Alle 58 Minuten nimmt sich ein Mensch das Leben. Alle fünf Minuten findet ein Suizidversuch statt. Doch über Suizid wird, in den meisten Fällen, immer noch viel zu wenig gesprochen. Warum es so wichtig ist, über suizidale Gedanken zu sprechen, wo Betroffene, die Selbsttötungsgedanken haben, Hilfe und Unterstützung finden, darüber haben wir mit der TelefonSeelsorge gesprochen.
Im Jahr 2019 starben 9.041 Menschen durch Suizid. Mehr als 100.000 Menschen haben im selben Jahr einen Suizidversuch unternommen. Zum Vergleich: Ebenso in dem Jahr starben circa 6.900 Menschen durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids.
Auch unter Jugendlichen nehmen die psychischen Erkrankungen laut einer UNICEF Studie zu. Den Ergebnissen nach begehen weltweit rund 46.000 Jugendliche zwischen zehn- bis 19 Jahren Suizid. Laut der Studie lebt jeder siebte Heranwachsende zwischen zehn und 19 Jahren weltweit mit einer diagnostizierten psychischen Störung. Die Verhaltensauffälligkeiten, Angststörungen und Depressionen wiegen zum Teil so schwer, dass die jungen Menschen sie nicht überleben. Die Befragung, die in 21 Ländern stattfand, stellte fest, dass jede:r fünfte junge Befragte (15 bis 24 Jahre), sich häufig deprimiert fühlt oder wenig Interessen hat. In Deutschland machte einer von vier Befragten die gleichen Angaben.
Über das Tabu Suizid wird noch viel zu wenig gesprochen
Obwohl die Zahl der Suizidfälle erschreckend hoch ist, wird über dieses Tabu in der Gesellschaft immer noch viel zu wenig gesprochen. Auch die Hinterbliebenen finden zu wenig Ansprache, wenn sie jemanden durch Suizid verloren haben. Hier setzt die TelefonSeelsorge an. Wer Selbsttötungsgedanken hegt, kann sich Tag und Nacht anonym per Telefon, Chat oder App an die Mitarbeiter:innen und ehrenamtlichen Helfer:innen der TelefonSeelsorge wenden.
Warum es hilfreich ist über Suizid zu sprechen
Wir haben über das Tabu Suizid mit Rosemarie Schettler von der TelefonSeelsorge gesprochen. Die Diplom-Sozialpädagogin/Gestalttherapeutin arbeitet hauptamtlich in der TelefonSeelsorge Duisburg Mülheim Oberhausen. Sie ist dort zuständig für Krisenbegleitung und ChatSeelsorge sowie Aus-, Fortbildung und Supervision der ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen.
Unter dem Dach der Krisenbegleitung bietet die TelefonSeelsorge Krisenintervention/Suizidprävention für Betroffene in Präsenzform an. Auch in den angebotenen Chats ist Suizidalität ein oft erwähntes Thema. Wir sprechen mit Rosemarie Schettler darüber, warum Suizid in der Gesellschaft immer noch ein Tabu-Thema ist. Sie erklärt uns, wie die TelefonSeelsorge genau funktioniert und was man tun kann, wenn ein Familienmitglied oder Freund:innen und Bekannte in suizidale Gedanken abzugleiten drohen.
Weltverbesserer.de: Warum ist Suizid in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabu?
Rosemarie Schettler: Über Suizid zu sprechen ist tabu. Sich zu töten nicht. Das tun immerhin fast 10.000 Menschen im Jahr in Deutschland. Circa. 10- bis 15-mal so viele Menschen versuchen einen Suizid und jede dieser Personen hat im Umfeld weitere 6 Personen, die durch diese Tat belastet werden. Die DGS (Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention) hat diese Zahlen so errechnet und veröffentlicht.
Verglichen mit der Häufigkeit dieses Geschehens wird wenig darüber gesprochen. Es ist ein so persönliches Thema, dass es sich in Alltagsthemen schwer einfügen lässt. Menschen, die an Suizid denken, wollen vor allem ihnen nahe stehende Personen nicht belasten. Und sie zeigen sich mit Suizidgedanken und der Aussage, nicht mehr weiter zu können/zu wollen ungern anderen Menschen. Dazu kommt, dass der Gedanke an Suizid immer viel Erklärungsbedarf weckt, vor dem Betroffene sich möglicherweise schützen möchten. Angehörige von Menschen, die durch Suizid verstorben sind, sind in ihrer Trauer oft allein, ihnen fehlen anteilnehmende Gesprächspartner:innen.
