Das Thema "Grenzen ziehen" und "Nein sagen" liegt im Trend, etwa im Freundeskreis sowie auf Social Media. Menschen wenden sich deswegen an sogenannte Abgrenzungscoach:innen – doch das kann schlimme Folgen haben, warnen geschulte Expert:innen.
Psycholg:innen warnen davor, sich bei psychischen Problemen an Abgrenzungscoach:innen zu wenden, wie die Welt berichtet. Gerade durch den aktuellen Trend des Grenzensetzens sei das ein weitverbreitetes Phänomen.
Unter dem Hashtag #Grenzensetzen oder #Boundaries (Englisch für Abgrenzung) wird derzeit auf Social Media viel gepostet. Die Posts werden millionenfach aufgerufen. In der Debatte geht es sowohl darum, im Privaten als auch auf der Arbeit Nein zu sagen – und den Mitmenschen im Beruf sowie im Privaten die eigenen Grenzen und Bedürfnisse aufzuzeigen.
Grenzen zu erarbeiten sei Aufgabe der Psychotherapie
Das ist wichtig, sagt Michael Deuschle im Gespräch mit der Welt. Er ist leitender Oberarzt und Arbeitsgruppenleiter für stressbezogene Erkrankungen am Zentralinstitut (ZI) für seelische Gesundheit in Mannheim. „Grenzen ermöglichen es uns, unsere Identität zu wahren, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen und uns selbst zu respektieren“, so Deuschle. Entwickle eine Person keine gesunden Grenzen, kann sie Gefahr laufen, sich zu sehr an die Bedürfnisse anderer anzupassen, ergänzt er.
Gerade deswegen ermitteln Psycholg:innen, Psychotherapeut:innen oder Psychiater:innen mit ihren Patient:innen in Therapien, wo deren Grenzen liegen. Und: Wie sie die eigenen Ziele sowie Werte erkennen und gegenüber anderen kommunizieren können. Deshalb sieht Deuschle den aktuellen Trend, Abgrenzungscoach:innen dafür aufzusuchen, kritisch.
Denn: Psychische Erkrankungen sollten von geschulten Expert:innen behandelt werden. Coachings können hier mitunter mehr Schaden anrichten als zu helfen – und zudem noch sehr kostspielig sein, wird gewarnt.
Keine qualifizierte Ausbildung: Coach:in kann jede:r werden
Ein großes Problem besteht darin, dass die Berufsbezeichnung „Coach:in“ nicht geschützt ist. „Coach darf sich jeder nennen, ganz gleich, ob er oder sie eine Qualifikation aufweist oder nicht“, erklärt Nina Arnold, ebenfalls Psychologin am ZI in Mannheim, gegenüber der Welt.
Wer Coach:in werden will, kann – je nach Bundesland – nach einem Selbststudium einen Multiple-Choice-Test machen. Oder eine Coaching-Schule besuchen – ohne „relevane Eingangshürden“, sagt Oberarzt Deuschle. Wie qualifiziert die Coach:innen, die ihre Hilfe gegen Geld anbieten, dann sind, sei fraglich.
Coaching-Angebote, die Hilfe „mit einem möglichst einfachen Drei-Schritte-Plan“ versprechen, hält Arnold für höchst unseriös.
Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen oder Psychiater:innen hingegen schließen ein mindestens sechsjähriges Studium in Medizin oder Psychologie ab, plus eine zusätzliche praktische Ausbildung in ihrem Berufsfeld.
Negative Konsequenzen von Coachings: Tiefe Abwärtsspirale
Welche negativen Konsequenzen Coachings haben können, weiß Martin Keck. Er ist Leiter der Rehaklinik Seewis. Zu ihm kommen Menschen, die durch falsche Beratung in tiefe Krisen stürzten, berichtet die Welt. Er erzählt von einer Frau, Ende 40. Sie war verheiratet, mit Kindern und stets berufstätig.
Als ihre Ehe bröckelte, die Kinder aus dem Haus gingen und die Menopause einsetzte, „die mit ihren Hitzewallungen dazu führte, dass sie sich vor den Kollegen schämte“, so Keck, sei sie in eine Lebenskrise geraten. Freund:innen rieten ihr, sich einen Coach zu suchen.
Sie wand sich an jemanden, der für die Beratung ihrer Lebenssituation faktisch nicht ausgebildet war, so Keck weiter. Durch die vermeintliche Beratungen geriet die Frau in eine tiefe Abwärtsspirale, heißt es.
Ihr Hausarzt und ihre Gynäkologin sahen schließlich keinen anderen Weg mehr, als ihre Patientin ins Krankenhaus einzuweisen. „Wäre sie ein halbes Jahr früher gekommen, wäre ihr das erspart geblieben“, sagt Keck.
Therapie noch oft mit Vorurteilen behaftet
Psychologin Arnold ist überzeugt, dass sich viele Menschen an Coach:innen wenden, da Psychotherapien noch immer einen schlechten Ruf hätten. „Eine Psychotherapie ist nach wie vor mit Vorurteilen behaftet: Man bekommt sein Leben nicht in den Griff, man hat Hilfe nötig. Coaching gilt hingegen als Selbstfürsorge“, so Arnold.
Zudem könnten die Wartezeiten für Therapieplätze von mindestens sechs Monaten abschreckend wirken, und Menschen in die Arme fragwürdiger Berater:innen treiben.
Häufig sind es Frauen, die sich nicht abgrenzen können
Oft seien es Frauen, denen es schwer falle, Nein zu sagen. Wem als Kind eingetrichtert wurde, „immer höflich“ zu sein oder „nicht zur Last zu fallen“, falle es im Erwachsenenalter oft schwer sich abzugrenzen. Frauen, die als Mädchen gelobt wurden, weil sie „gefällg“ und „hilfsbereit“ waren, fiele es heute schwer, auf sich selbst zu achten, erklärt Laura von Gilsa, Psychologin an der Fresenius-Hochschule in Frankfurt am Main.
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