Anzeichen für ADHS gibt es zwar in der Regel schon in der Kindheit, doch manchmal wird die Störung erst im Erwachsenenalter entdeckt. Auf welche Hinweise sollte man achten? Und wie geht es danach weiter?
Wenn jemand die Diagnose ADHS – kurz für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – bekommt, bringt das einen womöglich selbst dazu, auf das eigene Erleben und Fühlen zu blicken. Auf einmal steht die Frage im Raum: Bin ich vielleicht auch betroffen und die Störung wurde bislang nicht entdeckt?
„Für viele Erwachsene ist eine ADHS-Diagnose des Kindes der erste Anlass, sich selbst ebenfalls testen zu lassen“, sagt Matthias Rudolph. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Aus gutem Grund. Denn ADHS ist eine neurobiologische Stoffwechselstörung, die genetisch bedingt ist. Das Gehirn leidet dabei unter ständiger Reizüberflutung, die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sind im Ungleichgewicht.
Was können Anzeichen für ADHS sein?
Ernstzunehmende Hinweise auf ADHS sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und mangelnde Frustrationstoleranz, eventuell auch Unruhe, Vergesslichkeit oder Tagträumerei.
Manche Betroffenen handeln generell aus dem Bauch heraus, leiden unter Stimmungsschwankungen, beenden auch mal abrupt ihre Partnerschaft oder kündigen den Job. Andere treiben mit großem Eifer (Extrem-)Sport.
Nicht selten sind Alkohol und Drogen im Spiel. Letzteres allerdings nicht wegen des Kicks. „Teilweise nutzen ADHSler Drogen als Versuch einer Selbsttherapie“, sagt Carolin Zimmermann, Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde in München.
Dazu kommen „Probleme mit dem roten Faden“ wie Matthias Rudolph es nennt. Das systematische Planen des Alltags fällt vielen schwer. Ständig verlegt man Gegenstände wie Schlüssel, Handy oder Kreditkarte.
Doch viele Menschen mit ADHS können sich auch hyperfokussieren, wenn sie etwas spannend finden. Sie sind perfekte Krisenmanager, sie laufen zu Höchstform auf, wenn andere nicht mehr weiterwissen. „Deswegen sind viele im künstlerischen oder Show-Bereich tätig, arbeiten in der IT oder in Start-ups“, so Zimmermann.
Warum bei Frauen ADHS seltener entdeckt wird
Die Wahrscheinlichkeit, dass ADHS entdeckt wird, sei bei Frauen geringer als bei Männern, sagt Matthias Rudolph. Das hat vor allem mit Vorurteilen zu tun, die noch immer in vielen Köpfen herrschen. Auf der einen Seite das Bild des zappeligen Jungen, auf der anderen Seite das des ruhigen, verträumten Mädchens. „Das stimmt aber nicht immer, wenn man genauer hinschaut.“
Der größte Unterschied liege im Umgang mit ADHS. Männer seien eher extrovertiert und interpretierten eigenes Fehlverhalten als Schuld der anderen. Frauen neigten dagegen häufiger dazu, vermeintliches Fehlverhalten auf sich zu beziehen. Die Folge: „Viele Frauen erscheinen mit Depressionen und Ängsten in der Sprechstunde.“
80 Prozent der Erwachsenen ADHS-Betroffenen hätten eine weitere Störung, sagt Rudolph. 60 Prozent hätten zwei oder mehr Erkrankungen wie Angststörungen, Depression oder Sucht.
Ivonne Fernández, Autistin mit ADHS und Gründerin des gemeinnützigen Vereins Neurodivers e.V., berichtet Ähnliches im Gespräch mit Utopia. Ihr zufolge würde vor allem eine ADHS-Diagnose bei Mädchen aufgrund von gesellschaftlichen Stereotypen seltener festgestellt.
Fernández erklärt im Utopia-Interview: „Bei Jungen erwartet man, dass sie sich für Züge oder Dinosaurier interessieren. Die extreme Variante davon, also ein Kind, das wirklich alles über Züge und Dinosaurier weiß, entspricht eher dem typischen Bild eines autistischen Kindes. Ein Mädchen hingegen, das in ähnlicher Ausprägung alles über Pferde, Barbies oder Popbands weiß, würden Ärzt:innen eher als ganz normales Mädchen ansehen.“
Wohin man sich beim Verdacht am besten wendet
Die Diagnose ADHS können Fachärzt:innen für Neurologie, für Psychotherapie, für Psychiatrie oder für Psychosomatische Medizin stellen. Ohne Geduld geht es leider nicht: Die Wartezeiten betragen zum Teil viele, viele Monate.
Es sei durchaus sinnvoll, zuerst Hausärzt:innen aufzusuchen, sagt Zimmermann. Er oder sie kann zumindest eine erste Einschätzung geben und gegebenenfalls weiterüberweisen.
Gemeinsam könne man einen Screeningbogen der Weltgesundheitsorganisation WHO durchgehen oder alte Schulzeugnisse mit Text aus der Grundschule analysieren, falls vorhanden. Die Texte darin lassen sich Rudolph und Zimmermann immer zeigen, wenn Menschen mit ADHS-Verdacht in ihre Sprechstunden kommen.
Denn für eine Diagnose muss nachgewiesen sein, dass eine Störung vorliegt, die es bereits im Kindesalter gab und die im Erwachsenenalter weiterhin besteht.
Neben Zeugnissen und möglichen Vorbefunden kann für die Sprechstunde bei Fachärzt:innen eine vorbereitete Liste mit typischen Symptomen sinnvoll sein, erklärt Zimmermann.
Was passiert nach der Diagnose ADHS?
Steht die Diagnose, setzt sich die Therapie aus mehreren Elementen zusammen. Ein Baustein sind Medikamente, ergänzt wird die Behandlung oft durch eine Verhaltenstherapie, bei der es darum geht, das Leben besser zu strukturieren. Andere Bausteine können Ergotherapie, Sport und Selbsthilfegruppen sein.
Neurologin Zimmermann vergleicht entsprechende Medikamente bei ADHS mit einer „Brille fürs Gehirn“, die hilft, sich besser zu fokussieren. Denn ADHS-Patient:innen fällt es oft schwer, sich zu konzentrieren. Die Medikamente wirken im Dopamin- und Noradrenalin-System des Gehirns, beeinflussen also diese Botenstoffe.
Organisationen wie ADHS Deutschland wiederum bieten Selbsthilfe-Gruppen für Erwachsene in vielen Städten an. Hier bekommt man nicht nur praktische Tipps, sondern macht auch die Erfahrung, nicht der oder die einzige mit bestimmten Herausforderungen zu sein.
Auch Familie, Freunde und Angehörige können dabei helfen, Strukturen einzuhalten. „Partner spielen eine große Rolle als Unterstützer“, betont Zimmermann. Durch das Wissen um die Diagnose können sie mit der Zeit mehr Verständnis für bestimmte Verhaltensmuster entwickeln.
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