Christopher Stoll ist Veganer – außer wenn er selbst ein Tier erlegt. Warum er darin keinen Widerspruch sieht und warum das Jagen für ihn ethisch korrekt ist, verrät der „Jeganer“ im Interview mit Utopia.
In den letzten Jahren hat sich in der Jagdszene eine kleine Nische aufgetan, die zwei vermeintlich gegensätzliche Ernährungsweisen vereint. Sogenannte „Jeganer:innen“ sind einerseits überzeugte Veganer:innen, die Tierprodukte aus konventioneller Haltung ablehnen, andererseits aber dennoch eigenes Wild erlegen und verzehren. Analog dazu gibt es auch „Jegetarier:innen“, die zwar generell Tierprodukte konsumieren, aber nur selbst erlegtes Fleisch essen.
Doch kann das Töten von Tieren jemals mit den Idealen des Veganismus vereint werden? Christopher Stoll ist ein solcher „Jeganer“. Er sieht darin keinen Widerspruch. Der 31-Jährige, der eine Lernplattform für angehende Jäger:innen betreibt, lehnt Tierprodukte aus dem Supermarkt aus moralischen Gründen ab. Jagen findet er aber nicht nur legitim, es macht ihm sogar Spaß.
Was seine Beweggründe sind, was Jäger:innen und Veganer:innen gemeinsam haben und wie er das Töten von Tieren moralisch bewertet, erklärt Stoll im Utopia-Interview.
Durch die Jagd zum Veganismus
Utopia: Was war bei Ihnen zuerst da: Der Veganismus oder das Jagen?
Christopher Stoll: Ich bin schon als Kind mit dem Angeln in Berührung gekommen. Das kann man auch als Form des Jagens bezeichnen. Deshalb würde ich sagen, das Jagen war zuerst da. Aber über diese Thematik kam ich zu der Frage: Wie kann es sein, dass wir aus unserem Fleisch etwas so Abstraktes machen? Das liegt im Supermarkt, aber dass ein Tier dafür stirbt und leidet, davon ist dort keine Spur.
Was hat dieser Gedanke in Ihnen ausgelöst?
Ich habe mit 22 eine Jagdausbildung begonnen, um besser zu verstehen, was es heißt, ein Tier zu töten. Damals wusste ich nicht, ob ich es wirklich durchziehen würde. Die Ausbildung hat aber mein Bewusstsein für tierische Nahrungsmittel geschult. Mir wurde klar: Fleischkonsum ist für mich legitim, wenn ich das Tier selbst erlege, es esse und es komplett verwerte. Wenn ich das nicht gekonnt hätte, dann hätte ich darauf verzichtet und wäre ein klassischer Veganer geworden.
Also haben Sie sich erst durch das Jagen dem Veganismus angenähert?
Genau. Das Unverständnis für unseren Fleischkonsum war schon davor da, aber ich bin trotzdem noch in den Supermarkt gegangen und habe dort Fleisch gekauft. Eine wichtige Erfahrung war es für mich, den Jagdschein zu machen. Ich stellte mir Fragen wie: Was bedeutet es, ein Tier zu töten? Welcher Sinn steckt dahinter? Kann die Jagd Antworten auf Fragen liefern, die es legitimieren, einem Tier das Leben zu nehmen?
Offenbar haben Sie Antworten auf diese Fragen gefunden.
Ja, für mich ist es so, wie es im Tier- und Naturschutzgesetz steht: Kein Mensch darf ein Tier ohne einen vernünftigen Grund töten. Ein vernünftiger Grund ist zum Beispiel die Nahrungsmittelgewinnung. Das gilt für mich aber nur für die Jagd, nicht für Massentierhaltung. Davon bin ich ganz weit entfernt.
Worin liegt für Sie der wesentliche Unterschied?
Jagd ist das Gewinnen eines hochwertigen Lebensmittels von einem Tier, das sein Leben selbstbestimmt geführt hat. Es steht auf der Wiese und erfährt einen sehr plötzlichen Tod, ohne Schmerz, ohne Leid und ohne Lebendtransport zu Schlachthöfen.
