Soziale Ängste schränken das Leben der Betroffenen extrem ein – zu groß ist die Sorge, beurteilt zu werden. Auch Tierschutzaktivist Malte Zierden und Studentin Amia von Arenberg leiden unter diesen Ängsten – und haben sie in einem Kinderbuch niedergeschrieben. Im Interview mit Utopia erzählen sie von ihrem Umgang damit und erklären, warum Tiere dabei manchmal hilfreicher sind als Menschen.
Ob beim Einkaufen im Supermarkt oder dem Heimweg: Soziale Ängste können das Leben enorm erschweren. Betroffene fürchten sich dabei oft vor Bewertung durch andere Menschen und werden durch diese Angst massiv in ihrem gesellschaftlichen Leben eingeschränkt. Tierschutzaktivist Malte Zierden und Biologie-Studentin Amia von Arenberg kennen das nur zu gut. Gemeinsam veröffentlichten sie das Kinderbuch „Malte & Oßkar und das Glück, Pech zu haben“, in dem der Protagonist Malte mit eben diesen Ängsten zu kämpfen hat (Utopia berichtete).
Angelehnt ist das Buch an die reale Freundschaft zwischen Zierden und der Stadttaube Oßkar, die in den Sozialen Medien von einem Millionenpublikum verfolgt wird. Zierden richtete der Taube sogar ein Wohnzimmer im Miniaturformat auf dem Sims seines Badezimmerfensters ein. Auf TikTok, Instagram und YouTube ist er auch für die Rettung zurückgelassener Hunde aus Krisengebieten in der Ukraine bekannt. Im Gespräch mit Utopia erzählen Malte Zierden und Amia von Arenberg von ihren eigenen Angstmomenten im Alltag, warum Tiere manchmal die bessere Gesellschaft sind, und verraten auch Details zum Buch.
Utopia: In eurem neuen Kinderbuch wird die Freundschaft zu der Taube Oßkar mit dem Thema Angst verknüpft. Was haben Tauben mit Sozialen Ängsten zu tun?
Malte Zierden: Tauben sind mitten in unserer Gesellschaft, aber sie sind kaum sichtbar. Genauso unsichtbar wie Tauben sind Soziale Ängste. Du läufst durch die Gegend und siehst andere Menschen – aber du siehst nicht, ob sie irgendwelche Ängste in sich tragen. Außerdem sind Tauben abhängig von Menschen, sie sind abhängig von Gesellschaft – sie leben von uns und mit uns. Und so ist es auch mit Menschen, die Angst haben.
Amia von Arenberg: Ich finde das ist ein richtig passendes Bild. Tauben sind sehr schreckhaft und werden oft verscheucht. Sie sind aber trotzdem meistens mittendrin, oft an den absurdesten Orten. Damit kann ich mich ganz gut identifizieren. So fühlt sich das für mich manchmal auch an – so ein bisschen verirrt.
Ob beim Einkaufen oder dem Nachhauseweg: Ängste beeinflussen den Alltag
Utopia: Ihr beide habt mit Sozialen Ängsten zu kämpfen. Wie äußert sich das im Alltag?
Zierden: Bei mir ist es so, dass ich Angst vor Bewertung habe und Konfrontationen scheue. Das lösen vor allem charakterstarke Menschen oder Menschenmassen aus. Ich fange dann oft an zu schwitzen, bekomme Magengrummeln, Bauchschmerzen, körperliche Symptome – und alles durch Ängste, die teilweise nicht real sind. Hier in der Nachbarschaft wohnt zum Beispiel eine Person, die ein sehr lauter und aktiver Mensch ist. Wenn sie unten an der Tür steht, dann warte ich draußen vor der Straße, teilweise im strömenden Regen, bis sie weg ist. Ich weiß zwar, dass sie mir nichts tun wird – aber da ist eine Blockade in mir.
