Die Liste vergessener Krankheiten ist lang. Wenn Corona dort auftaucht, bedeutet das nicht automatisch, dass die Pandemie weltweit vorbei ist. Viel wahrscheinlicher ist, dass nicht mehr berichtet wird. Viren wie Ebola, Sars, BSE und Mers verschwanden aus dem medialen Gedächtnis, bevor es Medikamente gab. Die Ehec-Epidemie von 2011 war vergessen, obwohl der Ursprung des Ausbruchs noch nicht feststand.
Ab März 2020 verdrängten Corona-News andere wichtige Themen wie die Klimakatastrophe oder Geflüchtetencamps an den EU-Außengrenzen. Das Angebot, die Geschwindigkeit und der Tenor der Berichterstattung sind ungesund. Eine Studie aus dem Jahr 2013 zeigt, dass Menschen, die den Anschlag auf den Boston-Marathon über die Newskanäle mitverfolgt haben, gestresster und negativer beeinflusst waren als diejenigen, die ihn direkt erlebt haben. „Fast News“ scheinen für das Gehirn wie Zucker für den Körper.
Die Suche nach den Ursachen beginnt dort, wo der war for attention, der Krieg um Aufmerksamkeit, Fahrt aufnahm. Seitdem es Echtzeit-News gibt, Medienhäuser mit milliardenschweren Tech-Konzernen konkurrieren und Social Media als Quellen genutzt werden, löst sich die traditionelle Funktion der Nachrichtenjournalist*innen auf: Schleusenwärter*innen, die die Informationsflut filtern und Themen sorgfältig einordnen, bevor sie die Öffentlichkeit erreichen.
Es ist etwas außer Kontrolle geraten, das der Philosoph Georg Franck als „Aufmerksamkeitsökonomie“ beschreibt und mit der Ökonomie des Geldes vergleicht. Weil Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist, wird alles relevant, was Aufmerksamkeit verspricht. „Auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen springen Massenmedien auf Hypes auf“, sagt Kommunikationsforscher Armin Scholl von der Universität Münster. Und berichten beispielsweise über Shitstorms.
Die Medienlogik sozialer Netzwerke und digitaler Nachrichtenseiten schlägt Kapital aus dem menschlichen Bedürfnis nach intensivem sozialen Austausch und der Angst, etwas zu verpassen. Push-Nachrichten, Ticker und Newsletters kämpfen um unsere Aufmerksamkeit und locken mit kurzweiliger Ablenkung, die zur Gewohnheit wird. Gelesen, gehört, gesehen, gelacht, geweint, weiter geht’s.
Der Lebenszyklus eines Themas
„Kocht ein Skandal nicht innerhalb von drei Wochen richtig hoch, ist er tot“, sagt Hans Mathias Kepplinger. Länger angelegte Themen wie die Klimakatastrophe oder Aids „rollen ein bis zwei Jahre, sofern nicht noch etwas Gravierendes passiert“. Als Kommunikationsprofessor der Universität Mainz beschäftigte sich Kepplinger lange mit der Wirkung von Massenmedien und Journalismus als Beruf. Der Lebenszyklus eines Themas gleiche einer gewaltigen Welle, sagt er. Sie komme ins Rollen, sobald Journalist*innen über eine Katastrophe berichten und damit das Interesse ihres Publikums wecken. Weil in den Folgetagen nicht genug passiere, um das geweckte Interesse zu stillen, werde auf vergangene Ereignisse zurückgegriffen, die nicht direkt mit dem aktuellen Problem zu tun hätten. Konkurrierende Medien sprängen auf die Welle auf, um nicht im Nachteil zu sein. Dass sie plötzlich breche, liege auch daran, dass sich Konkurrent*innen anderen Themen zuwendeten.
Im Sommer 2018 blickte die Welt auf ein Höhlensystem in Thailand, in dem eine Fußballmannschaft gefangen war. Die globale Rettungsaktion wurde erfolgreich abgeschlossen, Hollywood kündigte eine Verfilmung an. Deutlich weniger Beachtung fand, dass im gleichen Jahr erneut über 2.000 Menschen bei ihrer Flucht im Mittelmeer ertranken, weil Rettungsaktionen ausblieben.
