Was, wenn wir allein durch das Tragen eines T-Shirts die Erderhitzung verlangsamen könnten? Ein Gedankenspiel, das nicht so fiktiv ist, wie es klingt. Die Designer*innen Dian-Jen Lin und Hannes Hulstaert (im Bild) haben eine Textilbeschichtung entwickelt, die Fotosynthese betreibt.
Dian-Jen, gemeinsam mit Hannes Hulstaert hast du Post Carbon Lab gegründet, ein Design-Research-Studio. Was macht ihr genau?
Wir haben eine fotosynthetische Beschichtung und ein umweltfreundliches Textilfärbemittel aus Algen und Bakterien entwickelt. In unserem Londoner Studio züchten wir Mikroorganismen, mit denen wir Textilien aller Art färben oder beschichten: Bekleidung, aber auch Polster, Kissen oder Sitzbezüge in Autos. Unsere Produktion erfordert wenig Platz, kommt ohne den Einsatz von Pestiziden aus und produziert kein Abwasser. Wir verstehen uns als Dienstleister*innen, die Nachhaltigkeit so einfach machen wollen wie das Tragen eines T-Shirts oder das Pendeln zur Arbeit.
Beschreibt ihr euren Ansatz deswegen als radikal?
Zum einen geben wir uns nicht damit zufrieden, einen „weniger schädlichen“ CO2-Abdruck zu haben. Wir arbeiten nicht nur klimaneutral, sondern klimapositiv – und zwar dadurch, dass unsere Materialien schon bei der Produktion Kohlendioxid in Sauerstoff umwandeln. Zum anderen setzen wir uns gegen die Überproduktion und den Überkonsum von Kleidung ein. In Großbritannien landen jedes Jahr mehr als 200.000 Tonnen in Mülldeponien. Das ist Wahnsinn! Deswegen produzieren oder kaufen wir keine neuen Textilien für unsere Services. Wir leihen Dinge, tauschen sie, mieten oder erwerben Second-Hand-Kleidung. Aber die meisten Teile holen wir bei Menschen ab, die sie nicht mehr brauchen, oder werden sogar auf der Straße fündig. Auch Kühlschränke nehmen wir mit und upcyceln sie.
Kühlschränke?
Keine Ahnung warum, aber Londoner*innen scheinen ihre Kühlschränke gerne am Straßenrand zu entsorgen. Und die können wir gebrauchen: Wir nutzen sie als Inkubatoren, um unsere Mikroorganismen zu züchten. Solche Brutkästen gewährleisten, dass die Algen und Bakterien optimale Bedingungen zum Wachsen haben. Nach dem Upcycling können das auch alte Kühlschränke. Unser Ansatz ist radikal, weil er ganzheitlich ist. Wir sagen: ganz oder gar nicht.
Ihr nennt das „Regenerative Sustainability Activism“. Vor dem Hintergrund sind Innovationen wie Piñatex, also Leder, das aus Ananasblättern hergestellt wird, oder die Verwendung von Hanf statt Baumwolle eigentlich nur ein Zwischenschritt, den wir in einer idealen Welt überspringen würden, oder?
Solche Materialien sind auf jeden Fall wichtige Schritte in die richtige Richtung. Was diese Unternehmen machen, ist super aus einer Business-Perspektive. Sie verringern den CO2-Fußabdruck eines Produkts, ohne dass dafür aktive Mitarbeit von Seiten der Konsument*innen nötig wäre. Aber ja, Hannes und ich geben uns nicht damit zufrieden, sagen zu können: „Wir haben ein weniger schlimmes Material entwickelt.“ Das können wir nicht rechtfertigen. Was wir mit Post Carbon Lab erreichen möchten, ist, dass die Textilindustrie ihren katastrophalen negativen Impact nicht nur reduziert, sondern diesen direkt in einen positiven umwandelt. Mit einer „less harmful”-Mentalität werden wir es nicht schaffen.
Frustriert es dich, dass milliardenschwere Konzerne wie H&M oder Inditex (u.a. Zara) den Einsatz von Biobaumwolle als nachhaltige Innovation verkaufen? Und wie gelingt es, dass solch passive Ansätze durch eure ersetzt werden?