Von Arenberg: Ich hatte lange Angst davor, einkaufen zu gehen. Es gab eine Zeit, in der nur mein Freund einkaufen gegangen ist, weil ich mich nicht getraut habe. Erst gestern hatte ich auch einen Angst-Moment. Ich bin gerade mit dem Camper unterwegs und wollte meinen Laptop für dieses Interview laden, mich dafür in ein Café setzen und noch ein paar Daten hochladen für die zweite Auflage – aber ich konnte einfach nicht reingehen. Ich habe es nicht geschafft. Mein Freund hat das dann gemacht, was viel komplizierter war und viel länger gedauert hat, weil ich ihm alles erklären musste. Aber ich habe mich nicht wohl gefühlt und konnte deshalb nicht reingehen.
Utopia: Wie reagieren andere auf diese Ängste? Eher mit Verständnis oder Verwunderung?
Von Arenberg: Ich habe da einen sehr süßen Moment mit meiner Mama im Kopf. Sie hat früher immer versucht, mir Mut zu machen, beispielsweise beim Eisbestellen. Nach dem Motto: Mach das einfach, du packst das schon. Sie meinte das auch gar nicht böse. Aber solche kleinen Momente sorgen dann manchmal schon dafür, dass ich mich lächerlich fühle. Ich glaube dieses „einfach“ ist ein richtig schwieriges Wort in diesem Kontext. Mir hat mal jemand gesagt: Diese Dinge müssen nicht einfach sein. Du musst nicht einfach in die U-Bahn steigen, aber es ist gut, wenn du in die U-Bahn steigst. Und wenn es anstrengend ist und schwer und du deine ganze Energie dafür brauchst, ist das auch ok. Das so anzunehmen, hat mir sehr gutgetan. Umso bezeichnender ist es eigentlich, dass uns so ein „einfach“ in der ersten Auflage des Buches durchgerutscht ist und auf einer Seite auftaucht.
Tik-Tok-Star trotz Sozialer Angst?
Utopia: Das Internet ist bekanntlich ein Ort, an dem sehr viele Menschen ungefragt ihre Meinung abgeben. Herr Zierden: Auf Ihren Social-Medial-Kanälen folgt Ihnen ein Millionenpublikum. Wie gehen Sie damit um?
Zierden: Im Internet kann ich entscheiden was ich tue – und vor allem kann ich fliehen. Natürlich könnte man theoretisch auch im realen Leben einfach wegrennen, wenn man sich unwohl fühlt. Aber dann hätte man ja auch wieder Angst, dafür bewertet zu werden. So wird man manchmal in Situation gezwungen, die man einfach aushalten muss. Das ist im Internet anders. Seit ich den Tierschutz für mich entdeckt habe, habe ich im Internet aber auch nicht mehr so große Angst vor Bewertung, weil ich weiß: Ich habe meinen Anker, ich habe meinen Rückzugsort. Ich kann mich immer in die Arbeit mit den Tieren flüchten und mir sicher sein, dass sie mich nicht bewerten.
Utopia: Was hilft, wenn doch mal ein Angst-Moment entsteht?
Von Arenberg: Ich habe mir ganz, ganz viel Hilfe gesucht und das hat schon einiges geändert. Manchmal meide ich Situationen auch bewusst. Die Angst ist nicht immer gleich – es gibt bessere und schlechtere Phasen. Wenn ich gut schlafe, viel in der Natur bin, meine Batterien aufladen kann und mich mit verständnisvollen Menschen umgebe, fallen mir solche Situationen im Allgemeinen leichter. Ich habe auch einen Hund, Nevi, der mir dabei sehr hilft. Sie ist ein Angsthund und dadurch leiden wir in manchen Situationen gemeinsam. Andererseits habe ich auch oft Angst, was andere Leute denken, weil sie eben schnell gestresst ist und dementsprechend reagiert, also zum Beispiel bellt.
Utopia: Herr Zierden auch Ihnen hilft ein Tier im Umgang mit Ihren Ängsten: die Taube Oßkar. Inwiefern kann eine Taube eine Stütze sein?
