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Protestforscherin über die Letzte Generation: Wo sind die ethischen Grenzen?

Protestforscherin im Utopia-Interview: Müssen wir der Letzten Generation dankbar sein?
Foto: Privat, Foto: Kay Nietfeld/dpa

Die Letzte Generation blockiert seit Montag in großem Stil den Verkehr in Berlin. Seit Protestbeginn hagelt es Kritik – auch zuvor war die Organisation schon umstritten. Zu Recht? Utopia hat bei der Protestforscherin Lena Herbers nachgefragt.

Klimaaktivist:innen der Letzten Generation haben seit Wochenstart mit Blockaden den Verkehr in Berlin enorm gestört. Laut Polizeiangaben gab es alleine am Montag 42 Straßenblockaden; am Dienstag waren es 22 Aktionen, an denen Klimaaktivist:innen auf der Straße standen, dort festgeklebt waren oder Transparente hielten. Laut der Berliner Feuerwehr gab es in der Stadt „unzählige Behinderungen“ für Rettungsfahrzeuge. Das erklärte Ziel der Letzten Generation ist es, „die Regierung zum Aufbruch zu bewegen“. Die Protestierenden fordern von der Regierung ein Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket – sowie grundsätzlich mehr Klimaschutz.

Versteckte Absicht?

Vor und während der Proteste hagelte es Kritik für die Organisation. Die Bundesregierung hat die verstärkten Aktionen kritisiert und betont, so viel für den Klimaschutz wie keine Regierung vor ihr getan zu haben. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) sprach schon im Vorfeld von „rechtswidrigen Blockaden und Nötigungsversuchen“. Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und die Klimaschutzorganisation Fridays for Future hatten das Vorgehen der Letzten Generation kritisiert und warfen ihr vor, die Gesellschaft zu spalten.

Utopia hat anlässlich der Vorwürfe bei der Protestforscherin Lena Herbers nachgefragt. Sie forscht am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zu Aushandlungsprozessen und zivilem Ungehorsam und vergleicht dabei juristische und aktivistische Dokumente der letzten 50 Jahre. Eine Spaltung der Gesellschaft kann sie nicht erkennen. Stattdessen vermutet sie eine versteckte Absicht hinter den Anschuldigungen.

Rettungswagen blockiert: „Man sollte nicht mit zweierlei Maß messen“

Utopia: Die Letzte Generation hat am Mittwoch mit Protestmärschen in der Berliner Innenstadt begonnen. Die ganze Hauptstadt soll dabei „zum Stillstand“ gebracht werden, unter anderem durch Straßenblockaden. Wieso weitet die Organisation ihre Protestaktionen gerade jetzt aus?

Lena Herbers: Durch die Ankündigung, Berlin lahmlegen zu wollen, schafft die Letzte Generation viel Aufmerksamkeit. Einerseits kann sie Aktivist:innen mobilisieren und andererseits erhalten sie durch diese Ankündigung viel Aufmerksamkeit, auch in den Medien. Auf diese Weise bleiben die Klimaaktivist:innen und das Thema ihres Protests im öffentlichen Bewusstsein. Es ist auch ein Versuch, eine gewisse Drohung aufzubauen, den Druck aufrecht zu erhalten und so Politiker:innen dazu zu bringen, auf ihre Forderungen einzugehen. 

Utopia: Nach Angaben von Innensenatorin Iris Spranger (SPD) standen am Montag wegen Straßenblockaden 17 Rettungswagen im Stau. In 7 Fällen sollen die Einsatzkräfte auf dem Weg zum Notfallort gewesen sein. Muss das im Rahmen von Klimaschutzprotest in Kauf genommen werden?

Herbers: Grundsätzlich sollte der Protest natürlich nicht dazu führen, dass Rettungswagen blockiert werden. Dennoch sollte man hier auch nicht mit zweierlei Maß messen. Leider stehen durch Staus aus unterschiedlichen Gründen häufig auch Rettungswagen im Stau. Das wird aber als normal empfunden. Wichtig ist, dass die Aktivist:innen ebenso wie die im Stau stehenden Autofahrer:innen Rettungsgassen freihalten.