„Das Tier soll direkt umfallen“
Ist die Jagd wirklich ohne Leid? Beschreiben Sie doch mal eine typische Jagd.
Ich setze mich auf den Hochsitz und warte, ob ein Tier vorbeikommt, meistens ein Reh oder ein Wildschwein. Dann sehe ich genau hin und prüfe, ob ich es überhaupt erlegen darf. Dabei gibt es viel zu beachten, etwa das Geschlecht, das Alter oder ob das Tier möglicherweise eine Krankheit hat.
Beim Schuss selbst denke ich vor allem an Perfektion: Ich will alles richtig machen. Das Tier soll direkt umfallen. Dementsprechend bin ich aufgeregt. Natürlich nicht so sehr, dass ich nicht mehr funktioniere, sondern auf kontrollierte Weise. Und dann beobachte ich das Tier ganz genau, prüfe auch nochmal: Sind irgendwo Spaziergänger? Habe ich den richtigen Kugelfang, also schieße ich von oben, damit das Geschoss auch sofort in den Boden eindringt – und nicht unkontrolliert weiterfliegt?
Wenn dann der Schuss raus ist, das Tier liegt und es gut getroffen ist, dann ist das eine sehr große Erleichterung. Das Tier ist sofort gestorben. Und dann entsteht auch Freude über den Jagderfolg.
Können Sie verstehen, wenn diese Freude angesichts der Tötung eines Lebewesens, auf andere Menschen seltsam wirkt?
Es ist nicht – und so wird es häufig assoziiert – Freude am Töten. Es ist vielmehr Erleichterung. Freude, die vor allem deshalb zum Ausdruck kommt, weil die Anspannung abfällt. Das kennt jeder, der schon mal einen Vortrag gehalten hat und sehr aufgeregt war. Doch am Ende ist es auch ein toller Moment, wenn man dieses Tier für sich verwertet und weiß, ich habe das von A bis Z alles selbst gemacht, den handwerklichen Prozess komplett begleitet. Ich richte mich auch nach dem Nose-to-Tail-Prinzip, nutze also alles vom Tier und nicht nur die beliebten Stücke.
„Natürlich kann es vorkommen, dass ein Schuss schlecht sitzt“
In Ihrem Szenario ist das Tier sofort gestorben. Doch was, wenn ein Schuss mal nicht sitzt und ein Tier verletzt flüchtet. Dann würde es ja doch leiden?
Die in Deutschland am häufigsten ausgeführte Form der Jagd ist die Ansitzjagd. Dabei wird von einem Hochsitz aus geschossen. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier ein Schuss daneben geht, ist sehr gering. Denn mit den Jagdgewehren und den Zielfernrohren, die wir nutzen, ist es sehr leicht, auf 100 bis 150 Meter zu schießen. Wer das nicht kann, besteht die Jagdprüfung nicht.
Was aber, wenn der Schuss daneben geht?
Natürlich kann es vorkommen, dass ein Schuss schlecht sitzt. Menschen können immer Fehler machen. Doch auch im Straßenverkehr können wir jederzeit einen Unfall verschulden. Das ist nicht schön, aber wir setzen uns trotzdem ins Auto. Sollte doch mal ein Tier verletzt werden, gibt es sogenannte Nachsuchen-Hundeführer, die das Tier aufspüren und dann von seinem Leid erlösen.
Wie viele Tiere erlegen Sie pro Jahr?
Etwa vier bis fünf. Es handelt sich dabei um Rehwild und Schwarzwild, also Rehe und Wildschweine.
„Veganer und Jäger haben sehr ähnliche Sichtweisen“
Und wie reagieren konsequente Veganer:innen auf Ihre Lebensweise?
Ich habe noch keine negativen Erfahrungen gemacht. Wenn man die Argumente für die Jagd sachlich hervorbringt, stößt man tendenziell schon auf Verständnis.
Tatsächlich haben Veganer und Jäger sehr ähnliche Sichtweisen. Beide Lager wollen nicht, dass Tiere leiden, wollen keine Massentierhaltung und keine Transportwege. Sie wollen, dass Tiere selbstbestimmt leben. Am Ende bleibt immer nur eine Frage übrig: Ist es legitim, ein Tier zu töten?