Vom Thema zur Nachricht – die Nachrichtenwerttheorie
1972 wurde der Lebenszyklus eines Themas – der „Issue-Attention Cycle“ – von Anthony Downs beschrieben. Der US-amerikanische Ökonom definierte fünf Ebenen anhand des Themas Umweltschutz, das durch Ölkatastrophen und urbanen Smog Ende der 1960er-Jahre erstmals in den öffentlichen Fokus gerückt war.
In der „Vor-Problem-Phase“ existiert das Problem bereits, wird aber nur in Fachkreisen thematisiert. In der zweiten, „alarmistisch-euphorischen“ Phase greifen Massenmedien die Sachlage auf und stellen sie emotionalisiert dar. Auf eine sensationsgetriebene Berichterstattung folgt drittens das Stadium der Lösungsstrategien. Während Gegenmaßnahmen diskutiert werden, entsteht ein Bewusstsein für die Kosten, den Aufwand und die Zeitdauer der Lösungen. Infolgedessen sinkt viertens das öffentliche Interesse – Resignation und Zurückhaltung steigen. Über das Thema wird weniger berichtet, und in der fünften und letzten Phase nur noch dann, wenn es neue Erkenntnisse oder einen konkreten Anlass gibt.
Aber wie schafft es ein Thema in die Medien? Entscheidend sind 18 sogenannte Nachrichtenfaktoren, die unterschiedliche Nachrichtenwerte haben und auf psychologischen Eigenschaften basieren. Entwickelt wurde diese Theorie von dem US-amerikanischen Medienkritiker Walter Lippmann 1922 und den norwegischen Soziologen Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge 1965. Der deutsche Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz ergänzte 1976 die Liste, die Faktoren wie Personalisierung, Komplexität, räumliche und kulturelle Nähe, Prominenz, Überraschung, Konflikt und Dauer einschließt. Vereinfacht zusammengefasst: Je berühmter eine Person und je näher, spektakulärer, überraschender oder negativer ein Ereignis ist, desto eher wird berichtet.
Die Nachrichtenwerttheorie korrespondiert heute mit anderen Forschungsansätzen, zum Beispiel mit der „News Bias“-Forschung: Es ist unstrittig, dass Journalist*innen dazu neigen, sich bei der Themenauswahl auch nach ihrer eigenen politischen Linie zu richten und unterbewusst Informationen wiederzugeben, die mit ihren eigenen Sichtweisen übereinstimmen.
Deutsche Redaktionen sind nicht divers
Das Weltbild einzelner Journalist*innen beeinflusst das Weltbild einer breiten Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich ein gravierendes Problem, denn die Redaktionen sind nicht divers. Studien zur Zusammensetzung zeigen: Deutsche Journalist*innen stammen mehrheitlich aus Akademiker*innenhaushalten, sind meist weiß, männlich und ordnen sich im politischen Spektrum Mitte-links ein. Laut dem Mainzer Kommunikationsforscher Kepplinger führe genau diese Homogenität dazu, dass Kontrollmechanismen ausfielen, weil die Mehrheit in den Redaktionen „einer Meinung ist“. Dramatische Übertreibungen eines Themas seien eine gängige Methode, um Kolleg*innen von der Relevanz des eigenen Berichts überzeugen – und diesen platzieren zu können.
Im Januar 2019 äußerte sich der Norweger Johan Galtung bei einer Konferenz in Genf zu seiner einflussreichen Theorie: „Das war nicht eine Anweisung, wie man Journalismus machen sollte, sondern eine Warnung, wie man ihn nicht machen sollte!“ Die Auswahl der Medien sei zu stark auf einzelne Faktoren wie Negativität und Prominenz fixiert. „Man sollte nicht nur sagen, was ist, sondern sich fragen: Was nun?“ Viele Redaktionen operierten immer noch unter dem Motto: „Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten.“ Gute Nachrichten sind unspektakulär, weil Gutes ständig passiert. Vor allem aber liegen den Nachrichtenfaktoren, insbesondere Negativität, menschliche Eigenschaften zugrunde. Maren Urner, Neurowissenschaftlerin und Mitbegründerin des Online-Magazins Perspective Daily, das wie enorm konstruktiven Journalismus vertritt, sagt: „Wir haben einen angeborenen Hang zu negativen Nachrichten.“
Es zeigen sich aber Unterschiede zwischen Mann und Frau. Der „Negativity Bias“, der Negativitätseffekt, ist bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen. Ebenfalls wissenschaftlich dargelegt ist, dass mehr Journalistinnen in den Chefetagen der Medienhäuser einen niedrigeren Anteil an Nachrichten mit negativem Fokus bedeuten würden.