Utopia: Dennoch werden reguläre Staus meist nicht bewusst herbeigeführt. Es macht doch einen Unterschied, wenn Menschen durch wissentlich provozierte Staus womöglich zu Schaden kommen, weil der Rettungswagen blockiert wird – oder wenn ein Stau durch einen Unfall oder erhöhtes Verkehrsaufkommen entsteht?

Herbers: Die Proteste der Aktivist:innen sind als Versammlungen auch vom Grundgesetz gedeckt. Grundsätzlich gilt: Protest und Versammlungen sind ein wichtiger Teil der Demokratie, weshalb sie besonders geschützt sind. Staus beispielsweise müssen daher hingenommen werden. Dennoch sollte natürlich vermieden werden, dass Rettungsfahrzeuge nicht fahren können. An dieser Stelle ist aber auch die Polizei gefragt.

Protestforscherin über Bürgerrechtsbewegung: „Hatte Mehrheit der Bevölkerung nicht hinter sich“

Utopia: Was darf Protest und sollte er ethische Grenzen kennen?

Herbers: Was Protest darf und wie weit er gehen kann, unterliegt gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, die sich auch im Laufe der Zeit ändern können. So galten beispielsweise Sitzblockaden als friedliches Protestmittel, mittlerweile wird das teilweise anders gesehen und auch in der Rechtswissenschaft werden sie als Gewalt eingeordnet. Es gibt eine Reihe von richterlichen Entscheidungen, die dazu geführt haben, dass vermeintlich friedliche Sitzblockaden als gewaltvoll und damit als Nötigung im Sinne des § 240 Strafgesetzbuchs (StGB) eingeordnet werden können.

Blickt man in die Geschichte sozialer Bewegungen wurden diese teils heftig kritisiert und als zu weitgehend ungerechtfertigt eingeordnet, das gilt auch für ihren Protest. Blickt man heute auf Bewegungen wie die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, kann deren Legitimität wohl kaum in Frage gestellt werden. Aber damals hatte sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich und ihr Protest war der deutlichen Kritik von Zeitgenöss:innen ausgesetzt.

Utopia: Befinden wir uns gerade in einem Aushandlungsprozess darüber, was Protest darf? Falls ja: Wie sieht dieser Prozess aus?

Herbers: Auf jeden Fall! Das ist aber kein Prozess, der erst seit Kurzem läuft. Auf politischer Ebene wurde jahrelang um die Legitimität und konkrete Ausgestaltung von Klimaschutzmaßnahmen gerungen. Man hat sich dann mit etlichen schmerzlichen Kompromissen auf dem Pariser Klimagipfel geeinigt. Politische Entscheidungsträger:innen versuchen nun seit Jahren diesen Kompromiss zu unterlaufen. Die erste Version des Klimaschutzgesetzes wurde sogar vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft, weil sie nicht weitgehend genug war.

Die Aktivist:innen machen mit ihrem Protest auf den Missstand aufmerksam, dass die politischen Maßnahmen nicht ausreichen, und konfrontieren uns als Gesellschaft wieder und wieder mit der drohenden Klimakatastrophe und einer unzureichenden Politik – alles auch wissenschaftlich belegt. Aber viele Menschen möchten sich damit nicht auseinandersetzen. Die andere Position ist, dass formal alles getan wird, was möglich ist. Wer hier letztlich die Deutungshoheit beanspruchen kann, ist meiner Meinung nach noch offen.

„Value-Action-Gap“: Wieso Umweltschutz nicht gelebt wird

Utopia: Viele Deutsche sorgen sich wegen der Klimakrise und sind für mehr Klimaschutz. Doch wenn es um Tempolimits geht oder um Windräder in der Nähe, gibt es Proteste gegen diese Klimaschutzmaßnahmen. Wieso befürworten Menschen diese oft nicht mehr, wenn es ihre eigene Lebensrealität betrifft?

