Eine einzigartige Sichtung vor Island: Ein Orca-Weibchen kümmert sich offensichtlich um ein Grindwal-Kalb. Ungewöhnlich, denn normalerweise sind die beiden Arten verfeindet und verjagen einander. Forschende sind unsicher, ob der Orca das Kalb adoptiert oder entführt hat.
Auf einer Walbeobachtungstour vor Island machten Forschende eine außergewöhnliche Beobachtung, die möglicherweise zu einem neuen Verständnis des Verhaltens von Orcas und ihrer Interaktion mit anderen Arten führen kann. Im Februar dieses Jahres veröffentlichten sie einen Forschungsbericht, der die ungewöhnliche Sichtung beschreibt: ein Orca-Weibchen, das sich um ein Kalb einer anderen Art kümmerte – ein neugeborener Langflossen-Grindwal.
Bisher wurden vor allem Verfolgungsjagden zwischen Orcas und Grindwalen beobachtet, weswegen diese Sichtung als äußerst ungewöhnlich gilt. Es ist dabei allerdings nicht klar, ob das Orca-Weibchen das Grindwal-Kalb adoptiert hat, weil es verweist oder verloren war, oder ob sie es von seinen Eltern gestohlen hat.
Orca kümmert sich um artfremdes Kalb
Im Bericht identifizieren die Forschenden den Orca als ein Weibchen mit dem Namen „Sædís“, welches sie bei vorherigen Sichtungen nie mit einem eigenen Kalb beobachteten. Einer Vermutung zufolge könnte der Orca kurz vor der Begegnung eine Fehlgeburt gehabt oder ein Neugeborenes verloren haben, weswegen sich das Tier ersatzweise um das Grindwal-Kalb kümmerte. Dafür konnten die Wissenschaftler:innen jedoch keine handfesten Beweise finden. Es sei daher zwar unwahrscheinlich, dass Sædís Milch produzierte und das Grindwal-Kalb säugen konnte.
Laut den Wissenschaftler:innen seien Sædís und das Grindwal-Kalb während des 26-minütigen Beobachtungszeitraums in der sogenannten Echelon-Position geschwommen. Dabei handelt es sich um eine Schwimmformation, die es dem Kalb ermöglicht, weniger Energie für die Fortbewegung aufwenden zu müssen. Es sei dem Bericht zufolge „eine Form des Tragens von Säuglingen im Wasser“, die auf fürsorgliches Verhalten des Orcas gegenüber dem Grindwal-Kalb hindeute.
Unklar sei dabei jedoch, ob es sich um eine einseitige Beziehung handelte, oder ob die Anziehung der beiden Tiere auf Gegenseitigkeit beruhte. Zudem können die Forschenden keine Angaben dazu machen, wie die Beziehung begann, wie lange sie dauerte und wie sie endete. Da man Sædís später ohne das Kalb sichtete, gehen die Forschenden allerdings davon aus, dass der junge Grindwal in der Zwischenzeit verstarb.
Alloparentale Pflege: Warum adoptieren Tiere den Nachwuchs anderer?
Orcas und Grindwale ähneln sich dem Bericht zufolge in der Art der Beziehungen, die Muttertiere mit ihrem Nachwuchs aufbauen. Es könnte sich also um eine Form der alloparentale Pflege handeln: eine Form der Brutfürsorge, die nicht von den natürlichen Eltern des Jungtieres gezeigt wird, sondern von deren Artgenossen – in diesem Fall aber artenübergreifend.
Dass sich das Orca-Weibchen auf scheinbar artenübergreifend alloparentale Weise um das Grindwal-Kalb kümmerte, könnte mit sozialen und reproduktiven Vorteilen für den Orca einhergehen. Man gehe nämlich davon aus, dass Tiere, die sich um den Nachwuchs anderer Individuen kümmern, dies beispielsweise tun, um elterliche Erfahrung erwerben zu können.
Die Wissenschaftler:innen vermuten daher, dass Sædís bei dem Versuch, das Grindwal-Kalb als Ersatz für ein eigenes Kalb zu betreuen, wertvolles Wissen über die Kälberpflege erwerben wollte.
Begegnung vielleicht gar nicht so ungewöhnlich
Die bis dato einzigartige Beobachtung eines solchen Vorfalls lässt die Forschenden nun die Art der Interaktionen zwischen Orcas und Grindwalen hinterfragen. Sie sei womöglich komplexer als bisher angenommen. Sædís wurde als Teil einer Gruppe Orcas im Juli 2022 wieder gesichtet. Die Forschenden konnten dabei ein Verhalten feststellen, das möglicherweise durch „eine aktive Bemühung“ von Sædís gesteuert wurde, an ein weiteres Grindwal-Kalb zu gelangen. Die Grindwale hätten mit einer Verfolgungsjagd auf die Orcas reagiert.
Rob Lott von der Wal- und Delfinschutzorganisation „Whale and Dolphin Conservation“, der nicht an dem Bericht beteiligt war, erklärt gegenüber dem Guardian: „Diese Tiere verbringen den Großteil ihres Lebens außer Sicht unter Wasser und oft weit draußen auf dem Meer, sodass diese außergewöhnliche Begegnung vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist.“ Er erklärt weiter: „Wenn es sich um eine Entführung handelte, könnte dies eine Erklärung dafür sein, warum Langflossen-Grindwale oft gesehen werden, wie sie Orca-Gruppen verjagen.“
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