Das Start-up Human Material Loop hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich aus Menschenhaar Garn herstellen lässt. Mit kreislauffähigen, beinahe klimaneutralen Textilien will es die Modebranche zum Umdenken bringen
Die offene Plastiktasche spuckt Staubkörner, als Zsofia Kollar sie auf den Tisch hievt. Aus der Reißverschlussöffnung lugen abgeschnittene braune Haare, hier und da blitzt blonde Kolorierung, manche Strähnen sind lang, manche kurz. Ein Knäuel aus Fußbodendreck und menschlichem Fell, frisch vom Frisiersalon um die Ecke. Neben dem Tisch baumelt ein grobmaschiger Pulli am Bügel. Er fühlt sich rau an, könnte von besonders borstigen, isländischen Schafen stammen. Tatsächlich aber enthält er 800 Gramm blondes Menschenhaar.
Warum nicht Garn aus Menschenhaar spinnen?
Zsofia Kollar ist auf dem Land in Ungarn aufgewachsen. Seit zehn Jahren lebt sie in Amsterdam, hat hier das Start-up Human Material Loop gegründet. Es will eine Lösung sein für gleich zwei Probleme: Nach Berechnungen von Kollar basierend auf Arbeiten der Anthropologin Emma Tarlo, werden in der EU jährlich 65,5 Millionen Kilogramm Haarabfälle aus Frisiersalons verbrannt statt verwertet – ein Haufen so schwer wie sieben Eiffeltürme.
Währenddessen zerstört die Modeindustrie Ökosysteme, etwa durch Abholzung, intensive Landnutzung und Massentierhaltung, Pestizide, Bodenerosion, Wasserverbrauch (in ein Baumwollshirt fließen rund 15 volle Badewannen) und chemische Verschmutzung. Human Material Loop hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich aus Menschenhaar Garn herstellen lässt.
Was manchen sinnvoll erscheint, finden andere eklig. „Wir denken nicht darüber nach, wie es Schafen bei der Schur geht, wie schmutzig und grob das abläuft, ekeln uns aber vor abgeschnittenem Kopfhaar. Gleichzeitig tragen wir Wimpern und Extensions aus Echthaar.“ Kollar will die Wahrnehmung des Materials verändern. Denn Menschenhaar ist eine Keratin-Faser, genau wie Wolle.
Haarfasern haben viele nützliche Eigenschaften
Unsere Haarfasern bestehen hauptsächlich aus natürlichen Polymeren, Keratinproteinen. Je nach Luftfeuchtigkeit liegt der Proteinanteil zwischen 65 bis 95 Prozent, so Forschende um Yang Yu an der kalifornischen Universität in San Diego. Hinzu kommen Wasser, Fette und andere Stoffe. Das macht die Fasern stabil, wärmeisolierend, flexibel, ölabsorbierend und leicht.
Keratinfasern können daher auch eingesetzt werden, um Häuser zu isolieren, Flüsse von Ölteppichen zu befreien, poröse Materialien wie Beton zu verstärken oder um die Holzstäbchen in Duft-Diffusern einzusparen. Weil menschliches Haar beim Zersetzen Stickstoff freigibt, kann es außerdem als natürlicher Dünger verwendet werden, so Kollar. Erst Kleidung, dann Pflanzenfutter.
Ihr fünfköpfiges Team, darunter Textil- und Chemieingenieur:innen, arbeitet bereits mit mehreren Modeunternehmen zusammen und will bis Ende 2022 erste Kollektionen auf den Markt bringen. Menschenhaar soll sich als Alternative etablieren, die globale Textilproduktion klimaneutraler machen. Denn Rohstoffanbau und Viehhaltung werden überflüssig, eine lokale Herstellung ist theoretisch überall möglich, wo es Friseur:innen gibt, heißt: kaum Transportemissionen. Die Produktparameter klingen gut, sofern sich das Verfahren kommerzialisieren lässt.
Haare sind eher für gröbere Textilien geeignet
Noch sind die Produktionsschritte, die anfallen, bevor das Garn gesponnen werden kann, arbeitsintensiv: Haarabfälle haben unterschiedliche Längen, Farben, Strukturen; sie müssen entsprechend vorbereitet und gewaschen werden. Kollars Team hat für diese Schritte einen Prozess entwickelt – wie dieser genau aussieht, ist ein Geschäftsgeheimnis. Am Spinnrad wird aus den Haarfasern anschließend ein Faden, genau wie bei Merino- oder Baumwolle.
So weich wie diese ist das Material aber (noch) nicht. Das liegt am größeren Durchmesser unserer Haarfasern. Geeignet ist es daher wahrscheinlich eher für Textilien, die aus gröberen Stoffen gefertigt werden und nicht die Haut berühren, etwa Vorhänge und Schuhe. Oder aber als Obermaterial von Mänteln und Jacken, in Kombination mit einem weicheren Futter.
Nur, würden sich die haarigen Textilien verkaufen? Am Kopf bedeuten Haare in vielen Kulturen Vitalität, am Boden Dreck. Doch, so Zsofia Kollar: „Menschen überdenken ihre Haltung, sobald sie die öko-sozialen Folgen von Fast Fashion verstehen und meine Produkte sehen, sie anfassen können.“
Traum vom eigenen Spinnrad
Die Haarabfälle aus Amsterdam werden in Italien zu Garn gesponnen, da es in den Niederlanden keine traditionellen Spinnereien mehr gibt. Also ganz ohne Transportemissionen geht es aktuell noch nicht. Kollar hofft jedoch, dass sie bald mit Spinnereien in angrenzenden Ländern zusammenarbeiten kann und träumt von einem eigenen Spinnrad, „irgendwann vielleicht“.
Kollar selbst trägt braunes Haar mit Pony, dunkle Kleidung, silberne Schuhe. An den Wänden ihres kleinen Studios in Amsterdam hängen ein paar Haarfaserknäuel neben Zöpfen aus Extensions. Sie hält den hellen, grobmaschigen Pulli in der Hand, den sie ironisch „Dutch Blonde“ getauft hat. Auf dem Etikett heißt es unter „Material“: Keratinprotein-Faser.
Autorin: Miriam Petzold
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