Deutsche Städte sind für Autos und nicht für Menschen gemacht. Das muss aber nicht so sein. Zweieinhalb Jahre habe ich in Singapur gelebt. Der südostasiatische Inselstaat ist mir in dieser Zeit ans Herz gewachsen – nicht zuletzt wegen seiner visionären Verkehrspolitik.
Mittwochmorgen, U6 Richtung Garching-Forschungszentrum in München. Es ist 8.30 Uhr – Rush Hour in der Innenstadt. Die Menschen schieben sich am Bahnsteig am Odeonsplatz entlang, dicht an dicht, teils kopfschüttelnd. Einige Studierende suchen auf ihren Smartphones hektisch nach Alternativrouten, andere warten mit stoischem Blick auf die nächste U-Bahn. Sie scheinen „Weichenstörung“, „Zugausfall“ oder „Arbeiten am Gleis“ nur allzu gut zu kennen – Verkehrsstörungen, die in München keine Seltenheit sind, und die auch mich unzählige Nerven kosten.
Vor fünf Jahren habe ich die bayerische Landeshauptstadt verlassen. Nach einem Zwischenstopp in Berlin ging es für zweieinhalb Jahre nach Singapur: in die Stadt der Zukunft, wenn es um Digitalisierung und vor allem Mobilität geht.
Deutschlands Dauer-Baustellen, Singapurs tadellose MRT
Würde man den Menschen dort von den Münchner Dauer-Baustellen, wie einst das Sendlinger Tor, oder den Endlos-Staus in Berlin-Mitte berichten, bekäme man ein freundliches wie mitleidiges Lächeln. Denn im südostasiatischen Stadtstaat, der ähnlich groß ist wie Hamburg, funktioniert insbesondere die MRT (Mass Rapid Transit) – das fast über die gesamte Insel vernetzte U-Bahn-System – tadellos. Ein Grund dafür sind die autonom fahrenden Züge.
Als ich 2020 das erste Mal in die MRT steigen wollte, suchten meine Augen auf der Anzeigentafel verzweifelt nach Abfahrtszeiten – bis ich verstand: Es braucht sie gar nicht. Im Drei- bis Fünf-Minuten-Takt fuhr die Bahn ein, keine Signalstörungen, blockierte Weichen, überfüllten Züge als Folgeerscheinung, oder Stopps auf offener Strecke. Mit Wehmut denke ich an die „Blue Line“, meine damalige Stammstrecke in Singapur, zurück. Vor allem, wenn an deutschen U-Bahnhöfen wieder einmal die Durchsage „Unsere Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit“ ertönt.
Nahverkehr in Singapur: Günstig und gut vernetzt
Ein weiterer Pluspunkt: Im sonst so teuren Singapur ist eine einfache Fahrt mit der MRT sehr günstig: Sie variiert je nach Distanz zwischen umgerechnet 1,50 Euro und maximal 1,70 Euro – unabhängig davon, wie viele Haltestellen angefahren werden oder in welcher Stadt-Zone man sich befindet. Zum Vergleich: In Bayern bezahlt man dafür bei der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) allein in der Innenstadt (Zone M) 3,70 Euro. 5,90 Euro, will man sich in den Zonen M und 1 bewegen. Je weiter es in den Außenbereich geht, desto teurer wird es.
Mit dem neu eingeführten 49-Euro-Ticket profitieren angesichts der deutschen Preise vor allem Vielfahrer:innen; in Singapur aber soll der Nahverkehr nicht nur für alle bezahlbar sein. Die Regierung hatte von Anfang an auch die Umwelt im Blick: Durch die gute Anbindung, faire Preispolitik und die rigiden Auto-Regularien, steigen die Menschen auf MRT, Straßenbahn (LRT), Bus oder E-Taxi um – anstatt sich ein eigenes Fahrzeug zuzulegen.
5,7 Millionen Menschen in einer Stadt, die „Car Lite“ feiert
In nackten Zahlen heißt das: Auf gut 5,7 Millionen Menschen kommen in Singapur derzeit rund 650.000 angemeldete Pkw. In Berlin sind bei rund 3,7 Millionen Einwohner:innen doppelt so viele Autos – 1,23 Millionen – zugelassen.
Wer auf der südostasiatischen Insel ein eigenes Auto haben möchte, muss dafür ein Vermögen bezahlen. Denn die gesonderte Zulassungsgebühr für Pkw im Land orientiert sich prozentual am Marktwert des Fahrzeugs. Bei einem Auto, das mehr als 40.000 Singapur-Dollar (SGD) – umgerechnet rund 27.000 Euro – kostet, macht die sogenannte „Additional Registration Fee“ inzwischen über 190 Prozent des Marktwerts aus. Singapur selbst nennt diese Maßnahme, die in Deutschland bislang undenkbar ist, „Car Lite“.
Ich selbst, der nie ein Auto gehört hat, weil ich durchweg in Großstädten gelebt und das Privileg einer zentralen Wohnung genossen habe, kann der starken Regulierung viel abgewinnen – zumindest in Innenstädten mit gut ausgebautem Nahverkehrsnetz. Denn sie bedeutet mehr Lebensqualität. Städte sollten für Menschen und nicht für Fahrzeuge gemacht sein.
Gehwege, die für Menschen gemacht sind
Wie sich das anfühlen kann, hat mir Singapur gezeigt: Straßenzüge, die mehr parkende Fahrzeuge als Häuser erkennen lassen, sucht man dort nämlich vergebens. Beim Spazierengehen in Downtown – einem der Verkehrshotspots der Stadt – konnte ich mich in normaler Lautstärke unterhalten; Gehwege in den Szenevierteln Chinatown oder Tanjong Pagar waren tatsächlich zum Spazierengehen und nicht zum Parken da – und der Straßenverkehr, wenn man Taxi oder Bus gefahren ist, meist im Fluss.