Herbers: Das ist ein vielschichtiger Themenkomplex. Die Tatsache, dass viele Menschen zwar sehr umweltbewusst sind, in der Praxis dann aber umweltschädlich handeln, ist in der Umweltsoziologie bereits seit den 1990er Jahren bekannt. Es gibt verschiedene Ansätze diese sogenannte „Value-Action-Gap“ zu erklären.

Utopia: Die wären?

Herbers: Die Lebensrealität der Menschen ist strukturell nicht auf Klima- und Umweltschutz ausgelegt. Materieller Wohlstand wird kulturell als hohes Gut verstanden und die negativen Folgen dieses Lebensmodells werden häufig kognitiv ausgeklammert. Beschränkungen dieser Lebensweise verstehen einige dann als Angriff auf ihren persönlichen Lebensentwurf.

Man kann aber dennoch nicht sagen, dass die Menschen Windräder in ihrer Nähe generell ablehnen. Es gibt zum Beispiel einige Orte, die Windräder in Eigenregie – unabhängig von großen Energiekonzernen – gebaut haben. So steht zwar ein Windrad auf der Gemeindefläche, aber die Anwohner:innen profitieren ganz direkt. Sie bekommen kostengünstigen Strom oder werden an den Gewinnen des Stromverkaufs beteiligt. 

Utopia: Sie sagen, die negativen Folgen unseres Lebensstils werden häufig ausgeklammert. Die Letzte Generation zwingt die Menschen aber, sich mit diesen – zumindest in Bezug auf die Klimakrise zu befassen. Müssten wir der Letzten Generation dafür dankbar sein?

Herbers: Die Aktivist:innen haben dazu beigetragen, dass das Thema der Klimakrise weiter in der öffentlichen Debatte sehr präsent ist – trotz anderer Krisen wie dem Krieg in der Ukraine oder der Inflation. Das schaffen sie jetzt seit etwa einem Jahr. Allerdings wollen sie mit ihren Aktionen weniger die Verbraucher:innen erreichen, sondern eher die Entscheidungsträger:innen. Sie appellieren ja nicht an die Menschen, ihr Auto stehen zu lassen, sondern an die Politiker:innen, ein 9-Euro-Ticket und ein Tempolimit einzuführen.

Utopia: Trotzdem sind durch die Straßenblockaden nicht die Bundesminister:innen die Leidtragenden, sondern die Bürger:innen. Sie werden auf dem Weg zur Arbeit oder zu einem Arzttermin behindert. Es ist daher doch wahrscheinlich, dass die öffentliche Stimmung gegenüber den Klimaaktivist:innen kippt?

Herbers: Die vielfältigen emotionalen Reaktionen auf die Aktionen der Letzten Generation zeigen, dass viele die Mittel des Protests kritisch sehen. Gleichzeitig ist es ja auch nicht so, dass vor den Protesten die öffentliche Stimmung gegenüber einschneidenden Klimaschutzmaßnahmen total positiv gewesen wäre. Man kann hier wie in einem Brennglas sehen, welche politischen Konflikte durch die Klimakrise ausgekämpft werden müssen – die Kritik an den Protesten der letzten Generation ist ein Teil dieser Aushandlungen.

Protest kann Menschen von Maßnahmen gegen den Klimawandel überzeugen

Utopia: Kann der Protest der Letzten Generation auf lange Sicht dazu beitragen, die Gesellschaft zum Umdenken zu bringen?

Herbers: Letztendlich ist der Protest kaum dazu geeignet, Personen von der Notwendigkeit des Kampfs gegen die Klimakrise zu überzeugen. Proteste sind also nicht das Mittel, um Mehrheiten zu schaffen. Dennoch können sie dazu beitragen, die Einstellung der Menschen hinsichtlich der Klimapolitik zu beeinflussen und von Maßnahmen gegen den Klimawandel zu überzeugen.