Suizid gehört auf jeden Fall zu den „intimen“ Themen wie zum Beispiel Sexualität und religiöse Positionen, über die Menschen normalerweise kaum sprechen. Wenn über Suizid gesprochen wird, kann es für Betroffene sehr erleichternd wirken.
Wie funktioniert die Suizid-Prävention bei der TelefonSeelsorge genau?
Die TelefonSeelsorge bietet Gespräche am Telefon an, in der Krisenbegleitung im Präsenzgespräch und auch in Chat und Mail. Das alles anonym und kostenfrei, so dass Menschen mit Gesprächsbedarf nur eine niedrige Schwelle überwinden müssen, um schwer besprechbare Themen in Worte zu fassen. Wir hoffen, durch dieses Angebot frühzeitig Entlastung anbieten zu können, damit bestehender Druck zumindest nicht größer wird.
In der Suizidprävention gibt es einen Satz: „Beziehung wirkt antisuizidal“, dem wir hier folgen. Wir machen durch das Gesprächsangebot auch ein Beziehungsangebot. Und bieten eine wertschätzende und hoffentlich haltgebende Beziehung, die den Nutzern hilft, Worte zu finden für Dinge, die belastend sind und verzweifeln lassen. Das schafft Belastungen nicht aus der Welt. Aber immerhin werden diese Belastungen im Beisein eines anderen Menschen geäußert, die Gedanken nach außen getragen, in der Hoffnung, mit all dem nicht mehr allein zu sein. Und über Alternativen und Perspektiven zu sprechen.
Gibt es besonders gefährdete Menschen, wenn es um Suizid geht?
Rein statistisch sind Menschen mehr gefährdet, durch Suizid zu sterben, wenn sie psychisch krank, depressiv oder süchtig sind. Ebenso mehr gefährdet sind Menschen, die schon einmal versucht haben, sich zu töten. Ebenso sehr alte Menschen gehören zu den Gefährdeten, auch wenn sie in den Statistiken nicht so auffallen. Sie wählen manchmal einen „stillen“ Suizid, indem sie Medikament absetzen und nicht mehr essen und trinken.
Lies dazu auch: Depression: viel mehr als schlechte Laune
Was können Familie & Freunde tun, wenn jemand in Depressionen und Suizidgedanken zu gleiten droht?
Kontakt halten, im Gespräch bleiben, Entlastung bzw. Unterstützung anbieten. Den anderen nicht aufgeben, freundlich bleiben. Eventuell stellvertretend fürsorglich, auf jeden Fall wertschätzend sein. Suizidgedanken müssen ernst genommen werden, sie dürfen nicht überhört oder bagatellisiert und schon gar nicht vorgeworfen werden. Beispiel: „Denk doch mal an deine Kinder!“.
Was sollte sich gesellschaftlich ändern, damit Suizid nicht mehr tabuisiert wird, sondern wir offen damit umgehen lernen?
Ich kann mir schwer vorstellen, dass Suizid, Sexualität, religiöse Haltung genauso offen besprechbar sein können wie Ernährungsfragen, Sportprogramme etc. Aber wir können lernen, sensibler damit umzugehen. Mir fällt auf, dass zunehmend in Berichten über Suizid, Depression etc. in den Medien Hinweise auf mögliche Entlastungs- und Hilfsangebote genannt werden. Das ist gut so! In früheren Jahren fragten Medienvertreter: „Was war denn der spektakulärste Fall in ihrer Krisenbegleitung?“ So was hab ich lange nicht mehr erlebt und ich werte das als eine gute Entwicklung.
Auch die Schaffung beziehungsweise die Bereitstellung einer guten psychosozialen/ärztlichen Infrastruktur mit kurzen Wegen kann einiges abfangen. Da wo diese Angebote rar sind, werden kleine Probleme zu großen und Einzelprobleme bekommen Geschwister und die suizidale Engführung nimmt ihren Lauf.
Wohin können sich Betroffene oder Menschen, die das Bedürfnis haben, mit jemandem zu sprechen, wenden?
