Sie haben Mitte Juni an der jährlichen UN-Konferenz in New York teilgenommen, die die Umsetzung des 2008 in Kraft getretenen Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen überprüft. Wie fällt Ihr Fazit, insbesondere auch aus deutscher Sicht, aus?
Katrin Langensiepen: Grundsätzlich war diese Konferenz eine Mahnung an die Welt, an die EU, dass wir immer noch daran scheitern, Menschenrechte aus der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Wir sind noch nicht da, wo wir sein müssen, wenn es darum geht, selbstbestimmtes gleichberechtigtes Leben zu fördern und individuelle Assistenzen zu stärken. Dabei ist der klare Appell, auch an Deutschland: Kein Geld mehr in Sondereinrichtungen fließen lassen, dafür in individuelle, inklusive Lösungen investieren. Deutschland ist mit 320.000 Beschäftigten in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) das Land mit den meisten dort Beschäftigten EU-weit. In New York wurde ich auf diesen unhaltbaren Zustand immer wieder angesprochen.
Ein großes Thema war die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderungen in der Ukraine. Weder zu deren Flucht noch deren Situation in umkämpften Gebieten ist viel öffentlich bekannt. Wie geht es den Menschen mit Behinderungen dort? Wie wird geholfen?
Menschen mit Behinderungen in der Ukraine werden vergessen, zurück- und alleingelassen. Viele kommen nicht weg, weil es keine barrierefreien Wege oder Hilfen gibt, andere wissen nicht, ob sie an der Grenze die Unterstützung bekommen, die sie benötigen. Was mache ich, wenn ich als Mensch mit Rollstuhl während des Bombenalarms nicht in den Keller komme oder als gehörloses Kind ihn gar nicht erst höre?
Als EU-Nachbarn müssen wir dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderungen entsprechend empfangen und barrierefrei versorgt werden. Polen leistet das gerade aus Bordmitteln, die Menschen vor Ort machen, was sie können. Das kann aber nicht die Lösung sein, es braucht strukturelle Unterstützung. Wir müssen endlich grundsätzlich Menschen mit Behinderungen konsequent in Krisenstrategien mitdenken – Stichwort Klimakatastrophe.
In Deutschland hat die Kritik bezogen auf Werkstätten für Menschen mit Behinderungen – insbesondere in den Sozialen Medien – deutlich zugenommen. Wie erleben sie die Debatte derzeit?
Die UN mahnt Deutschland schon seit Jahren für sein Werkstätten-System, das in vielen Fällen klar gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt. Auch die EU und das Europäische Parlament haben sich mehrfach dazu geäußert: Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Gleichbehandlung und auf die freie Wahl ihres Arbeitsplatzes. Die Wahl zwischen zu Hause zu bleiben oder in eine WfbM zu gehen ist keine Wahl.
Die Diskussion ist endlich wieder in Deutschland angekommen. Die sogenannte „Krüppelbewegung“ hatte schon in den 1980er Jahren die Sondereinrichtungen kritisiert. Mehr und mehr Aktivist:innen fordern aktuell unter dem Hashtag #IhrBeutetUnsAus den Mindestlohn und Arbeitnehmer:innenstatus in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Die Stimmen werden immer lauter. Wir müssen gemeinsam transparent daran arbeiten, das Werkstätten-System zu reformieren.
In Sachsen bekommen die Mitarbeitenden mit Behinderungen in den Werkstätten des Bundeslandes laut einer Statistik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Schnitt 57 Euro im Monat (Stand 2020), hinzu kommen existenzsichernde Sozialleistungen. Welche Bezahlung der Beschäftigten scheint Ihnen angemessen und umsetzbar?
Menschen mit Behinderungen haben das gleiche Recht auf einen Mindestlohn wie Menschen ohne Behinderungen. Auch deshalb ist diese Forderung richtig. Und: Die neue EU-Richtlinie zum Mindestlohn fordert explizit, dass dieser auch in Werkstätten gelten muss. Das ist kein Wunschdenken sondern Menschenrecht.
In der Diskussion scheinen die Fronten verhärtet, warum?
