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Filmtipp: Zeit für Stille

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Foto © mindjazz pictures

Stille ist mehr als die Abwesenheit von Geräuschen – und wir sollten sie ehren, fordert Patrick Shen mit seinem Film „Zeit für Stille“. Im Interview erklärt der Regisseur, wie man Stille auf die Leinwand bringt, wie Donald Trump Lärm für sich nutzt und wie wir unsere Angst vor Stille überwinden können, um zu uns selbst zu finden.

Herr Shen, warum ist Stille mehr als nur die Abwesenheit von Geräuschen?

Für mich ist sie ein Zustand des Seins, der uns für die Welt um uns herum öffnet. Inmitten des Lärms und der Stimulierung müssen wir uns oft verschließen, zum Beispiel wenn wir uns die Ohren zu halten. Stille dagegen öffnet die Poren unserer Sinne und macht uns empfänglich für bewusste Wahrnehmungen. Es ist ein Ausatmen, das uns bereichert.

Wie kann man Stille überhaupt auf einer Kinoleinwand ausdrücken?

Im Team haben wir besprochen, dass der Film nicht nur über Stille sprechen, sondern auch selbst still sein soll. Deshalb gibt es in „Zeit für Stille“ Interviews als klassische Elemente eines Dokumentarfilms, die eher über Stille sprechen. Es gibt aber eben auch Szenen, die Stille einfach das sein lassen, was sie für die Menschen ist. Wie man Stille auf die Leinwand bringen kann? Indem sie für sich selbst spricht.

Die Szenen der Stille sind manchmal mit Musik unterlegt, manchmal aber auch nicht. Wie haben Sie entschieden, wann sie Musik einspielen?

Ich erinnere mich, wie ich am Anfang zu unserem Komponisten gesagt habe, dass wir Stille wie eine Stimme behandeln müssen – wie eine Tonspur mit Dialog. Die Musik darf der Stille nicht zuwiderlaufen, sondern muss sie unterstützen, damit diese für sich sprechen kann. Wir haben Musik sparsam und mit viel Raum zwischen den Noten eingesetzt. Viele fragen mich, warum ich überhaupt auf Musik zurückgreife. Die Antwort ist: Wir wollen alle Zuschauer einladen, sich mit Stille zu beschäftigen. Aber ich konnte anfangs mit Stille gar nicht umgehen. Hätte ich mich fünf Minuten in einen stillen Raum gesetzt, hätte ich wahrscheinlich mein Handy herausgeholt. Deswegen wollten wir der Stille einen Kontext und eine Form geben. Dazu dienen die Musik und die Dialoge.

Trailer: Zeit für Stille

Wie haben Sie die stillen Orte gefunden, die in ihrem Film auftauchen?

Zu Beginn dachten wir: Das wird super cool. Wir werden zu vielen fernen, exotischen Orten reisen, um Stille aufzunehmen. Aber erstens hatten wir kein riesiges Millionenbudget und zweitens sollte der Film für die Leute zugänglich bleiben. Kaum jemand hat die Voraussetzungen, zu einem ausgefallenen Ort zu reisen, um etwas Stille zu finden. Orte der Stille wie Nationalparks sind dagegen für die meisten erreichbar. Wir reisten zu den Charakteren des Films, die Stille fanden wir auf dem Weg. Bei jeder unserer über 30 Produktionsreisen haben wir darauf geachtet, ruhige Momente zu haben, in denen wir die Eindrücke verarbeiteten. Daraus sind dann oft die Sequenzen der Stille entstanden.

Wie können wir uns bewusst werden, ob wir mehr Stille brauchen?

Ich glaube, es ist uns allen längst bewusst, dass unser Lebenstempo inhuman geworden ist. Wir holen selten Luft, stattdessen hetzen wir hinter dem her, was andere Leute machen. Wir verstehen auch, was all die Geräte mit uns machen. Wir schauen hundert Mal am Tag auf das Handy und in unser E-Mail-Postfach. Wir leben in einem Zustand, indem wir ständig reagieren und antworten. Von den gesundheitlichen Folgen des Stresses brauchen wir gar nicht erst reden. Wer in ein Restaurant geht und sich dort wegen des Lärms kaum unterhalten kann, merkt schon: Hier stimmt etwas nicht.

„Es gibt für unsere Körper nichts natürlicheres als Stille“

Im Film zeigen Sie viele Momente der Stille aus Asien. Ist die ostasiatische Kultur der westlichen in ihrem Bewusstsein für Stille voraus?

Unsere Recherche legt das nahe, ja. In der ostasiatischen, besonders in der japanischen Kultur scheint Stille verehrt und praktiziert zu werden. Das geht bis auf Buddha zurück, aber zeigt sich auch in der säkularen Kultur. Auch dort sind die Probleme nicht verschwunden, aber im Westen, besonders in den USA, sind wir von Lärm besessen. Wer am meisten Geräusche macht, bekommt am meisten Aufmerksamkeit. Das war aber nicht immer so: Religiöse Führer gingen in die Wüste, an einsame und stille Orte, um zu verstehen, wer sie sind und wie sie sich zur Welt verhalten wollen. Diese Erkenntnisse brachten sie dann in die Welt zurück. Heute dagegen gilt: je lauter desto besser.

Was dagegen gibt uns die Stille?

Wir entstehen aus der Stille und wenn wir diese Welt verlassen, kehren wir zu ihr zurück. Es gibt für unsere Körper nichts natürlicheres als Stille. Gerade in den Vereinigten Staaten sind wir verpflichtet, einen Schritt zurückzutreten, um dem ganzen politischen Lärm etwas entgegenzusetzen, der das Land spaltet. Wer sich die Zeit nicht nimmt, wird nie wissen, woran er in dieser Welt glaubt. Für gute Entscheidungen braucht man einen klaren Kopf und ein waches Bewusstsein.

