„Wo sind die Seepferdchen geblieben?“, fragt man sich in der Region um das spanische Mar Menor. Die größte Salzwasserlagune Europas liegt im Sterben. Laut Umweltschützer:innen trägt der Massen-Anbau von Billiggemüse, das vor allem nach Deutschland gelangt, die Hauptschuld.
An der Playa de los Alemanes, dem „Strand der Deutschen“, stinkt es gewaltig. Trotz des angenehmen Abends mit 25 Grad und leichter Brise sind dieser und andere Strände hier am Mar Menor, der größten Salzwasserlagune Europas im Südosten Spaniens, ebenso leer wie die schönen Lokale drumherum. Man sieht allenfalls hier und da Jogger:innen. Und ins Wasser wagen sich nur ein paar Hunde. Kein Wunder: Es ist eine dunkle Brühe voller Algen. An der Oberfläche treiben unter anderem unzählige tote Quallen.
„Hier habe ich schon als Kind und auch noch bis vor wenigen Jahren im glasklaren Wasser gebadet. Man konnte wegen des hohen Salzgehalts regelrecht schweben und inmitten der Seepferdchen herrlich entspannen“, erzählt Marta Añíbarro. Die circa 170 Quadratkilometer große und nur wenige Meter tiefe Lagune, die vom Mittelmeer nur durch eine schmale Sandbank getrennt wird, sei ein sterbendes Naturparadies, klagt die 60-jährige Unternehmerin und Aktivistin. „Mir ist hier immer zum Heulen zumute. So muss der Weltuntergang aussehen.“ Seepferdchen sehe man hier kaum noch.
Am Pranger stehen jene Betriebe, die Gemüse und Obst billig anbauen
Wie konnte so etwas passieren? Schuld sind unter anderem der Massentourismus, der wegen der Probleme jedoch derzeit stetig abnimmt, und die dichte und oft ungeregelte Bebauung. Die Hauptursache sei aber die nach einem großen Bewässerungsprojekt Mitte der 1990er Jahre hier im Anbaugebiet Campo de Cartagena in der Region Murcia betriebene hyperintensive Landwirtschaft, klagen Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen und auch die linke Zentralregierung in Madrid. Diese hat schon einige Maßnahmen ergriffen, doch ihre Zuständigkeiten sind in der sogenannten Autonomen Gemeinschaft Murcia eingeschränkt.
Am Pranger stehen jene Betriebe, die hier unter anderem Kopfsalat, Brokkoli, Tomaten, Trauben und Zitronen kostengünstig anbauen. Zuletzt wurden rund 30 Prozent der Jahresexporte des Campo de Cartagena in Höhe von 2,5 Millionen Tonnen von Deutschen gekauft.
Große Umweltprobleme verursacht der Anbau von Billiggemüse nicht nur in Murcia, sondern auch in anderen Regionen Spaniens, etwa in Andalusien. Man kennt die Bilder vom „Plastikmeer“ in der Region Almería. Zehntausende Hektar sind dort mit Gewächshäusern aus weißen Plastikplanen bedeckt. Anders als im 600 Kilometer entfernten Mar Menor ist in Andalusien vor allem der Wassermangel ein Problem.
Zurück nach Murcia: Die Probleme hier empören nicht nur Spanier wie Añíbarro, die die Initiative „Abracemos el Mar Menor“ (Umarmen wir das Mar Menor) gründete. Die ihrer Ansicht nach allzu sorglosen Einzelhändler und Konsumenten in „Alemania“ werden auch von der Deutschen Umwelthilfe (DUH) ins Visier genommen. „Der massenhafte Anbau von Billiggemüse für den europäischen Markt führt im spanischen Murcia zu einer verheerenden Umweltkatastrophe, an der auch deutsche Supermarktkonzerne eine entscheidende Mitverantwortung tragen“, klagte jüngst die DUH.
„Gigantische grüne Suppe“ mit faulem Gestank
Das sei das Ergebnis einer Umfrage in Zusammenarbeit mit der spanischen Umweltorganisation „Ecologistas en Acción“ zum Einkaufsverhalten von Aldi Nord, Aldi Süd, Lidl, Rewe und Edeka. Die befragten Einzelhändler beteuern, man setze sich auch in Spanien für einen nachhaltigen Anbau unter anderem im Bereich des Wassermanagements ein. Bei gegebener Warenverfügbarkeit biete man zudem bevorzugt Obst und Gemüse aus Deutschland an, betonten sie.