Digitaler Säbelzahntiger
Das ist nicht nur aus Sicht der Geschlechtergerechtigkeit wichtig, sondern hat eine gesundheitliche Dimension. Studien der Universität Southampton zeigen, dass sich Newskonsument*innen positive Geschichten wünschen, aber Negativem mehr Aufmerksamkeit schenken. Menschen reagieren schneller und heftiger auf Schlagzeilen, in denen Wörter wie Krebs, Terror oder Krieg vorkommen. Allerdings unterbewusst.
„In der Steinzeit konnte das Verpassen einer negativen Nachricht den Tod bedeuten. Daher lassen wir uns leicht ablenken“, sagt Maren Urner. Weil wir dem „digitalen Säbelzahntiger“ heute dauerhaft ausgeliefert seien, stünden wir chronisch unter Stress, eine Vorstufe von „erlernter Hilflosigkeit“: Wer pausenlos mit ausweglosen Krisen konfrontiert wird, könne passiv, zynisch und sogar depressiv werden.
Konstruktive Berichterstattung wird als Lösung gehandelt. Seitdem das britische Magazin Delayed Gratification 2011 an den Start gegangen ist, gründen immer mehr Journalist*innen neue, entschleunigte Medienformate und bieten Workshops an, die konstruktive Methoden vermitteln. Die Crowdfunding-Kampagne des niederländischen Online-Mediums De Correspondent generierte im Jahr 2013 mehr als eine Million Euro in nur acht Tagen – die bis dato höchste durch ein journalistisches Produkt eingesammelte Summe. Den 15.000 Gründungsmitgliedern haben sich nach eigenen Angaben bis heute mehr als 65.000 zahlende Nutzer*innen angeschlossen. Das Modell dahinter ist mitgliederfinanziert, lösungsorientiert – und werbefrei. Die Gründer*innen lösen sich von der Aufmerksamkeitsökonomie, indem sie die Aufmerksamkeit ihres Publikums nicht an Werbetreibende verkaufen müssen.
In den vergangenen Jahren verkündeten viele große Medienhäuser, darunter der britische Guardian, die New York Times, das ZDF und der Spiegel, sie wollten konstruktiver berichten. Über einzelne Rubriken hinaus hat sich der Ansatz aber nicht durchgesetzt. Vielleicht auch, weil er noch immer missverstanden wird.
Konstruktiver Journalismus: Nachhaltiger konsumieren
Konstruktiv berichten heißt nicht, gute Nachrichten zu bevorzugen, sondern daran zu glauben, dass sich Dinge zum Guten verändern können, wenn Lösungen diskutiert werden und sich Leser*innen die Zeit nehmen, diese zu reflektieren. Berichtet wird weniger, dafür aber tiefgründiger. Vor allem bietet das Konzept einen anderen Zugang zu den Nachrichten. Aus „vergessenen“ Geschichten wie dem Konflikt im Jemen werden aktuelle Themen. Der Blick geht nach vorne: Was macht den Betroffenen Hoffnung und wie geht es weiter? Bei ruhigem Wellengang ohne Brandung würden solche Geschichten nicht untergehen.
Um erlernter Hilflosigkeit entgegenzuwirken, bedarf es aber mehr. Medienrezipient*innen tragen die Verantwortung, der Verlockung ungesunder, digitaler Häppchen zu widerstehen und ihren Konsum zu überdenken. Gleichzeitig müssen Redaktionen diverser werden und deutlich mehr lösungsorientierte Impulse geben. Das ist nicht nur wichtig für die einzelnen Rezipient*innen, sondern für die Gesellschaft. Wo es weniger rauscht, werden Zusammenhänge hörbar. Zum Beispiel zwischen „Zoonosen“, also von Tier zu Mensch und umgekehrt übertragenen Infektionskrankheiten, und der Klimakatastrophe. Unser verschwenderischer Lebensstil zerstört die Lebensräume von Wildtieren und erhitzt die Erde. Je heißer die Erde, desto leichter fällt es Erregern, sich aggressiv zu verbreiten.
Autorin: Miriam Petzold
Dieser Text ist Teil des Schwerpunkts „Vergessene Geschichten – War da was?“ der Jubiläums-Ausgabe 06/20 des enorm Magazins.
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