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Kritik an Klimaprognose: Forschende fordern „Paradigmenwechsel“

Kritik an Klimaprognose: Forschende fordern "Paradigmenwechsel"
Foto: Cevin Dettlaff/dpa // CC0 / Unsplash - Jennifer Griffin

Forschende wollen ein neues Szenario zur Lösung der Klimakrise entwickeln. Sie sprechen von einem „Paradigmenwechsel“. Ihnen zufolge ließen die aktuell etablierten Modelle wichtige Faktoren außer Acht.

Ein internationales Team von Forschenden der Oregon State University in den USA fordert, einen ambitionierten neuen Pfad zur Lösung der Klimakrise zu entwickeln. Den Vorschlag hat das wissenschaftliche Fachmagazin Environmental Research Letters veröffentlicht. Darin heißt es, die bisherigen Szenarien des Weltklimarats (IPCC) betrachteten die globale Entwicklung zu einseitig. Durch den Fokus auf den Klimawandel würden andere Krisen vernachlässigt.

In einer Pressemitteilung der Universität sprechen die Forschenden von einem „Paradigmenwechsel“. Der wohl größte Unterschied ihres Vorschlags zu bisherigen Annahmen des IPCC: Statt auf „grünes Wachstum“ wollen die Forschenden auf eine Postwachstumsökonomie setzen – also auf ein Wirtschaftssystem, das auch ohne Wachstum funktionieren soll. Auch in anderen Aspekten, wie dem des Fleischkonsums und des Einsatzes neuer Technologien, wollen die Wissenschaftler:innen aus Oregon von den Pfaden abweichen, die das IPCC üblicherweise betrachtet.

Die Kritik am SSP1-Szenario

Der Weltklimarat nutzt verschiedene Szenarien, um vorherzusagen, um wie viel Grad sich die Erde unter bestimmten Voraussetzungen erwärmen würde. Der Pfad mit den geringsten Klimaschäden wird als SSP1-1.9 bezeichnet. Es ist die einzige Prognose im aktuellen IPCC-Bericht, bei der die Erderwärmung bis 2100 auf unter 1,5 Grad gegenüber vorindustriellem Niveau beschränkt und damit das Pariser Klimaziel verfolgt werden würde.

Die Forschenden aus Oregon haben jedoch an diesem Szenario einiges auszusetzen. Das sind ihre Hauptkritikpunkte:

  • Die SSP1-Prognose nimmt ein weiterhin steiles Wirtschaftswachstum von rund 26 Prozent pro Jahrzehnt an. Die Wissenschaftler:innen hinterfragen, ob dies wirklich ein wünschenswerter Weg ist. Schließlich sei sozialer Fortschritt auch ohne Wirtschaftswachstum möglich.
  • Das SSP1-Szenario setzt sehr stark auf Carbon-Capture-Verfahren. Dabei soll Kohlendioxid (CO2) entweder aus der Atmosphäre entfernt oder an der Emissionsquelle abgeschieden, aufbereitet, komprimiert und an einer Speicherstätte aufbewahrt werden, damit es nicht in die Atmosphäre gelangt. Die dafür benötigten Technologien befinden sich aber gerade erst noch in frühen Phasen der Entwicklung. Die Forschenden finden, es gebe noch zu große Unsicherheit, ob diese wirklich im gewünschten Maße funktionieren werden. Sich darauf zu verlassen, würde ein „falsches Gefühl der Sicherheit“ erzeugen.
  • Ebenfalls kritisch sehen die Forschenden den steigenden Bedarf an Ackerflächen in der SSP1-Prognose. Dies würde der Biodiversität und der Umwelt sehr schaden, da es wahrscheinlich mit Waldrodung, Bodenverschmutzung oder hohem Wasserverbrauch einhergehe. Die Forschenden schlagen eine Reduktion des Fleischkonsums vor. Schließlich wird ein großer Teil der landwirtschaftlichen Nutzflächen für Tierfutter genutzt.
  • Auch der steigende Ausstoß von Distickstoffmonoxid (N2O, auch als Lachgas bekannt) macht den Forschenden Sorgen. Denn obwohl es sich dabei auch um ein Treibhausgas handelt, werde es bisher „gefährlich vernachlässigt“, heißt es in dem Vorschlag. Auch deshalb raten die Wissenschaftler:innen dazu, den Fleischkonsum zu reduzieren, was den N2O-Ausstoß verringern würde.
  • Das SSP1-Szenario habe zwar den Klimawandel im Blick, vernachlässige jedoch viele weitere Krisen, zum Beispiel den Verlust von Biodiversität, Wasser- und Lebensmittelknappheit, zivile Unruhen, Kriege, Umweltverschmutzung und mögliche Pandemien. Diese ließen sich durch eine ganzheitliche Betrachtung von Umweltfolgen sowie Förderung sozialer Gerechtigkeit abfedern.

