Es muss kein lautes Suppe-Schlürfen oder Chips-Krachen sein. Für manche Menschen ist es schon die Hölle, wenn jemand Kartoffelbrei isst. Misophonie lautet der Fachbegriff, der Leidensdruck der Betroffenen ist hoch.
Die quietschende Kreide auf der Tafel. Das Aneinanderreiben von Styropor. Das hohe Surren des Zahnarztbohrers. Jeder kennt Geräusche, bei dem sich die Nackenhaare aufstellen und man eine unangenehme Gänsehaut bekommt.
Doch es gibt Menschen, die sich dabei nicht nur einmal kurz schütteln müssen, sondern immens leiden. Misophonie nennen Fachleute diesen Hass auf Geräusche. Der Begriff stammt aus dem Griechischen: „misos“ für Hass und „phone“ für Geräusch. Betroffene können vor allem Essenslaute kaum ertragen.
„Man kann es so beschreiben, dass manche Menschen bestimmte Geräusche weniger gut aushalten können“, sagt Anne Möllmann. Sie ist psychologische Psychotherapeutin und Studienleiterin an der Universität Bielefeld.
Es könnten fünf Prozent der Bevölkerung betroffen sein
Dort forschen Psycholog:innen seit 2014 zu der Störung, die offiziell noch gar nicht als Krankheit anerkannt ist, die aber Anne Möllmann zufolge „wirklich ein häufiges Phänomen“ sei. Schätzungen zufolge könnten fünf Prozent der Bevölkerung von Misophonie betroffen sein.
Was Misophonie ausmacht: Betroffene sind nicht nur genervt von den Geräuschen, die andere verursachen, sie verspüren Wut, Ekel und Aggressionen. „Auch körperliche Reaktionen wie Herzklopfen, Schweißausbrüche oder Übelkeit sind keine Seltenheit“, sagt Heilpraktiker Andreas Seebeck aus Dinklage.
Er hat sich seit acht Jahren auf die Behandlung von Misophonie spezialisiert. Denn sein Sohn litt schon im Alter von zwölf Jahren darunter, konnte vor allem die Kaugeräusche seiner Mutter kaum ertragen. „Wir waren ziemlich am Ende. Das war eine Riesenbelastung“, beschreibt Andreas Seebeck.
Zusätzlich quälen oft Schuldgefühle
Übrigens ist es typisch, dass sich Misophonie meist nicht auf fremde Menschen – etwa in der Kantine oder der Pizzeria – bezieht, sondern auf nahe stehende Personen. „Das ist für alle Beteiligten wirklich sehr belastend, weil es häufig Menschen sind, die man liebt und mit denen man viel Zeit verbringt“, sagt Anne Möllmann.
Wenn man den Eindruck hat, sein Gegenüber wegen Essensgeräuschen nicht mehr ertragen zu können, läuft das oft auf starke Schuldgefühle hinaus. Vor allem dann, wenn man diese negativen Gefühle gegenüber Partner oder Partnerin empfindet.
Inzwischen wissen die Forschenden jedoch, dass Misophonie kein Zeichen für Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen ist, die sich über Jahre aufgestaut haben. Bereits Kinder können betroffen sein. Anne Möllmann führt dazu aktuell eine Studie durch, die sich speziell an Kinder und Eltern richtet.
Die Ursachen sind noch unklar
Denn viele Fragen sind noch offen – zum Beispiel die, warum bestimmte Geräusche für einige Menschen zum Horror werden. Klar ist laut Anne Möllmann: Das Beschwerdebild stamme nicht von den Ohren. Eher scheine es Unterschiede bei der Verarbeitung der Geräusche auf dem Weg zum Gehirn zu geben. Dabei können starke Reaktion entstehen, „die völlig unangemessen sind für das, was passiert“.
Nach Ansicht von Andreas Seebeck scheint auch eine klassische Konditionierung, also ein erlerntes Reiz-Reaktions-Muster, eine Rolle zu spielen. Dafür verantwortlich könnte eine typische Situation am Esstisch sein: wenn die Kinder sitzenbleiben müssen, obwohl sie schon fertig sind – und dann schlechte Laune bekommen.
„Wenn sie dann nur die Kaugeräusche der Familienmitglieder hören, führt dies einfach zu einer Sensibilisierung genau jener Geräusche, die sie dann hören.“ Was natürlich nichts damit zu tun habe, dass man die Person, die dort leise vor sich hin schmatzt oder knuspert, nicht mag.
Der allererste Schritt, um langfristig Misophonie zu verhindern, sei daher Seebeck zufolge ganz leicht: „Die Eltern müssten nur ihren Kindern erlauben, vom Tisch aufzustehen. Da würden ganz, ganz viele Fälle einfach vermieden.“
Denn Seebeck ist überzeugt, dass Betroffene Situationen mit unangenehmen Essensgeräuschen nicht lernen müssen auszuhalten. Zwar werden Angsterkrankungen verstärkt, wenn man bestimmte Situationen vermeidet. Bei der Misophonie sei das jedoch anders, so Seebeck. Denn je länger Misophoniker der Essenssituation ausgesetzt seien, umso mehr spürten sie eine „unendliche Wut„.
Mit Kopfhörern am Essenstisch
Was also kann man gegen Misophonie am Esstisch tun? Anne Möllmann berichtet, dass Kopfhörer, Ohrstöpsel oder Hintergrundmusik vielen Betroffenen helfen – zumindest vorübergehend.
Grundsätzlich müsse man in der Familie oder Partnerschaft gemeinsam überlegen, wie sich die Essenssituation gestalten lasse, damit die Betroffenen sie besser aushalten.
Einige Familien essen getrennt. „Es ist keine günstige Strategie, weil die Menschen diese Zeit grundsätzlich lieber zusammen verbringen würden. Aber wir raten auch nicht davon ab, wenn es phasenweise nicht anders geht“, sagt Möllmann.
Leidensdruck für die Betroffenen sehr hoch
Weil der Leidensdruck für die Betroffenen sehr hoch sei, hält die Wissenschaftlerin eine psychotherapeutische Behandlung für sinnvoll. „Auf jeden Fall sollte man dieses Krankheitsbild ernst nehmen„, sagt sie. Denn inzwischen hat die Forschung festgestellt, dass eine unbehandelte Misophonie zu Begleit- und Folgeerscheinungen führen kann. Durch sie können zusätzlich auch soziale Ängste und Depressionen entstehen.
Wenn du akut depressive oder Suizid-Gedanken hast, wende dich an die Telefonseelsorge online oder unter Tel. 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222 oder 116123. Auch die Deutsche Depressionshilfe unter Tel. 0800 / 33 44 533 hilft. In Notfällen kontaktiere bitte die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter Tel. 112.
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