Energieexperte: „Noch nie in der Menschheitsgeschichte wuchs eine Energieform so schnell“

Tim Meyer Strom
Foto © Tim Meyer / CC0 Unsplash

Tim Meyers neues Buch „Strom“ will aufrütteln – und liefert die Fakten dazu.
Es zeigt, wie rasant der weltweite Ausbau der Erneuerbaren voranschreitet, während Deutschland Gefahr läuft, den Anschluss zu verlieren. Im Interview erklärt der Energieexperte, was wirklich hinter den Strompreisen steckt, warum China so erfolgreich ist – und warum die Energiewende bislang an vielen Menschen vorbeigeht.

Utopia: Was hat Sie dazu bewegt, gerade jetzt dieses Buch über Strom und den Energiemarkt zu schreiben?

Tim Meyer: Die Diskussion über die Zukunft unserer Energieversorgung wurde in Deutschland stark politisiert – teilweise bewusst. Dadurch halten wir uns mit Diskussionen auf, die technisch und ökonomisch längst erledigt sind: E-Fuels, Heizen mit Wasserstoff oder die nicht tot zu kriegende Atomdiskussion.

Dabei zeigt ein nüchterner Blick auf die weltweiten Entwicklungen: Der Zug rollt längst mit großer Geschwindigkeit in Richtung Erneuerbare Energien und Elektrifizierung. Eine regelrechte Energierevolution ist das. Was eine gute Nachricht für den Klimaschutz ist, bedeutet gleichzeitig: Deutschland wird wirtschaftlich abgehängt, wenn wir diese Revolution weiter aussitzen wollen.

Wo stehen wir aktuell bei der Energiewende – und warum kommt das bei vielen Menschen so wenig an?

Wir sind heute viel weiter, als wir vor fünf oder zehn Jahren hätten träumen können. Zwar macht die Welt noch immer viel zu viel vom Falschen – nämlich Sachen zu verbrennen – aber in atemberaubendem Tempo immer mehr vom Richtigen.

In Deutschland ist die Energiewende jedoch zu lange als reine Stromerzeugungswende gedacht worden, die gedanklich vor allem im Einfamilienhaus mit PV-Anlage stattfand. Die Mehrheit der Menschen, die weder eine Solaranlage aufs Dach setzen können noch das Geld dafür haben, profitiert bisher zu wenig. Das liegt auch an einem handfesten Gerechtigkeitsproblem.

Die schnellste Energierevolution der Geschichte

Wie dramatisch ist denn dieses Tempo, von dem Sie sprechen?

Das klingt großspurig, ist aber genauso: Wind- und Solarenergie sind die Energieformen mit der größten Wachstumsgeschwindigkeit der Menschheitsgeschichte. In zwei oder drei Jahren könnte die Menschheit den Punkt erreichen, an dem sie mehr Nutzenergie nur aus Sonne und Wind zieht als aus allem Erdöl, das weltweit verbrannt wird. Das darf man sich auf der Zunge zergehen lassen…

Sie schreiben: „Die industrielle Massenfertigung ist der Game Changer.“ Was macht dieses Wachstum überhaupt möglich?

Klassische Energietechnik funktionierte als Großanlagentechnik: Wenn ich ein Kraftwerk immer größer baue, sinken die Kosten. Diese Mechanik ist aber ausgereizt.

Photovoltaik und Batterietechnik funktionieren umgekehrt: Die einzelne Einheit ist klein, wird dafür millionenfach und standardisiert gefertigt. Da die Märkte schnell wachsen, fließt laufend neueste Technologie in neue Fertigungslinien ein. Solche Produkte „lernen“ viel schneller als über Jahre geplante Großkraftwerke.

Deutschland verschläft den Wettbewerb

Trotzdem heißt es oft: Die Erneuerbaren seien schuld an unseren hohen Strompreisen. Wie berechtigt ist das?

Auf dem Strommarkt sorgen die Erneuerbaren dafür, dass der Strompreis sinkt. Etwas anderes können sie gar nicht – die Grenzkosten sind nahezu null. Hohe Preise stammen aus der Gasverstromung, von den gestiegenen Gaspreisen nach Russlands Überfall auf die Ukraine.

Der reine Strompreis macht etwa ein Drittel Ihrer Rechnung aus. Ein weiteres Drittel sind staatliche Steuern und Abgaben – die haben wenig mit Erneuerbaren zu tun. Das letzte Drittel sind Netzentgelte, die durch den Netzausbau gestiegen sind. Aber es gibt Lösungen wie Batteriespeicher, mit denen man viel Netzausbau sparen kann.

Nun kündigt aber Wirtschaftsministerin Reiche an, den Ausbau der Erneuerbaren zu verlangsamen. Sie warnen: „Wer auf alte Technik setzt, wird vom Weltmarkt überrollt.“ Was bedeutet das konkret?

Die Energiewende hat einen Schiefstand aufgrund unterschiedlicher Geschwindigkeiten beim Ausbau der Erneuerbaren und der Flexibilisierung des Stromsystems. Diesen kann man auf zwei Arten beheben: das Schnelle bremsen oder das Langsame beschleunigen.

Doch nur der zweite Weg führt in die Zukunft, denn die ist erneuerbar, flexibel und digital. Wenn wir jetzt viele Gaskraftwerke bauen, zementiert das alte Strukturen – und das zu hohen Kosten. Und wenn wir die Mobilität nicht elektrifizieren, fehlt unserer Wirtschaft der Heimatmarkt für die Exportprodukte von heute. Denn die Märkte sind bereits ziemlich klar.