Der „wiederherstellende Pfad“

Zwar sei das SSP1-Szenario laut den Forschenden aus Oregon eine durchaus sinnvolle Darstellung eines möglichen grünen Wachstumspfads. Doch aufgrund der genannten Kritikpunkte sollten auch Alternativen stärker berücksichtigt werden, finden sie. Basierend auf Daten der letzten 500 Jahre haben die Wissenschaftler:innen die Idee für ein „ganzheitliches, wiederherstellendes Szenario“ entwickelt, das keine Carbon-Capture-Technologien benötige und vor allem auf „radikalen Inkrementalismus“ setzt. Gemeint ist damit ein langfristig radikaler Wandel, der durch sehr viele kleine kurzfristige Schritte erreicht werden soll.

Das SSP1-Szenario diene dabei neben weiteren bereits bestehenden Nachhaltigkeitsszenarien als Basis. Der Fokus des „wiederherstellenden Pfads“ liegt demnach auf dem Erhalt der Natur, einer Postwachstumsökonomie, hoher Lebensqualität, Gleichberechtigung, hohen Bildungsstandards für Mädchen und Frauen, dem effizienteren Einsatz von Dünger, einer Ernährungsumstellung mit deutlich weniger Fleisch sowie auf einem rasanten Umstieg auf erneuerbare Energien.

Konkrete Maßnahmen stehen noch aus

Konkretere Maßnahmen nennen die Forschenden in ihrem Vorschlag bislang nicht. In einem Interview mit Bloomberg nannte William Ripple, leitender Autor des wissenschaftlichen Artikels, zumindest eine Idee: „Es könnte eine globale CO2-Steuer geben. […] Das würde die fossilen Emissionen verringern und dabei helfen, den Wohlstand zu verteilen, weil Reiche dann mehr Steuern zahlen müssten.“

Die genauen Emissionen des „wiederherstellenden Pfads“ seien noch nicht berechnet, so Ripple. Insgesamt solle er sich aber zumindest in dieser Hinsicht sehr am SSP1-Pfad orientieren. „Es gibt [in dem alternativen Szenario; Anm. d. Red.] einen drastischen Rückgang von Treibhausgasemissionen“, erklärt der Forscher gegenüber Bloomberg.

„Wir wissen, dass es eine große Herausforderung ist, unser vorgeschlagenes Szenario anzuwenden, wenn man sich die Emissionstrends, den mangelnden politischen Willen und die weitverbreitete Leugnung [der Klimawandel] ansieht“, heißt es in dem von Ripple und seinem Team verfassten Vorschlag. Dennoch sei es wichtig, eine Lösung aufzuzeigen, die nicht nur die Erderwärmung, sondern auch andere Krisen, wie das Artensterben oder soziale Unruhen eindämmen würde.

In der Pressemitteilung der Universität forderten die Forschenden deshalb, ein solches Szenario in den kommenden IPCC-Berichten zu berücksichtigen.

Verwendete Quellen: Oregon State University, Environmental Research Letters, IPCC, Bloomberg

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