Statt konstruktiv gemeinsam an einem Wandel zu arbeiten, werden die Positionen oft als zu extrem dargestellt. Wenn ich sage, wir möchten die Werkstätten auslaufen lassen, heißt es nicht, dass ab morgen Menschen mit Behinderungen auf die Straße stehen. Die Werkstätten sind ursprünglich als Übergang zum ersten Arbeitsmarkt gedacht. Faktisch schaffen das aber nur weniger als 1 Prozent der Beschäftigten mit Behinderungen. Im Moment ist das System so aufgebaut, dass Werkstätten ökonomisch kein Interesse daran haben, ihre besten Leute gehen zu lassen. Das ist problematisch. Werkstätten dürfen keine Einbahnstraße sein, sondern müssen flexibler werden. Sie brauchen Anreize, Menschen wirklich zu rehabilitieren und auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.
Ein anderer Punkt ist der Arbeitnehmer:innenstatus. Menschen in Werkstätten brauchen den Arbeitnehmer:innenstatus, Mindestlohn und das Streikrecht. Nach dem Prinzip der Gleichbehandlung müssen wir Menschen mit und ohne Behinderungen für ihre Arbeit gleich bezahlen, egal wie leistungsfähig eine Person ist. Das kostet Geld. Genau das müssen wir uns aber als Gesellschaft nach dem Prinzip der Umverteilung leisten.
Viele Beschäftigte haben dennoch Angst, dass die Werkstätten in Deutschland abgeschafft werden könnten. Können Sie das nachvollziehen und wie kann man den Menschen diese Angst nehmen?
Wenn es so dargestellt wird, dass Menschen von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt werden, kann ich das absolut verstehen. Dazu wird es aber nicht kommen. Es ist klar, dass wir gut funktionierende Betreuungs- und Assistenzsysteme weiterhin brauchen. Gerade für die, die aufgrund einer Minderleistung nur mit individueller Unterstützung arbeiten können, sind diese wichtigen Strukturen absolut notwendig. Die Bedingungen in Werkstätten müssen sich ändern und Menschen mit Behinderungen vollständige Mitspracherechte erhalten, wie es etwa das Betriebsverfassungsgesetz in Deutschland für Arbeitnehmer:innen vorsieht.
Parallel dazu müssen wir aber auch die Bedingungen auf dem ersten Arbeitsmarkt ändern, bessere Assistenzlösungen und Entlastungen für die Unternehmen schaffen und vor allem auch spezifische Beratungsleistungen für Menschen mit Behinderungen einrichten, die nicht automatisch, routiniert auf Werkstätten verweisen, sondern individuell fördern und beraten. Aber sind wir auch mal ehrlich: Es geht um Macht und um viel Geld, das die Träger wie etwa die Diakonie, die Lebenshilfe oder die AWO nicht aufgeben möchten. Wir müssen Eltern entlasten, die natürlich die Frage haben: Was passiert mit meinem Kind, wenn ich nicht mehr bin? Kinder müssen aber immer aufs Leben vorbereitet werden, nicht auf die Rente.
Gibt es Werkstätten in Deutschland, die Ihnen bereits vorbildlich erscheinen?
Es gibt Werkstätten, die verstanden haben, dass sie mit der Zeit gehen müssen wie die Stiftung Martinshof in Bremen. Sie haben begonnen, parallel zu ihrer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zwei Inklusionsfirmen aufzubauen. Dort arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen und bekommen als Arbeitnehmer:innen Tariflohn. Inklusionsunternehmen können generell als positives Beispiel genannt werden, etwa das Café Ana Blume in Hannover.
Katrin Langensiepen ist seit 2019 für Bündnis 90/Die Grünen Abgeordnete im Europaparlament. Als Vize-Vorsitzende des Sozialausschusses und der interparlamentarischen Gruppe von Menschen mit Behinderung kämpft sie für ein grünes, soziales und inklusives Europa. Ihre Themenschwerpunkte liegen auf Inklusion, Armutsbekämpfung und Wohnen. Sie ist die einzige Frau mit sichtbarer Behinderung unter den 705 Abgeordneten im EU-Parlament.
Interview: Jan Scheper
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