Sprache wird oft als eine der größten Errungenschaften der Menschheit gesehen. Wie sehen sie das Verhältnis von Sprache zu Stille?

Max Picard, ein Schweizer Schriftsteller aus dem letzten Jahrhundert, schrieb, dass jedes Wort im Zeitalter der Sprachen aus der Stille entstehen, die Stille respektieren und dann zu ihr zurückkehren soll. Das Gesprochene ehrt die Stille. Das meiste Geschwätz von heute will die Stille einfach ausfüllen, weil wir uns nur mit Geräuschen lebendig fühlen. Es gibt auch Momente für Lärm und Geräusch, aber grundsätzlich haben wir den Respekt für Stille verloren. Fänden wir ihn wieder, wäre die Sprache wieder bedeutungsvoller. Picard haben wir beim Dreh oft zu Rate gezogen.

„Als der Film fertig war, entschied ich, nicht mehr in einem Büro in einer lauten Innenstadt zu arbeiten“

Es gibt viele Menschen, die Angst vor Stille haben. Ist das eine andere Art von Stille oder haben diese Menschen ein gestörtes Verhältnis zu Stille?

Sie haben Angst, zu erfahren, wer sie sind und was sie werden. Die Konfrontation belastet verständlicherweise viele sehr. Viel von dem Lärm, den wir produzieren, dient dem Ego, dem aufgesetzten Narrativ, das uns erzählt, wo wir in der Welt vermeintlich stehen. Social Media ist ein gutes Beispiel. Wir bedienen das Narrativ für uns und für andere, ohne zu wissen, ob es stimmt. In der Stille werden wir uns der Realität bewusst.

Was hat der Film mit Ihnen gemacht?

Ich glaube, ich hatte einen langen Weg zu gehen. Stille erreicht, dass man bewusster mit sich und seiner Umgebung umgeht. Ich wähle meine Worte bewusster, ich achte mehr darauf, welche Geräusche ich mache. Ich arbeite anders. Ich möchte nicht, dass meine Arbeit einfach noch mehr Lärm produziert. Ich bin vielleicht auch etwas merkwürdiger und isolierter geworden. Das sagt jedenfalls meine Frau. Aber ich glaube, ich bin jetzt auf einem bedeutsameren Pfad als Künstler und als Mensch. Das Thema Stille habe ich noch nicht abgeschlossen. Mein nächster Film wird ein experimenteller Kunstfilm über Schatten. Ich möchte etwas schaffen, das dem Bewusstsein von Stille entspringt anstatt sie oberflächlich abzubilden.

An welchem Ort im Film haben Sie sich besonders von der Stille erfüllt gefühlt?

Es gab einen speziellen Ort, aber er war eher wirkungsmächtig als erfüllend. Der stillste Ort der Welt waren zu dieser Zeit mit minus dreizehn Dezibel die Orfield Laboratories in Minnesota. Die Kammer ist so konstruiert, dass sie fast alle Geräusche absorbiert. Ich dachte, ich gehe in den Raum und mache eine bewegende, tiefe, fast religiöse Erfahrung. Ich hörte stattdessen Geklingel in den Ohren. Ich stellte fest, dass ich einen leichten Hörschaden habe, den ich aus meiner Zeit in College-Bands davongetragen habe. Als ich es schaffte, das Geklingel auszublenden, ging das Geplapper los. Es meldete sich das lärmende Ego, von dem ich gerade sprach. Ich spürte Angst, Verstörung und Verwirrung. Erst nach einer halben Stunde konnte ich die warme, einladende Seite der Stille erfahren.

Wie finden Sie in ihrem Alltag Momente der Stille?

Als der Film fertig war, entschied ich, nicht mehr in einem Büro in einer lauten Innenstadt zu arbeiten. Stattdessen habe ich ein kleines Büro in meinen Garten gebaut. Ich sitze dort sechs bis acht Stunden am Tag in Stille und Einsamkeit. Ich arbeite immer noch mit einem Team, aber ich bin nicht mehr immer vor Ort. Ich habe mir etwas Raum genommen und eine neue Routine entwickelt, in der Stille eine förderliche Rolle spielen kann. Außerdem versuche ich jede Alltagssituation als eine Möglichkeit für Stille zu betrachten, egal ob ruhig oder laut. Die Idee kommt in jeder Religion vor, aber besonders im Zen wird sie gelebt. Beim Spülen versuche ich jedes Mal diesen Schritt zurück von der Leinwand zu machen.

Wie kann man sich selbst mit der Stille auseinandersetzen?

Man sollte keine große Offenbarung über das Leben erwarten. Wer in einen Moment der Stille geht, sollte nichts anstreben oder verfolgen. So funktionieren Stille, Meditation oder Gebet nicht. Es geht darum, Aktion zu vermeiden, loszulassen, unseren mentalen Griff zu lockern, einen Schritt von der Leinwand zurückzutreten, einfach nur zu sein. Wer sagt, er habe keinen Raum und keine Zeit für Stille, muss etwas bewusster und disziplinierter im Umgang mit ihr werden. Man kann das lernen, aber nur mit Geduld. Einstiegspunkte gibt es überall. Das Radio im Auto auszustellen, wenn man gar nicht richtig hinhört, ist eine gute Gelegenheit Stille zuzulassen. Lassen Sie mich es wiederholen: Man sollte von diesem Moment nichts erwarten. Es geht nur darum, einen Schritt zurückzutreten.

Zeit für Stille. Ab 9.3.2018 auf DVD

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GASTBEITRAG aus enorm
Text: Jan Menke

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