DUH-Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner überzeugt das nicht. Statt auf bis zu vier Ernten im Jahr, auf Kunstdünger und Pestizide zu setzen, sollten die Supermärkte sich für Renaturierung der Flächen einsetzen, fordert er. Dass das Mar Menor „erstickt“, wie Müller-Kraenner sagt, steht außer Frage. 2016 gab es das erste große Warnsignal, als das Wasser der Lagune sich über Nacht in eine „gigantische grüne Suppe“ mit faulem Gestank verwandelte.
„So etwas hatten wir hier nie erlebt, das hat uns die Augen geöffnet“, erzählt Isabel Rubio. Die 72-jährige Ex-Lehrerin engagiert sich als Koordinatorin des „Pacto por el Mar Menor“ und organisiert mit Añíbarros und anderen Vereinen seit 2021 jeden Sommer die „Umarmung des Mar Menor“ mit Zehntausenden Teilnehmer:innen.
Die stinkende „grüne Suppe“ war Folge einer schädlichen Anreicherung von Nährstoffen, die in der Landwirtschaft verwendet werden, wie Nitrate und Phosphate. Vor allem bei heftigem Regen gelangt neben Süßwasser auch viel düngerhaltiger Schlamm in das Mar Menor. Dadurch kommt es zu einer starken Vermehrung von Algen und Bakterien, die letztlich Sauerstoffmangel verursacht und den Fischen und weiteren Lebewesen die Lebensgrundlage entzieht.
Tiere und Menschen leiden
Ein neuer großer Schreck folgte im Sommer 2019. Drei Tonnen toter Lagunenbewohner wurden binnen Stunden an die Ufer angespült. Das traurige Schauspiel wiederholte sich im August 2021. Damals wurden sogar viereinhalb Tonnen verendeter Tiere aus dem Wasser geholt.
Während sich Madrid und die rechtskonservative Regionalregierung gegenseitig die Schuld zuschieben, über Zuständigkeiten streiten und unterschiedliche Lösungen bevorzugen, wird die Lage schlimmer und schlimmer. In diesem Sommer meldete der Fischerverband des Mar Menors einen Rückgang des Fischfangs in der Lagune um 90 Prozent. „Viele Fischer haben seit einiger Zeit keinen Lohn mehr erhalten. Das ist noch nie passiert“, klagte Verbandschef José Blaya.
Doch wenn die Tragödie so viele so hart trifft, wieso ist es so schwer, entschlossen(er) zu handeln? Nun ist es nicht so, dass die Behörden tatenlos zuschauen. Das Umweltministerium in Madrid hat etwa seit dem vorigen Jahr via Justiz in die Zwangsschließung von insgesamt mehr als 8000 Hektar (von insgesamt gut 400.000 in der Region Murcia) erwirkt, die illegal bewässert worden waren. Bis 2026 will Madrid zudem insgesamt 484 Millionen Euro für Maßnahmen zur Wiederherstellung des Ökosystems zur Verfügung stellen.
Durch die Sammlung von mehr als 640.000 Unterschriften schafften es die Aktivist:innen, dass die Lagune vor einem Jahr als erstes Ökosystem in Europa per Parlamentsbeschluss eine eigene Rechtspersönlichkeit mit einklagbaren Rechten erhielt. „Es gibt außerdem schon viele Schutzgesetze, die aber nicht respektiert werden“, sagt Rubio.
Nachhaltigerer Anbau droht Gewinne zu schmälern, heißt es
Während Umweltschützer:innen und die Regierung in Madrid mehr Maßnahmen für einen nachhaltigeren Anbau fordern, die natürlich die Gewinne schmälern würden, weisen Landwirt:innen und Regionalregierung eine „Kriminalisierung der Arbeiter“ zurück. Auf dem Spiel steht viel Geld. Laut dem regionalen Agrarverband Proexport brachten die Exporte voriges Jahr gut drei Milliarden Euro ein. Proexport-Chef Mariano Zapata beteuert, man habe „eine nachhaltige Umwandlung der Landwirtschaft durchgeführt, die in Europa beispiellos“ sei.
Rubio sieht aber auch als Hobby-Taucherin keine Besserung. Im Gegenteil: „Wenn man taucht, sieht man nur Tausende Quallen, die es früher nicht gab.“ Von Seepferdchen, Goldbrassen, Tintenfischen und Zackenbarschen sei heute praktisch „nichts mehr zu sehen“.
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