Seit knapp einem Jahrzehnt beschäftige ich mich mit der fahrradgerechten Stadt – wie diese aussehen kann und wie Städte sie umsetzen. Doch vor allem interessiert mich die Frage: Wie gewinnt man damit (politische) Mehrheiten? Mit welchen Argumenten, welchen Bildern und mit welcher Erzählung lassen sich Menschen von diesem Projekt überzeugen? Eine Kolumne von Ingwar Perowanowitsch.
110 Tage und über 5.000 Kilometer: Vergangenes Jahr fuhr ich mit dem Fahrrad von Freiburg zur Weltklimakonferenz nach Aserbaidschan. Von dieser Reise brachte ich einen Film mit, den ich direkt nach meiner Ankunft in Baku ins Internet stellte. Die Resonanz war überwältigend: Der Film lief in Kinos, auf Veranstaltungen, Filmfestivals und natürlich in zahlreichen Wohnzimmern. Ich merkte, wie wirkmächtig das Medium Film ist – und wie man damit Geschichten erzählen kann, die mit Worten oder Bildern allein nicht möglich wären.
Mein Ziel: Einen Film über fahrradgerechte Städte drehen
So keimte in mir über die Wintermonate, in denen ich wieder zu Kräften kam, ein Gedanke: Ist es möglich, meine Arbeit, über die ich tagtäglich schreibe und spreche, ebenfalls in filmischer Form zu erzählen? Einen Film zu drehen, der all die Entwicklungen aus den vielen Städten, von denen man jede Woche liest, zu einer großen Erzählung zusammenführt? Ein Film, der zeigt, dass dies keine Einzelfälle sind, sondern Teil eines globalen Trends – dem, dass das Zeitalter der autogerechten Stadt am Vergehen und etwas Neues am Entstehen ist.
Mit dieser Idee brach ich Ende Mai erneut von Freiburg auf – wieder mit dem Fahrrad, denn auch das Thema Reisen soll in diesem neuen Film nicht fehlen. Mein Ziel: Ich möchte die schönsten Fahrradstädte Europas bereisen, mit Verantwortlichen sprechen, die Orte auf mich wirken lassen und herausfinden, warum diese Städte das geschafft haben, was in Deutschland oft unmöglich erscheint – den öffentlichen Raum gerecht auf alle Menschen zu verteilen.
Radreise über Frankreich, Belgien und Niederlande – bis nach Dänemark
Konkret führt mich mein Weg über Paris, die belgischen Städte Brügge und Gent und in die Niederlande – nach Utrecht, Amsterdam und Groningen. Dann geht es kurz durch Deutschland, durch Bremen und Hamburg, bis ich schließlich – als krönenden Abschluss – nach Kopenhagen fahre.
Die gesamte Zeit mit dabei: Kamera, Stativ und Drohne. Damit will ich einfangen, wovon man sonst nur liest oder Bilder sieht – zum Beispiel die vielen neuen Fahrradfahrer:innen in Paris, die rot leuchtenden Radwege in den Niederlanden, das größte Fahrradparkhaus der Welt in Utrecht oder die Cykelslangen in Kopenhagen, eine futuristische Fahrradbrücke mit weltweiter Bekanntheit. Doch vor allem will ich die Menschen zeigen, die sich aufs Fahrrad schwingen und ohne die der Wandel nicht möglich wäre.
„Cycling Cities“ soll der neue Film heißen. Ein Porträt über die schönsten Fahrradstädte Europas und eine Geschichte darüber, wie sie es geworden sind.
Erstes Reiseziel: Paris – eine Stadt, die sich rasant verändert
Während ich diesen Text schreibe, habe ich mein erstes Etappenziel erreicht: Paris – eine Stadt, die für ihre mutige Verkehrspolitik weltweit Schlagzeilen macht und mit Anne Hidalgo eine Bürgermeisterin hat, die damit über Europa hinaus Bekanntheit erlangte.
