Seit Wochen dauert in Berlin ein Klima-Hungerstreik an: Die Aktivist:innen wollen den Kanzler zu einer Regierungserklärung bewegen. Eine Regierungssprecherin spricht von „Erpressung“ – eine Protestforscherin sieht das anders.
Mehrere Aktivist:innen der Kampagne „Hungern bis ihr ehrlich seid“ sind seit Wochen in Berlin im Hungerstreik und teils schwer gesundheitlich angeschlagen. Sie fordern von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Regierungserklärung. Darin soll der Kanzler unter anderem sagen, dass die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre schon jetzt zu hoch und kein CO2-Budget mehr übrig sei. Ein bekannter Aktivist wurde für kurze Zeit in ein Krankenhaus eingeliefert, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) am Dienstag berichtete.
Der Bundeskanzler hatte zuletzt an die Teilnehmer:innen des Klima-Hungerstreiks appelliert, ihre Aktion abzubrechen. Das sei sein Wunsch, sagte der SPD-Politiker kürzlich bei einem von der Thüringer Allgemeinen organisierten Bürgergespräch. Auf die Ziele der Aktivist:innen ging Scholz nur indirekt ein.
Scientists for Future haben die Forderungen der Streikenden als „wissenschaftlich solide und vernünftig“ bezeichnet. Doch die Protestform „Hungerstreik“ gilt als umstritten. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Aktion etwa als „Fehler“ bezeichnet und erklärt: „Gewalt gegen sich selber ist nicht gut für die Demokratie.“ Auf Anfrage von Zeit Online erklärte eine Regierungssprecherin am Montag, dass der Kanzler und die Bundesregierung würden sich nicht erpressen lassen. Auch andere Medien hatten zuvor schon diskutiert, ob ein Hungerstreik eine Form von Erpressung sei.
Utopia hat anlässlich der Vorwürfe bei der Protestforscherin Lena Herbers nachgefragt. Sie forscht am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zu zivilem Ungehorsam – auch aus Perspektive der Rechtsprechung. Eine „Erpressung“ sieht sie im Hungerstreik nicht – er sei ein legitimes Mittel der Demokratie. Im Vergleich zur Forderung sei der Protest trotzdem drastisch.
Protestforscherin: Hungerstreik ist „moralischer Druck“, keine Erpressung
Protestforscherin Herbers bezeichnet die Ziele des Hungerstreiks als „überschaubar“ und „ausschließlich symbolisch“. Der Bundeskanzler soll lediglich darauf aufmerksam machen, dass die Lage dramatisch und ein dringendes Umsteuern nötig ist – konkrete Maßnahmen würden nicht gefordert. Eine Regierungserklärung hätte auch keine juristisch bindende Wirkung. „Im Vergleich zu diesem Ziel wirkt das Mittel des Hungerstreiks sehr drastisch“, urteilt die Expertin.
Dem Vorwurf einer „Erpressung“ stimmt sie aber nicht zu. Die Form des Protests würde „moralischen Druck“ erzeugen, der auch dadurch zunehme, dass der Hungerstreik immer weiter andauere und der Gesundheitszustand der Streikenden mit längerer Fortdauer kritischer werde. Auch seien Hungerstreiks eine „sehr eindringliche Form des Protests“, denn die Aktivist:innen würden bewusst ihre körperliche Unversehrtheit gefährden.
„Dennoch handelt es sich im juristischen Sinne um keine Erpressung, denn die Regierung bzw. der Bundeskanzler sind ja frei darin, auf die Forderung einzugehen oder dies nicht zu tun“, so Herbers. Er wird zwar unter Druck gesetzt, aber nicht durch Drohungen mit Gewalt gegen ihn oder eine nahestehende Person. Wäre dies der Fall, hätte er nicht wirklich die Wahl. Aktuell können nur die Hungerstreikenden selbst zu schaden kommen. Auch das könnte Herbers zufolge „politisch skandalisiert werden“ – doch Scholz könne selbst entscheiden, ob er dieses Risiko eingehen will. Auch das Motiv einer Bereicherung der „Erpresser:innen“ ist nicht gegeben.
Die Expertin betont außerdem: „Im Gegensatz zu anderen Protestformen wie Straßenblockaden beeinträchtigt der Hungerstreik andere Menschen nicht. Weil er niemand anderem schadet, ist er auch legitim.“
Die Aktivist:innen von „Hungern, bis ihr ehrlich seid“ leben in einem Zeltcamp am Bundeswirtschaftsministerium. Einer von ihnen, Wolfgang Metzeler-Kick aus München, hungert bereits seit fast einem Vierteljahr. Er hatte seine Aktion am 7. März begonnen, die anderen folgten nach und nach. Zuletzt nahm Metzeler-Kick noch Salz, Wasser und auch Vitamin B zu sich. Am Sonntag kündigten die Protestierenden an, die Aufnahme von Flüssigkeit einstellen zu wollen. Dies würde nach wenigen Tagen zum Tod führen. Am Dienstag wurde bekannt, dass der Aktivist in ein Krankenhaus eingeliefert wurde – er litt der dpa zufolge an einem Kreislaufkollaps, sein Zustand habe sich aber nach Gabe einer Elektrolytlösung stabilisiert. Wie die Nachrichtenagentur berichtet, sei Metzeler-Kick inzwischen ins Camp der Aktivist:innen zurückgekehrt.