Die meisten Veganer:innen würden wohl mit einem klaren Nein antworten.
Ja, aber wir machen uns häufig die Illusion, dass wir zu 100 Prozent konsequent leben könnten. Selbst Vegetarier werden von einigen Veganern kritisiert, weil die nicht ganz so konsequent sind. Dabei ist es eine super Sache, wenn die schon mal kein Fleisch essen. Wenn ich das kritisiere, wo ziehe ich die Grenze? Im Straßenverkehr sterben in Deutschland jedes Jahr mehr Tiere als bei der Jagd. Das sind ungefähr 16 Millionen Vögel und drei Millionen Säugetiere. Bei der Jagd werden ungefähr vier Millionen Tiere erlegt. Ich glaube wir müssen uns deutlich machen, dass wir als Menschen immer auch negative externe Effekte kreieren und absolute Konsequenz nicht möglich ist.
„Der Mensch hat A gesagt, jetzt muss er B sagen“
Neben der Nahrungsgewinnung, gibt es noch weitere Gründe, die Ihrer Meinung nach für die Jagd sprechen?
Jagd erfüllt einen ökologischen Nutzen, weil wir überwiegend Kulturlandschaften haben und eben kaum gewöhnliche Urwälder mehr, die sich von allein regulieren. Der Mensch hat schon A gesagt: Er hat große Ackerflächen und große Maisfelder angebaut, in denen Wildschweine und Co. einen reich gedeckten Tisch haben. Jetzt muss er auch B sagen.
Das heißt?
Für einen nachhaltigen Waldumbau hin zu naturnahen Mischwäldern – und das ist gerade auch ein Ziel der EU – müssen wir Wild jagen. Denn angenommen ich pflanze in einem Kiefernwald 100 kleine Buchen. Dann ist es für das Wild absolut attraktiv, diese kleinen Buchen anzufressen. Jagd schützt diese Bäume, wodurch sie folglich auch einen positiven Effekt auf das Klima hat. Massentierhaltung hingegen hat einen sehr negativen Effekt, wie wir alle wissen.
Aber könnte man die Bäume nicht einfach anders schützen?
Die Alternative zur Jagd sind Zäune. Doch die zerschneiden die Lebensräume des Wildes, das sich dann auch wieder nicht mehr so frei bewegen kann. Außerdem sind sie ein Kostenfaktor für den Staat. Der zentrale Punkt ist der: Wir greifen in die Natur ein, managen alle Pflanzen und bei den Tieren wird dann häufig gesagt, dass wir uns um die nicht zu kümmern bräuchten. Wenn man die Jagd aber ablehnt, dann muss man Fleischkonsum komplett ablehnen, was ich auch vollkommen legitim finde. Aber wenn man zu Fleischkonsum an sich Ja sagt, aber dann zur Jagd Nein, dann ist das ein Widerspruch, den man nicht auflösen kann.
„Jägerinnen und Jäger mit Bewusstsein ausbilden“
Haben Sie jemals daran gezweifelt, ob das Jagen und Töten von Tieren moralisch legitim ist?
Wirklich gezweifelt habe ich in den neun Jahren nie. Im Gegenteil: Ich will dieses Bewusstsein für Tiere, für Natur und für Jagd sogar noch viel mehr in die Öffentlichkeit bringen. Deshalb habe ich vor vier Jahren eine Firma gegründet, in der wir Lernmedien für angehende Jäger bieten.
Birgt das nicht die Gefahr, dass Sie auch Menschen an die Jagd heranführen, die weniger gewissenhaft handeln?
Bei uns ist die ethische Komponente ganz stark ausgeprägt, weil wir eben keine Leute erziehen wollen, die Schießer sind. Wir wollen Jägerinnen und Jäger mit Bewusstsein ausbilden. Die verschiedenen wissenschaftlichen und philosophischen Argumente für und gegen Jagd sind mir bekannt. Für mich persönlich gibt es einfach mehr Argumente, die für die Jagd sprechen.
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