Tatsächlich hat sich kaum eine europäische Metropole in den vergangenen zehn Jahren derart rasant verändert wie Paris. Wie Pilze schossen Radwege und Radfahrer:innen aus dem Boden. In der ganzen Stadt wird entsiegelt, werden Büsche und Bäume gepflanzt, Parkplätze abgebaut oder ganze Schnellstraßen stillgelegt und zur Fußgängerzone umgewandelt – wie am Ufer der Seine geschehen. Wo früher zehntausende Autos fuhren, spazieren heute zehntausende Menschen. Teile des Flusses werden – knapp 100 Jahre nach dem Verbot – aufgrund umfassender Schutzmaßnahmen erstmals wieder zum Schwimmen freigegeben.
All diese Maßnahmen verfolgen zwei Ziele: den öffentlichen Raum verstärkt der Allgemeinheit zurückgeben und die Stadt an die Folgen des Klimawandels anpassen. Die neuen Radwege, die Teuerungen fürs Auto und die unzähligen Büsche und Bäume sind dabei nur ein Mittel zum Zweck.
Paris fährt Fahrrad, Deutschland bremst
Und die Pariser:innen? Sie nehmen den Wandel an – wie ich in den vergangenen Tagen hautnah erleben konnte. Die Radwege sind voll, die ehemalige Straße an der Seine ebenfalls. Und neue verkehrsberuhigte und begrünte Straßen trifft man an allen Ecken und Enden. Ein ganz besonderer Ort ist die Rue de Rivoli – eine Straße, die einst eine mehrspurige Autostraße war und nun zu zwei Dritteln dem Radverkehr gehört.
Die Pariser Erfolgsgeschichte zeigt auch, woran es in Deutschland noch mangelt: an politischem Mut, an einer positiven Zukunftsvision und an der Fähigkeit, Widerstände auch mal auszuhalten. Die automobilen Beharrungskräfte sind in Deutschland noch groß und Städte derart aufs Auto zugeschnitten, dass es umso schwerer ist, davon wegzukommen. Doch Paris war vor über zehn Jahren in der gleichen Situation – und hat den Wandel dennoch eingeleitet.
Weiter geht’s nach Brügge und Gent …
Wenn dieser Text erscheint, habe ich Paris bereits verlassen und fahre Richtung Belgien – nach Brügge und Gent, zwei Städte, die ich noch nicht kenne, über die mir aber in Sachen Radverkehr viel Gutes berichtet wurde. So entsteht in Gent derzeit das mutmaßlich größte Fahrradparkhaus der Welt – ein Hinweis darauf, welche Rolle das Fahrrad dort spielt.
… und in die Fahrradstädte der Niederlande
Am meisten Vorfreude verspüre ich aber, wenn ich an die Niederlande denke und die wunderbaren Städte Utrecht, Amsterdam und Groningen. Hier wurde dem Fahrrad in den vergangenen Jahrzehnten buchstäblich der rote Teppich ausgerollt. Die rot leuchtenden Fahrradwege sind der niederländische Goldstandard und verkörpern – ähnlich wie die Windmühlen – die Identität des Landes.
Und das Tolle: Obwohl die Niederlande das führende Fahrradland Europas, wenn nicht sogar der Welt sind, ruht man sich nicht auf dem Erreichten aus. Unverändert wird dort an der Stadt der Zukunft gearbeitet, in der das Auto immer weniger eine Rolle spielen wird.
Auch deutsche Städte sind Teil der Radreise
Natürlich sollen auch deutsche Städte im finalen Film nicht fehlen. Nach den Niederlanden geht es nach Hamburg – das zwar noch keine Fahrradstadt, aber auf einem guten Weg ist und den Radwegeausbau seit Jahren konsequent vorantreibt.
Und schließlich: Kopenhagen – eine Stadt, die ihr Fahrradimage exzellent vermarktet und sich selbstbewusst zur Fahrradhauptstadt Europas erklärt hat. Ob das berechtigt ist, möchte ich am Ende der Reise selbst herausfinden.
Wir müssen den Mut haben, unsere Städte neu zu denken
Auf dieser Radreise möchte ich die Menschen mitnehmen – in den sozialen Netzwerken, in dieser Kolumne und im Film. Es soll ein Film werden, der informiert und inspiriert, der Gewohnheiten hinterfragt. Aber vor allem soll der Film zeigen, welches Potenzial in unseren Städten schlummert und was wir alle an Lebensqualität dazu gewinnen würden, wenn wir nur den Mut haben, unsere Städte neu zu denken.
Ob das gelingt, bleibt offen – einen Versuch ist es allemal wert.