Doch nicht nur die schiere Masse an Fahrzeugen unterscheidet Singapur von deutschen Städten: Mit der Unabhängigkeit des südostasiatischen Landes 1965 war auch die Idee einer „Garden City“ geboren. Die ehemalige britische Kolonie, die später im zweiten Weltkrieg von Japan besetzt wurde, sollte grundlegend transformiert werden: in eine lebenswerte Stadt, die sauber und im Einklang mit der Natur ist, wie der erste Premierminister Lee Kuan Yew damals erklärte.
Mit eiserner Hand zum grünen Stadtstaat
Der Gründervater war ein Visionär mit fragwürdiger Haltung. Er formte Singapur maßgeblich zu dem aufstrebenden grünen Stadtstaat, der er heute ist. Jedoch hielt er „ein Übermaß an Demokratie“ für schädlich. Bis heute ist die Presse- und Meinungsfreiheit in Singapur eingeschränkt; der Freedom House Index etwa bewertet die politischen wie bürgerlichen Rechte im Land als „teilweise frei“.
Trotz oder gerade wegen seines politischen Systems war Singapur in ökologischen Belangen seiner Zeit voraus. 1992 entwickelte die Regierung ihren ersten „Greenplan 2002“, der darauf abzielte, Singapur innerhalb der nächsten zehn Jahre bei voranschreitender Urbanisierung ganzheitlich ökologisch zu gestalten. Man konzentrierte sich zunächst auf die Abgaswerte, um die Luftverschmutzung unter Kontrolle zu bekommen. Bis heute ist die Luft in Singapur im Vergleich zu anderen Ländern der Region sauber. Die Feinstaubwerte verschlechtern sich vor allem dann, wenn der Brandrodungssmog aus Malaysia rüberzieht.
Bis 2031 soll die gesamte Insel per MRT erreichbar sein
Geht es nach der aktuellen Regierung, steht Singapur noch nicht am Ende der Verkehrs- und Mobilitätswende. Bis 2031 soll die gesamte Insel per MRT erreichbar sein. Genauer gesagt: Acht von zehn Haushalte sollen dann nicht länger als zehn Minuten benötigen, um eine MRT-Haltestelle zu erreichen.
Gleichzeitig werden Autofahrende künftig noch mehr in die Pflicht genommen. Ab 2025 sind Neu-Anmeldungen für Diesel-Fahrzeuge verboten. Allerdings machen sie nur rund drei Prozent aller Pkw im Land aus – jedoch rund 41 Prozent aller Taxis.
Damit ein Diesel-Verbot nicht zu einem Umstieg auf Benziner führt, beginnt die Regierung, die Infrastruktur für E-Autos auszubauen. Insgesamt 60.000 neue E-Ladestellen sollen demnach im Stadtstaat verteilt bis 2030 errichtet werden; drei Viertel in öffentlichen Car Parks, der Rest auf privaten Flächen. Außerdem bekommen Käufer:innen von E-Autos seit Januar 2021 eine Art Rabatt auf die horrende Zulassungsgebühr. Auch die Maut-Gebühren, die auf Singapurs Schnellstraßen anfallen, wurden zugunsten von E-Autos angepasst. Obgleich Busse vom Diesel-Verbot nicht betroffen sind, will Singapur seine gesamte Bus-Flotte bis 2040 auf Elektro- und Hybridmotoren umstellen. Im selben Jahr sollen dann gar keine reinen Verbrenner mehr auf den Straßen fahren.
Wo bleibt der technologisch ausgefeilte ÖPNV?
Für einige Menschen mag das nach „Öko-Diktatur“ klingen. Doch meine Zeit in Singapur hat mir verdeutlicht, dass ein umfassender, kundenorientierter und technologisch ausgefeilter Nahverkehr private Pkw in Innenstädten nahezu obsolet machen kann. Natürlich sollte es immer individuelle Ausweichmöglichkeiten – sei es Carsharing oder Fahrdienste – geben, zu sozial fairen Preisen und möglichst vollelektrisch. Gleichzeitig empfinde ich deutsche Städte, in denen ernsthaft Fahrradwege Autospuren weichen müssen und eine als Fußgängerzone geplante Friedrichsstraße doch wieder für Pkw geöffnet wird, als rückständig. Wie aus der Zeit gefallen kommt mir die Verkehrspolitik in meinem Heimatland vor. Ein Grund mehr, wieso ich Singapur vermisse.
Hinweis: Der Artikel erschien 2023.
Ob zum Einkaufen, zur Arbeit oder in den Urlaub: Ständig bewegen wir uns von A nach B. Wie wir das tun, hat einen direkten Einfluss auf die Umwelt und das Klima. Utopia legt deshalb in einer Themenwoche den Fokus darauf, wie wir „besser unterwegs“ sein können. Dabei stellen wir Fragen wie „Wie kann man nachhaltig(er) verreisen?“, „Wie werden Städte zu Fahrradstädten?“ und „Wie ist es, auf dem Land auf das Auto zu verzichten?“ Alle Beiträge aus der Themenwoche findest du unter dem Tag „Besser unterwegs“.
Verwendete Quellen: LTA Pkw-Statistik, Autokarte Berlin Tagesspiegel, The Straits Times, Freedom House Index, MRT Singapore, LTA MRT-Projekte
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