Wie groß sind die Erfolgsaussichten von Hungerstreiks?
Blickt man zurück in der Geschichte, gibt es zahlreiche Beispiele für Menschen, die mittels Hungerstreiks versuchten, Ziele durchzusetzen. Mahatma Gandhi verweigerte etwa in den 1930er und 1940er Jahren mehrfach wochenlang Nahrung, um Indien (erfolgreich) vor einem Bürgerkrieg zu bewahren. Auch Häftlinge nutzen die Methode immer wieder, um gegen die Haftbedingungen vorzugehen oder auf ihre Lage aufmerksam zu machen – so etwa die inhaftierte iranische Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi. Lena Herbers sieht in dem Vorgehensweise ein „klassisches ‚letztes Mittel‘ des Protests“.
„Durch die Selbstgefährdung, die mit dem Hungerstreik einhergeht, verweisen die Streikenden auf ihre feste Überzeugung beziehungsweise die große Ernsthaftigkeit ihres Protests“, erklärt die Forscherin. „Sie sind bereit, ihre eigene Gesundheit und möglicherweise ihr Leben zu opfern, um auf ihre politischen Ziele aufmerksam zu machen.“
Doch wie groß sind die Erfolgsaussichten eines solchen Unterfangens? Das hängt wohl von dem Ziel der Aktivist:innen von „Hungern bis ihr ehrlich seid“ ab. Herbers sieht es darin, zu vermitteln, dass es bei dem Protest um ein größeres Problem geht – nämlich die Klimakrise. Gleichzeitig würden die Aktivist:innen deutlich machen, dass sie wegen des Nicht-Handelns der Politik subjektiv keine andere Wahl mehr hätten als ihren Körper als Protestmittel zu nutzen und sich selbst zu gefährden. „Damit schaffen sie Aufmerksamkeit für ihren Protest und die damit zusammenhängenden Ziele. Dies könnte durchaus als Erfolg gewertet werden.“, so die Forscherin.
Sind Hungerstreiks ein angemessenes Mittel?
Hungerstreiks sind also eine effektive Protestform – aber sind sie auch angemessen? Immerhin gefährden sie Menschenleben.
„Inwieweit ein Hungerstreik angemessen ist, unterliegt gesellschaftlichen Aushandlungen, die sich auch im Laufe der Zeit verändern können“, erklärt Herbers gegenüber Utopia. Sie nennt die Proteste gegen Atomenergie als Beispiel. Diese Erfuhren nach Ereignissen wie Tschernobyl und Fukushima großen Zuwachs und hatten schließlich den Atomausstieg Deutschlands zur Folge. Die gesellschaftlichen Aushandlungen zum aktuellen Hungerstreik seien noch nicht abgeschlossen.
Sie gibt jedoch zu bedenken, dass verschiedene Gruppen der Klimabewegung bereits mit unterschiedlichen Mitteln versucht haben, eine Änderung der Klimapolitik anzustoßen. Unter anderem verweist die Protestforscherin auf die Schulstreik-Demos von Fridays for Future, Protestcamps von Ende Gelände oder Straßenblockaden der Letzten Generation. „Bisher haben sie [Anm. d. Red: die Aktivist:innen] damit trotz großer medialer Aufmerksamkeit im Hinblick auf ihre Forderungen wenig Erfolg gehabt.“
Scholz geht nicht auf Forderungen ein
Der Bundeskanzler ist bisher nicht auf die Forderungen der Aktivist:innen eingegangen. Eine Bürgerin fragte Scholz bei dem öffentlichen Gespräch in Erfurt konkret, ob er die Aussage für Fakt oder Meinung halte, dass die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre schon jetzt zu hoch ist und kein CO2-Budget mehr übrig sei. Mit einer Aussage könne er womöglich den Hungerstreik beenden. Scholz antworte jedoch nicht direkt. Er bekräftigte lediglich, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass es einen menschengemachten Klimawandel gebe. Es sei das Ziel seiner Regierung, diesen Klimawandel aufzuhalten. Dabei behalte sie das Ziel im Blick, die Erderwärmung möglichst bei 1,5 Grad zu stoppen.
Aber aus der Wissenschaft ergebe sich kein Automatismus. „Was wir politisch wollen, muss in einer Demokratie miteinander diskutiert werden“, sagte Scholz. Man könne Entscheidungen nicht erzwingen, indem man sage, man esse nichts mehr. Man könne sie auch nicht Gerichten überlassen. „Wir müssen für das, was wir richtig finden, Mehrheiten bei den Bürgerinnen und Bürgern gewinnen. Das kommt nicht von außen.“
Aktuell sieht es nicht so aus, als ob Deutschland seine Klimaziele erreichen wird. Denn anders als Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) sieht das wichtigste Klima-Expertengremium der Bundesregierung Deutschland nicht auf Kurs beim Klimaschutz. Man gehe von einer Verfehlung des Treibhausgas-Minderungsziels für das Jahr 2030 aus, erklärte der Vorsitzende des Expertenrats für Klimafragen, Hans-Martin Henning, in einer am Montag in Berlin veröffentlichten Mitteilung.
Weitere Quellen: Zeit Online
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