Als Gegenbild loben Sie Chinas Industriepolitik als „nüchtern und wirkungsvoll“. Was macht China anders?

Vor über 20 Jahren hat China das disruptive Potenzial von Wind und Solarenergie erkannt, etwas später auch das von Batterietechnik und Elektromobilität. Jeweils in 5-Jahresplänen wurde niedergelegt, wie man Technologie, Fertigung und Märkte aufbaut.

Für seine heutige Rolle als Technologie- und Kostenführer war China bereit, sehr große Summen zu investieren und ein extrem wettbewerbliches Umfeld zu schaffen. Diese Lust auf Neues, auf Wettbewerb und auch auf Erfolg scheint uns in Deutschland gerade etwas abzugehen.

Wer gegen die Zukunft kämpft

Wenn die Märkte so eindeutig sind, wie Sie sagen – warum gibt es dann noch so viel Widerstand gegen die Erneuerbaren?

Weil es viele Verlierer gibt. Allen voran die Öl- und Gasindustrie, die ihre Multi-Milliardengewinne seit Jahrzehnten mit Desinformationskampagnen verteidigt, finanziell gut ausgestattet und professionell gemacht.

Aber auch in der Bevölkerung gibt es Verlierer, wenn Neues das Alte verdrängt. Es ist verständlich, dass die Kutscher das Automobil nicht mochten oder Nokia das erste iPhone. Neben dem wirtschaftlichen Verlust geht oft auch Identifikation verloren und Lebensleistung scheint entwertet.

Das ist ja auch eine kulturelle Frage: Warum tun wir uns mental so schwer mit dieser Transformation?

Veränderung ist anstrengend, zumal wenn sie so umfassend ist wie heute. Es ist uns noch nicht gelungen, die Vorteile einer sauberen Energiewelt so plastisch zu beschreiben, dass ausreichend viele Menschen Lust darauf bekommen.

Daher wäre es so wichtig, die richtigen wirtschaftlichen Anreize zu geben. In Skandinavien ist es überhaupt kein Thema, dass die meisten mit Wärmepumpe heizen. Warum? Wärmepumpenstrom ist viel billiger als Gas. In Deutschland soll aber die Stromsteuerentlastung entfallen und dafür Gas verbilligt werden. Verkehrte Welt.

Sie arbeiten viel mit Visualisierungen – Diagramme, Charts, S-Kurven. Hilft das bei dieser Vermittlung?

Wenn man erst einmal sieht, wie krass die weltweite Solarproduktion gewachsen ist oder wie weit China uns bei der Elektrifizierung voraus ist, macht es bei vielen anders „klick“ als nur beim Lesen. Meine Lieblingsgrafik ist die vom Energiesystem-Tetris. Sie erklärt auch für Laien anschaulich, warum Atomkraftwerke nichts für Dunkelflauten sind.

Tetris Grafik Dunkelflaute
Energiesystem-Tetris. Deckungslücken der berühmten »Dunkelflaute« werden mit flexiblen Gas- oder Wasserstoffkraftwerken gedeckt, die über das gesamte Jahr nur geringe Betriebsstunden aufweisen. Die optimale ökonomische Struktur dafür verlangt niedrige Investitionskosten, Betriebskosten dürfen hingegen hoch sein. Atomkraftwerke haben hohe Investitions- und niedrige Betriebskosten. Sie liegen im Tetris »quer« und passen nicht ins System. (Bild © Tim Meyer, Strom)

Wie aus dem Informationschaos aussteigen?

Trotzdem fühlen sich viele Menschen überfordert von der Komplexität. Was würden Sie ihnen sagen?

Ist es wirklich die Überforderung oder vielleicht die Verunsicherung, was denn nun richtig sein soll, wenn alle so völlig unterschiedliche Wahrheiten kommunizieren? Das ist das Kernproblem – die Wirklichkeitsbeschreibungen passen nicht mehr zusammen.

Aus diesem Grund habe ich „Strom“ geschrieben: um trennscharf zu erklären, was gesicherte industrielle, technische oder ökonomische Logiken sind und was tatsächlich unsicher.

Was ist Ihre zentrale Botschaft?

Wir haben die Lösungen und wir haben die Wirkmacht einer industriellen Revolution auf unserer Seite. Es gibt also berechtigten Grund zur Hoffnung. Aber wir brauchen gemeinsame Lust auf Zukunft – und die kann jede und jeder im eigenen Umfeld gestalten.

Tim Meyer ist promovierter Elektroingenieur und seit über 25 Jahren in der Energiebranche tätig – als Manager, Geschäftsführer und Vorstand von Unternehmen der erneuerbaren Energien. In seinem Buch „Strom“ erklärt er, warum die industrielle Massenfertigung von Solar- und Windanlagen eine Revolution auslöst, die alte Energiesysteme überrollt. Der Berater und Energieexperte (32.000 LinkedIn-Follower) räumt mit Mythen auf und zeigt anhand von Daten und Grafiken: Der Markt hat längst den Durchbruch für eine klimaneutrale Energiezukunft geschaffen. Das Buch bringt Klarheit in die verwirrende Energiedebatte – für alle, die endlich verstehen wollen, was wirklich passiert. Online erhältlich** bei:

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