Wer es schafft, Belastendes in Worte zu fassen und die noch einem anderen Menschen anzuvertrauen, der verfügt über eine lebensnotwendige Ressource. Da wo Familie und Freunde als nicht passende Anlaufstellen empfunden werden oder die Entlastung dort schlicht nicht ausreicht, der kann die oben genannten Anlaufstellen unter dem Dach der TelefonSeelsorge wählen (Telefon, Chat, Mail, Krisenbegleitung). Darüber hinaus gibt in vielen Städten Beratungsstellen (Gesundheitsamt der Stadt, Caritas, Evangelische Kirche), die oft auch kurzfristig Gespräche anbieten können.
Was würden Sie sich für den Umgang mit dem Thema Suizid wünschen?
Wie oben bereits genannt: Mittlerweile scheint es üblich zu sein, im Anschluss an Berichte über Suizid, Depressionen und ähnliche Hinweise auf Anlaufstellen für Betroffene zu nennen. Das ist eine gute Entwicklung.
In meinen Suizidpräventions-Seminaren arbeite ich daran, Teilnehmende zu unterstützen, sich ein Gespräch über Suizidgedanken und Suizidabsichten zuzutrauen und das auch zu führen und nicht zu überhören, wenn Suizidalität genannt wird oder anklingt. Wichtig bleibt: wenn ich mich auf ein Gespräch um Suizid einlasse, bin ich verantwortlich, dieses Gespräch wertschätzend, anteilnehmend, empathisch zu führen. Ich bin in der Regel nicht dafür verantwortlich, dass der andere sich nicht tötet. Klare Grenzen sind nötig.
Was kann die Gesellschaft und der Einzelne vorbeugend tun, damit es erst gar nicht zu einem Suizid kommt?
Gesund bleiben. Freundschaften haben und pflegen, in ein stabiles familiäres Netz eingebunden sein, Arbeit haben, die Freude macht und eine stabile Lebensfinanzierung ermöglicht. Ebenso Aufgaben, Hobbies, Interessen haben, eine gute Beziehung zu sich selbst, eine Wohnung, die bezahlbar ist.
Suizide hat es in allen Kulturen zu allen Zeiten gegeben. Kaum vorstellbar, dass es gar nicht zu Suiziden kommt. Der Gedanke an Suizid kann Menschen auch Erleichterung verschaffen. Mit diesem Gedanken spüren Menschen auch in sehr belastenden, ausweglos scheinenden Situationen ein Gefühl der Autonomie und müssen nicht alles hinnehmen und aushalten, was das Leben ihnen an Zumutungen bietet.
Was wünschen Sie sich für das Thema Suizid und die TelefonSeelsorge in der Zukunft?
Wie schon oben genannt: Gute Infrastruktur im psychosozialen Bereich für Ratsuchende. Das heißt, überschaubare Wege und Anlaufstellen, die kurzfristig genutzt werden können.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wenn Du selbst suizidale Gedanken hast, suche Dir bitte Unterstützung. Bei der TelefonSeelsorge findest Du, ob telefonisch, per Chat oder App, anonym Hilfe.
Die TelefonSeelsorge ist per Telefon unter 0800 / 111 0 111 erreichbar. Auch unter der Telefonnummer 0800/ 111 0 222 oder 0800 116 123 erreichst du die Mitarbeitende der TelefonSeelsorge. Per Mail und per Chat findet man auf der Webseite der TelefonSeelsorge Beratung und Hilfe. Eine spezielle Telefonberatung für Kinder und Jugendliche ist unter: 0800 / 116 111 erreichbar oder auf der Webseite der Nummer gegen Kummer. Auch die APP Krisenkompass bietet Betroffenen Hilfe an.
Die TelefonSeelsorge ist ein Netzwerk mit 104 Stellen in ganz Deutschland. Knapp 300 festangestellten Mitarbeiter:innen und über 7.700 ausgebildeten ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen mit ganz unterschiedlichen Lebens- und Berufskompetenzen stehen bei Sorgen und Nöten zur Verfügung.
Hinter der TelefonSeelsorge stehen die beiden großen Kirchen in Deutschland als Träger sowie die Evangelische Konferenz für TelefonSeelsorge® und Offene Tür e. V. und die Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft für Ehe-, Familie- und Lebensberatung, TelefonSeelsorge® und Offene Tür e. V.
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