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„Auch physische Symptome“: Wie Traumata in Familien vererbt werden

Menschen und ihre Erwartungen
Foto: CC0 / Unsplash / Kulli Kittus

Kann man auch unter einem Trauma leiden, wenn einem selbst nie Schlimmes widerfahren ist? Ja, sagt eine Expertin. Sie erläutert, wie Traumata zwischen Generationen weitergegeben werden können und was man dagegen tun kann.

In einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) erklärt die Psychoanalytikerin Galit Atlas, wie transgenerationales Trauma entsteht – wie also besonders schlimme Erfahrungen auch innerhalb Familien vererbt werden können.

Wer ein Trauma vererbt bekommt, so die Expertin, trage es zwar mit sich herum, könne sich aber nicht daran erinnern. Das Trauma spiele sich sodann im Unterbewusstsein ab. Wenn man jedoch selbst ein Trauma erlebt, dann wisse man in der Regel, dass es einem passiert sei – selbst, wenn sich Menschen nicht an einzelne Details mehr erinnern könnten. „Bei transgenerationalen Traumata fühlt es sich eher geisterhaft an“, beschreibt Atlas.

Auf die Frage nach Symptomen sagt Atlas: „Ängste und Albträume zum Beispiel. Es gibt aber auch physische Symptome wie Kopfschmerzen.“ Ihre Patient:innen kämen oft auch nach einschneidenden Lebensereignissen zu ihr und eher selten, um direkt nach „ihrem emotionalen Erbe zu suchen“. Stattdessen würden die Betroffenen erst einmal etwas über sich und ihre Probleme lernen wollen. Denn von vornherein würden die wenigstens Menschen erkennen, dass ihre Beschwerden von vererbtem Trauma herrühren könnten.

Atlas ist führend auf dem Gebiet der relationalen Psychoanalyse und beschreibt dem RND, wie weit die Forschung zu vererbtem Trauma bisher ist: Über drei bis vier Generationen könne sich ein transgenerationales Trauma spannen, Enkel:innen können folglich von Großeltern noch Traumata vererben. Die Forschung dazu habe erst nach dem Holocaust begonnen, erzählt sie, und viele der Wissenschaftler:innen seien selbst Überlebende gewesen. In Amerika etwa werden transgenerationale Traumata bis zurück zur Sklaverei untersucht.

Doch was ist eigentlich ein Trauma? Laut der Deutschen Traumastiftung bezeichnet das Wort „ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann“. Oft sei es die Folge von körperlicher oder auch psychischer Gewalt.

Bindung und Beziehung: Wie funktioniert die Vererbung von Trauma?

Transgenerationale Traumata werden auch in den Naturwissenschaften erforscht, in der Neurowissenschaft und der Epigenetik beispielsweise, so Atlas. Forschende in der Epigenetik beschäftigen sich damit, dass durch Trauma freigesetzte Stresshormone die Gene verändern können, was wiederum an folgende Generationen weitergegeben wird.

Sie als Psychoanalytikerin fokussiere sich in ihrer Forschung „aber sehr auf Bindung und Beziehung“, erklärt Atlas. Der Begriff des „intergenerationalen Unterbewusstseins“ spielt dabei eine Rolle: Nämlich, wie eine Generation in einer anderen weiterlebe, so Atlas. Verschiedene Generationen würden sozusagen ein Unterbewusstsein teilen, weil sie auch unterbewusst miteinander kommunizieren würden.