Zierden: Oßkar hat mir gezeigt, dass einem die Nähe und die Arbeit mit einem Tier sehr viel geben können. Ich habe viel über mich selbst und meine Ängste gelernt, weil ich auch seine Ängste gesehen habe. Wochenlang habe ich versucht, ihm diese zu nehmen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mit ganz viel Geduld, Kraft, Liebe und Zuversicht mit ihm zusammenarbeiten kann. Und das hat mir auch den Spiegel vorgehalten im Umgang mit meiner Angst. Oßkar soll aber auch ein Symbol für die ganzen Tiere sein, mit denen ich arbeite. Dass sie dich nicht bewerten, diese bedingungslose Liebe – das gibt mir ganz viel Kraft. Manchmal mehr als die Gesellschaft von Menschen.
Amia von Arenberg: „Im Tierschutz steckt sehr viel Angst“
Utopia: Herr Zierden ist als Tierschützer an der Rettung von Hunden in der Ukraine beteiligt, Frau Von Arenberg studiert Biologie. Warum sind dennoch Soziale Ängste das zentrale Thema des Buchs geworden – und nicht etwa Tiere oder der Tierschutz?
Von Arenberg: Das Buch ist kein reines Tierschutzbuch, aber wir haben das Thema auf jeden Fall mit der Angst verbunden. Im Tierschutz steckt auch sehr viel Angst – sowohl bei den Tieren als auch bei den Menschen. Auch in unseren Gesprächen und unserer Ideenfindung war das Thema Angst am präsentesten – deshalb ist es das auch im Buch.
Zierden: Was wir uns auch von Anfang an gesagt haben, ist: Wir wollen nicht plakativ sein. Ängste sind nicht plakativ, sie sind sehr kompliziert. Genauso wie Tierschutz. Das Buch ist schon, ohne es auszusprechen, ein Tierschutzbuch. Es handelt nämlich von einer Tierart, die in unserer Gesellschaft nicht gesehen und zutiefst missverstanden wird. Ich für meinen Teil bin ein Riesenfan des Buchs „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende, weil sie auf so vielen Metaebenen so viele wichtige Aspekte behandelt. Das war auch unser Ziel. Amia und ich wollten eine Geschichte erschaffen. Die sollte ursprünglich auch viel härter werden. Erst in der Zusammenarbeit mit dem Oetinger Verlag ist daraus ein Bilderbuch für Kinder entstanden.
Malte Zierden: „Diese Welt braucht keine Superhelden-Geschichten mehr“
Utopia: Das Thema Angst wirkt auf den ersten Blick sehr schwer für ein Kinderbuch.
Zierden: Ja, das ist ein kompliziertes, schwieriges Thema. Da gäbe es mit Sicherheit viele Verlage, die gesagt hätten, sie wollen das nicht – sondern lieber etwas Glückliches, einfaches. Aber ich finde, diese Welt braucht keine Superhelden-Geschichten mehr. Wir brauchen nicht noch einen Spider-Man, der irgendwelche Bösewichte umbringt, und dann ist die Welt gerettet. Wichtiger sind Bücher darüber, wie man mit seinen eigenen großen Momenten im Leben umgehen kann. Bücher, die junge Menschen dabei begleiten. Deshalb haben wir bewusst so ein schweres Thema gewählt. Wenn von manchen Leser:innen jetzt die Kritik kommt, dass es schwer greifbar oder komplex ist, dann ist das okay für mich. Ich sehe das auch alles als Lernprozess. Immerhin ist es das erste Kinderbuch, dass wir beide geschrieben haben, und wir schauen mal, wie die Reise von Malte und Oßkar weitergehen kann.
Utopia: Also sind weitere Bücher geplant?
Zierden: In unserer Fantasie haben Malte und Oßkar schon sehr viele Reisen unternommen und sehr viele Dinge gesehen. Wir haben in unser Buch nicht so viel reinbekommen, wie wir ursprünglich wollten, sonst hätte es 700 Seiten gehabt. Dementsprechend gibt es schon Ideen, ja.
Hinweis: Wenn du akut unter starken Ängsten leidest und Unterstützung suchst, kannst du bei der Telefonseelsorge Hilfe finden: Unter der Telefonnummer: 0800/1110111 oder 0800/1110222. Alternativ gibt es das Chat-Angebot unter online.telefonseelsorge.de. Langfristig kann auch eine Psychotherapie sinnvoll sein.
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