Utopia: Wie das?

Herbers: Durch die Proteste wird eine öffentliche Debatte angestoßen, in den Medien, aber auch im kleineren Rahmen wird darüber diskutiert. Menschen setzen sich mit dem Protest und seinem Inhalt auseinander. Auch wenn Menschen nicht mit den konkreten Formen des Protests einverstanden sind, kann er dazu beitragen, dass sie ihre Einstellung verändern. Das zeigt eine Studie aus Großbritannien, in der es um die Proteste von Extinction Rebellion geht.

Utopia: Könnten Sie kurz zusammenfassen, inwiefern laut der Studie eine Änderung der Einstellungen stattgefunden hat?

Herbers: Forscher:innen stellten fest, dass die Bevölkerung in Gebieten in Großbritannien, in denen politische Aktionen von Extinction Rebellion in den letzten Jahren stattgefunden hatten, ihr Bewusstsein in Bezug auf die Klimakrise veränderte. Der Protest konnte die Einstellung der Öffentlichkeit zu nachhaltigem Verhalten und ihre Bereitschaft, einer Politik zur Eindämmung des Klimawandels zuzustimmen, beeinflussen.

„Eine Spaltung kann ich nicht erkennen“

Utopia: Unter anderem Fridays for Future hat der Letzten Generation vorgeworfen, die Gesellschaft zu spalten. Ist der Vorwurf berechtigt?

Herbers: Eine Spaltung der Gesellschaft in Bezug auf die Proteste der Letzten Generation kann ich nicht erkennen, auch wenn es natürlich unterschiedliche Einstellungen zum Klimaschutz und auch zu den gegenwärtigen Protesten gibt, die konträr zueinander sind. 

Der Vorwurf der „Spaltung“ wird immer wieder verwendet, um die Mittel anderer Akteure zu kritisieren. Damit wird versucht, den Aktivist:innen und ihrem Protest die Legitimität abzusprechen. Man kann aber erst einmal fragen: Welches Ganze soll es denn vorher gegeben haben, das nun von Spaltung bedroht ist? Von einem Konsens zum Klimaschutz oder Ähnlichem kann ja auch vor den Protesten der Letzten Generation nicht die Rede gewesen sein.

Pessimistisch gesprochen kann man sagen, dass es der Klimabewegung seit dem Klimaabkommen von Paris nicht gelungen ist, wenigstens dessen Einhaltung durchzusetzen – egal mit welchen Mitteln es versucht wurde. Optimistischer könnte man sagen, dass gerade die Vielfalt an Gruppierungen und Aktionsformen dazu geführt hat, dass immenser Druck aufgebaut und einige wegweisende politische Entscheidungen getroffen wurden und das Thema der Klimakatastrophe allgegenwärtig geblieben ist.

Utopia: Ist der Protest der Letzten Generation aus Ihrer Sicht problematisch oder gar undemokratisch?

Herbers: Nein, aus meiner Sicht ist der Protest der Letzten Generation demokratisch, denn die Aktivist:innen übertreten zwar rechtliche Grenzen, indem sie Straftaten begehen. Aber sie entziehen sich keineswegs einer Bestrafung, sondern nehmen sie im Gegenteil für ihren Protest in Kauf. Darüber hinaus appellieren sie an die gewählten und demokratischen Entscheidungsträger:innen und fordern sie zum Handeln auf. Damit bleiben sie ganz klar innerhalb demokratischer Strukturen. 

Hinzu kommt, dass auch die Geschichte zeigt, dass wichtige Veränderungen häufig das Ergebnis von Protesten waren – zum Beispiel beim Kampf um Frauenrechte, Rechte von Geflüchteten, Arbeiter:innen und so weiter. Protest auch in Form von zivilem Ungehorsam kann deshalb ganz klar dazu beitragen, Missstände innerhalb eines demokratischen Systems zu beseitigen.

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