Wer in Zeiten der Corona-Isolation regelmäßig die Social-Media-Kanäle verfolgt, bekommt vor allem eine Botschaft eingehämmert: Jeder sollte jetzt die Krise nutzen, sich verbessern, eine neue Sprache lernen, ein Online-Business gründen, Online-Museen besuchen, mit Yoga anfangen, endlich mehr Bücher lesen, sich fortbilden …
Ja. Kann man machen. Muss man aber nicht. Denn es besteht schon auch die Gefahr, dass wir uns selbst im Wahn der Selbstoptimierung verlieren. Dabei ist der Weg aus dieser Spirale hin zu mehr Ruhe und Gelassenheit gar nicht so schwer.
Die Corona-Krise und unsere Sehnsucht nach Selbstoptimierung
Schöner, schlanker, schlauer – so ähnlich lauten viele Wünsche, wenn es um das eigene Ich geht. Das wir dabei ganz schön streng sind und hart mit uns ins Gericht gehen, ist den wenigsten bewusst. Aussagen wie „wer ständig glücklich sein möchte, muss sich oft verändern“ sind schneller auf Instagram gepostet als praktisch umgesetzt. Was denn noch, denkt man zuweilen.
Man darf sich von all diesen Forderungen auch mal überfordert fühlen. Bei genauerer Überlegung sagt Konfuzius mit dem Zitat ohnehin nicht, dass nur die äußeren Umstände gemeint sind. Vielmehr wird bei näherer Betrachtung klar, dass es dabei auch um die innere Einstellung geht. Bevor sich im Außen etwas verändern kann, muss es im Inneren schon geschehen sein.
Das ist im Alltag ganz schön schwer. Auch, weil wir für gewöhnlich sehr hohe Ansprüche an uns selber stellen. Geht der ehrgeizige Plan nicht auf, müssen wir uns am Ende eingestehen: Wir haben versagt! Statt in der jetzigen Ausnahmesituation nachsichtig auch mit sich selbst umzugehen, werden die Zügel innerlich noch weiter gestrafft, wenn nicht gar die Peitsche rausgeholt.
Dabei scheinen Dinge wie selber Kochen, Backen, Nähen, Online-Yoga oder Meditation gerade durch die erzwungene #stayhome-Phase in greifbare Nähe gerückt. Wenn Aktivitäten wie Freunde treffen, der Besuch im Fitnessstudio oder schnelle Besorgungen ohnehin gestrichen sind, warum dann nicht einfach die „gewonnene Zeit“ nutzen und sich weiter verbessern?
Müssen wir wirklich besser werden oder sind wir nicht einfach schon genug?
Schöne Idee. Doch wer überlegt, merkt: Dieses Gedankenkonstrukt steht auf wackeligen Beinen. Denn in Wirklichkeit haben wir ja auch während der Krise genügend Aufgaben auf dem Zettel.
Unser Alltag war schon vor Corona von morgens bis abends vollgestopft mit Aktivitäten und To-dos. Statt sich starr an Erledigungslisten und feste Strukturen zu klammern, gilt jetzt sich flexibel auf Dinge einzulassen und Improvisationstalent zu zeigen. Durch die Isolation haben sich die Aufgaben ja keineswegs in Luft aufgelöst. Sie haben sich nur verschoben: Eltern müssen arbeiten und gleichzeitig ihre Kinder betreuen, Klavierunterricht oder Sport kommen jetzt online in die eigenen vier Wände. Eine Sache fehlt da noch mehr als vor Corona: Ruhe und Gelassenheit uns selbst gegenüber!
Stecken wir endgültig in der Selbstoptimierungsfalle? Und muss man dabei alles mitmachen, nur um dazuzugehören? Autorin Isabell Prophet meint dazu, dass man nicht ständig noch besser werden muss. Wie die Journalistin und Autorin in ihrem Buch „Wie gut soll ich denn noch werden?!“ erklärt, zählt vielmehr die Einsicht, dass das Streben nach Verbesserung nichts mit mehr Schönheit, Wissen und Co. zu tun hat.
„Selbstoptimierung durch ein ‚Mehr‘ an irgendwas hat nichts mit wissenschaftlicher Optimierung zu tun. Sie ist Selbstbetrug.“, sagt Isabell Prophet und plädiert stattdessen für „mehr Weniger. Weniger Aufforderungen, weniger To-dos, weniger Probleme und Krankheit, Stress und Belastungen.“ Als ersten Weg gegen den Wahn empfiehlt sie dann auch „wir müssen Schluss machen mit den übertriebenen Ansprüchen. Erst wenn weniger von außen kommt, haben wir mehr Energie für uns selbst.“
Einsicht als Weg den inneren Kritiker zu erkennen
Auch Cordula Nussbaum, Expertin für Zeitmanagement, setzt auf die Entdeckung der eigenen Gelassenheit. Statt sich den Zwängen der Selbstoptimierung auszusetzen, gibt die Autorin in ihrem Buch „LMAA – 66 Mini-Plädoyers für mehr Mut, Leichtigkeit und Gelassenheit“ Denkanstöße, wie man seine eigenen Antreiber erkennt, sie entlarven und stattdessen das machen kann, was man wirklich möchte.
