capture and Storage-Technologie (CSS) geforscht, die diesen Zweck erfüllen soll. Der Klimaforscher kritisiert sie jedoch als nicht klimapositiv, teuer und aufwändig – es brauche dafür erst einmal eine weltweite Infrastruktur. Umweltverbände sehen das ähnlich und warnen immer wieder vor der CSS-Technologie.

Bäume dagegen lobt er als kostenfreie Alternative. „Wenn ich Bäume nicht als Pellets verbrenne, sondern zu Nutzholz verarbeite, dann habe ich sogar einen künstlich verlängerten CO2-Speichereffekt von etlichen Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten“, so Schellnhuber.

Verwendete Quellen: Standard, PIK, Scientific Reports, ScienceAdvances, Nature

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