Wenn ich das wüsste, wären wir schon viel größer (lacht). Unser langfristiges Ziel ist es, die Kollektionen großer Fashion-Konzerne zu bedienen. Ich glaube aber, dass bis dahin noch sehr viel zu tun ist in Sachen Bildung und Bewusstsein. Das Wissen über den Einfluss der Modeproduktion auf die Umwelt ist sowohl bei Konsument*innen als auch innerhalb der Unternehmen noch nicht groß genug. Deswegen können Fast-Fashion-Betriebe mit „biologischen“ Kollektionen werben und ins Kleingedruckte schreiben: „Besteht zu fünf Prozent aus Biobaumwolle“. Der Begriff „Nachhaltigkeit” ist zudem nicht gut definiert. Jede*r schreibt es sich auf die Fahnen. Wir probieren, den Begriff zu vermeiden, weil er schnell nach Greenwashing klingt.
Könnte ich eines meiner T-Shirts bei euch beschichten lassen?
Wir haben auch Privatkund*innen, ja. Vor allem kollaborieren wir jedoch mit KMU in Europa, also mit kleinen bis mittelgroßen Unternehmen sowie Projekten, darunter Modemarken und Messen. Bei den meisten Aufträgen geht es um „capsule collections“, limitierte Mini-Kollektionen. Die Züchtung und Umsetzung unserer Services dauert aktuell noch mindestens vier Wochen und ist kostenintensiv.
Ist das T-Shirt, das du gerade trägst, beschichtet?
Nein, aktuell entwerfen wir nur auf Auftragsbasis und nicht für unseren privaten Gebrauch. Dafür sind die Kosten, die während des Prozesses entstehen, noch zu hoch. Aber in meiner Wohnung hängen ein paar beschichtete Kleidungsstücke von Designer*innen, um die ich mich jeden Tag kümmere, damit sie optimale Bedingungen haben. Ansonsten könnten sie ihre Farbe ändern. Die meisten Organismen sind grünlich. Im gesunden Zustand haben sie einen dunklen, braun-grünen oder orange-grünen Ton. Wenn sie unglücklich sind, weil ihnen die Temperatur nicht passt oder die Lichtverhältnisse, können sie gelb, orange, braun, lila, weiß oder transparent werden.
Was brauchen die Mikroben zum Leben?
Am besten hängen die beschichteten Stücke in gut ventilierten Räumen mit etwas Lichteinfall, etwa im Wohnzimmer, wobei ihnen auch künstliches Licht reicht. Wichtig ist, sie regelmäßig zu befeuchten. Ich mache das täglich mit einem Pflanzensprüher oder ich hänge sie nach dem Duschen ins Badezimmer. Die Textilien, die wir umweltfreundlich färben und nicht mit lebendigen Organismen beschichten, sind pflegeleicht. Die kann man sogar normal waschen.
Das ist schon eine Menge Aufwand. Ist eure fotosynthetische Beschichtung überhaupt massentauglich?
Das kommt auf die Perspektive an. Unser Service sollte auf keinen Fall mit dem Kauf eines T-Shirts bei Primark verglichen werden. Stattdessen geht es um die Anstrengungen, Ressourcen und die Zeit, die es kostet, einen Baum zu pflanzen. Das ist die richtige Vergleichsgröße. Was braucht man? Ausreichend Platz, Schaufeln, Samen, Wasser, Düngemittel und sehr viel Geduld. In London und anderen Metropolen kann sich kaum jemand einen Garten leisten. Wir wollen es Städter*innen ermöglichen, trotzdem einen klimapositiven Beitrag leisten zu können.
Weil die Beschichtung eines T-Shirts so viel Sauerstoff produziert wie ein sechs Jahre alter Baum, richtig?
Am Ende des vierwöchigen Züchtungsprozesses ist die Fotosynthese-Leistung der Mikroorganismen für ein T-Shirt der Größe Large vergleichbar mit der einer sechs Jahre alten Eiche. Pro Tag generieren sie dann also genauso viel Sauerstoff. Unter optimalen Bedingungen führen sie ihre fotosynthetische Aktivität beim Tragen des T-Shirts fort. Und das mehrere Jahre lang.
Text/Interview: Miriam Petzold
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