„Die Kernidee der 66 Impulse ist: Lass los, was dich unglücklich macht“, so die Wirtschaftsjournalistin und Autorin. Um aus dem Rad der Selbstoptimierung auszusteigen, ist laut Nussbaum der Blick nach innen nötig. Statt einem Trend und damit häufig der Masse zu folgen, kann es hilfreich sein, sich stattdessen zu fragen: Will ich das wirklich oder möchte ich in Wahrheit etwas ganz anderes?
Nahezu alle Tipps befassen sich mit der Selbstwahrnehmung des eigenen Ichs. Nicht einfach mitzulaufen und sich von anderen zu unterscheiden, gehört nach Cordula Nussbaum zur Definition des Ich dazu. Das mag vielen von uns zu Beginn vielleicht etwas ungewohnt und egoistisch erscheinen. Wer jedoch wirklich glücklich sein will, muss sich und seine eigenen Bedürfnisse erst mal erkennen.
Der Weg zu Glück und Gelassenheit beginnt mit dem ersten Schritt
Auch die Philosophin Ariadne von Schirach unterscheidet im Interview zu ihren Buch „Du sollst nicht funktionieren“ zwischen den Begriffen Selbstoptimierung und Lebenskunst.
Selbstoptimierung sei die Arbeit an Dingen wie unserem Körper, dem vorzeigbaren Instagram-Account oder der beruflichen Position, die wir bekleiden. Also alles, was man mit anderen Menschen vergleichen kann. Der von ihr gewählte Begriff der Lebenskunst behandelt dagegen das individuelle Verhältnis zum eigenen Inneren. „Hier zählen Werte wie Charakter, Bildung oder Humor“, so von Schirach.
Geht es nach der Philosophin, sind beide Bereiche Teil jedes Menschen. Schwierig werde es dann, wenn der Bereich der Selbstoptimierung überhandnimmt und zum Wahn wird. Wenn der innere Bezug verloren geht und man sich nur noch um die Darstellung im Außen kümmert, „dann fällt all das weg, was sich eben nicht berechnen, nicht abbilden und nicht vergleichen lässt. Und das ist wirklich ein Problem, weil der Sinn, den wir unserem Leben geben und zugleich abgewinnen können, innen liegt“, so Ariadne von Schirach.
Dankbarkeit als Weg zur Gelassenheit
Die Lösung liegt nach der Philosophin darin, sich der selbstauferlegten Weltanschauung zu entledigen und die eigene Einstellung zu hinterfragen. Definiert sich beispielsweise der eigene Wert wirklich rein durch das Aussehen und müssen wir alle wirklich erst immer besser werden, um glücklich zu sein? Müssen wir uns das eigene Glück tatsächlich erst mal schwer verdienen?
Der Weg aus dem Karussell der Selbstoptimierung klingt auf den ersten Blick einfach: „Um uns wieder auf uns selbst zu besinnen, ist es notwendig, zu unserer Innenwelt zurückkehren.“, erklärt von Schirach. „Nur von dort aus können wir uns selbst erfahren, ausrichten, korrigieren.“
Praktische Tipps wie das Dankbarkeitsritual helfen. Ein Glückstagebuch hilft, den Blick täglich auf Dinge zu richten, die man sonst als Selbstverständlichkeit sieht. Das macht zufriedener und wirkt sich positiv auf das eigene Empfinden aus. Und sich abends vor dem Schlafengehen zu überlegen, ob man mit dem eigenen Verhalten zufrieden ist und den Fokus auf die eigenen Wünsche zu legen, statt auf andere Menschen zu achten, ist für jeden machbar.
Nach der Philosophin lässt sich dann auch die Qualität des eigenen Lebens nicht an materiellen Dingen festmachen, sondern wird durch das, was jeden einzelnen von uns ausmacht, definiert.
Weniger ist mehr
Wie glücklich du mit deinem Leben bist, hat also vor allem mit dir selbst und den eigenen Vorstellungen zu tun. Wie jede Situation sorgt auch die Corona-Krise dafür, das eigene Leben genauer zu analysieren und aus einem neuen Blickwinkel zu bewerten.
Durch das Üben von mehr Gelassenheit dem Leben gegenüber bietet sich damit in der Krise die Chance, mit „mehr weniger“ den eigenen Weg zu gehen. Und so, entgegen aller Trends zur äußeren Selbstoptimierung ein Leben zu leben, dass für dich als Individuum Glück bedeutet.
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