Allein schon als Neugeborenes reagieren Menschen auf die unterbewusste, nonverbale Kommunikation der Eltern, zum Beispiel deren Gesichtsausdrücke, und spiegeln diese. Auch die Eltern spiegeln ihr Babys, erläutert sie gegenüber dem RND. „Wir gehen davon aus, dass die intergenerationale Übertragung in genau diesen Momenten passiert.“

„Ein Trauma setzt sich auf das andere“

Zum Vorschein kämen diese Traumata, wenn sie in der Gegenwart „berührt“ werden, erklärt Atlas. Ein Beispiel: Wer als Kind vernachlässigt wurde, für den kamen die Erlebnisse wahrscheinlich in der Isolation während der Corona-Pandemie wieder hoch – weil sie sich auch da wieder vernachlässigt und allein fühlten. Ihre Metapher dafür: „Ein Trauma setzt sich normalerweise auf das andere.“

Doch auch ein sogenannter Trigger, der an sich nicht traumatisch ist, könne reichen. Wenn sich zum Beispiel der oder die Partner:in für eine Therapie entscheidet, und man selbst denkt „Wenn ich jetzt nicht auch zur Therapie gehe, dann könnte ich sie oder ihn verlieren“, ist das für die Psychoanalytikerin ein Hinweis: In dem oder der Betroffenen steckt Angst vor dem Verlassenwerden. Und der Grund für diese Angst wiederum ließe sich nicht selten auch durch eine „intergenerationale Suche“ auffinden. In der Hinsicht sei die selten mit ihren Patient:innen allein im Raum, „sondern mit mindestens zwei oder sogar mehreren Generationen“.

Sind Eltern Schuld an den psychischen Wunden ihrer Kinder?

Bei Gesprächen über transgenerationales Trauma gehe es nicht darum, was die eigenen Eltern einem angetan haben könnten, betont sie, sondern darum, was den Eltern selbst widerfahren sein könnte. Die Eltern würden sich oft sehr darum bemühen, gut für ihr Kind zu sorgen, jedoch könnten sie die Auswirkungen ihres intergenerationalen Trauma schlecht abschätzen. Es könnte ihre Erziehung beeinflussen, ohne dass sie es wollen, und diese Erkenntnis sei mitunter „sehr schmerzhaft“, sagt Atlas.

Eltern könnten eine Therapie machen, um von vornherein zu lernen, wie sie besser mit ihren Kindern kommunizieren können. Das würde jedoch nicht zwingend bedeuten, dass die Kinder dann keine Therapie mehr benötigen, sagt die Expertin.

Unter den Kindern in einer Familie würde sich auch meist der sogenannte „identifizierte Patient“ befinden: Normalerweise sei das die sensibelste Person in der Familie, auf die Probleme und pathologische Verhaltensweisen innerhalb der Familie projiziert würden. Er oder sie zeige damit auch die meisten Symptome, und würde daraufhin oft zur Therapie geschickt. Die Eltern und Geschwister würden dabei nicht absichtlich eine:n Schuldige:n suchen, sondern ihn oder sie ganz unbewusst zum „Patienten“ erklären. In der Therapie lernen diese Menschen dann oft erst, dass das ihre Rolle in der Familie ist oder war.

Scham und Schuld, Sex und Geld

Oft dreht sich das transgenerationale Trauma in einer Familie um Geheimnisse, etwa bei eher schambehafteten Themen wie Sex und Geld. Weil sich die Familienmitglieder dafür oft schämen, sprechen sie darüber lieber nicht. Das sei eigentlich ein Versuch, die Kinder zu beschützen, erklärt die Psychoanalytikerin, „wir wollen sie eigentlich vor größerem Schaden bewahren“. Im Grunde würden diese Geheimnisse also aus Liebe gewahrt.

Der Expertin zufolge sind transgenerationale Traumata in Familien auch nicht selten. „Die Wahrheit ist, jede Familie hat ihr Trauma“, sagt sie. Sie seien jedoch auch sehr individuell und würden sich auf sehr unterschiedliche Arten äußern.

Hinweis: Wer mit psychischen Problemen kämpft, sollte sich professionelle Hilfe holen. Kostenlose und anonyme Beratung sind bei der Telefonseelsorge unter 0800 / 1110111 zu finden. Speziell für Jugendliche gibt es unter 116111 die Nummer gegen Kummer. Weitere Beratungsstellen finden sich bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: bzga.de.

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