„Vielfalt statt Einfalt“ – das ist eigentlich ein Credo in der Modebranche. Für kleinwüchsige Menschen galt dies jedoch eher weniger, denn es fanden sich kaum Designer, welche auch diese Zielgruppe in den Blick nahmen. Dank dem Berliner Modelabel „Auf Augenhoehe“ gibt es nun mehr Diversität in der Mode.
Menschen, die nicht irgendeiner „Norm“ entsprechen, haben es oftmals schwer in der Modeindustrie – so auch kleinwüchsige Menschen. Immerhin mehr als 50.000 Menschen leben in Europa mit der Kleinwuchsform Achondroplasie und konnten bis dato hierzulande kaum passende Kleidung in Läden finden. Das Modelabel „Auf Augenhoehe“ will das nun möglich machen.
„Kleidungen gibt es in allen Styles, Formen, Farben und Größen. In den bekannten Modegeschäften ist für jeden etwas dabei. Für kleinwüchsige Menschen ist das Angebot allerdings verschwindend gering“, erklärt die Gründerin Sema Gedik. Aufmerksam wurde die Modedesignerin auf diesen Missstand durch ihre kleinwüchsige Cousine Funda. Auch sie hatte ständig Schwierigkeiten, passgerechte Kleidung zu finden.
Nach mehreren Gesprächen mit Betroffenen stellte Gedik schnell fest: Das Problem betrifft nicht nur ihre Cousine, denn sie fand schlichtweg keine Mode für kleinwüchsige Menschen: „Bis dato gehen Menschen mit Kleinwuchs in der Kinderabteilung einkaufen oder lassen ihre Kleidung aufwendig abändern. Aber als erwachsene Frau oder erwachsener Mann hat man andere Bedürfnisse bei der Kleidung als ein Kind. Daher war für mich klar: Hier muss sich etwas ändern.“
Mercedes-Benz Fashion Week als Sprungbrett
Am Anfang stand allerdings kein eigenes Modeunternehmern im Vordergrund. Gedik widmete sich lediglich in ihrer Bachelorarbeit dem Thema und legte erste Konfektionsgrößen anhand individueller Vermessungen von Menschen mit Kleinwuchs an.
Nach einer Nominierung für die Mercedes-Benz Fashion-Week 2015 durch ihren Professor wurde die Gründerin direkt eingeladen, um ihre Kollektions-Idee vorzustellen: „Das hat mich sehr gefreut, denn mir wurde bewusst: Es ist das erste Mal weltweit, dass kleinwüchsige Menschen auf einem internationalen Runway laufen und nicht die klassischen dünnen großen Models“, erinnert sich Gedik zurück.
Es gibt zwar bereits Initiativen in diesem Bereich: So liefen 2014 in Moskau bei einer Fashion Week für Menschen mit körperlichen Einschränkungen kleinwüchsige Models auf dem Laufsteg, aber dass diese zusammen mit den klassischen Cat-Walk-Größen laufen, ist tatsächlich ein Novum. Auch Modelabels für Achondroplasie haben sich schon etabliert, wie etwa Oli & Bou aus Kanada für kleinwüchsige Kinder oder die Designerin Kathy D Woods aus den USA für Frauen. Allerdings stellt Gediks Projekt eine Besonderheit dar, da es erstmals umfassende und groß angelegte Konfektionsgrößen-Tabellen entwickelt, anhand derer das Label dann Mode sowohl für Männer als auch für Frauen designed.
„Was nach der Fashion-Show passierte – damit hätte ich allerdings nie gerechnet“, gesteht die Designerin. Bereits am nächsten Tag gab es mehrere Artikel in europäischen Zeitungen mit Schlagzeilen wie: „Nachwuchs-Designerin Sema Gedik macht Mode für Kleinwüchsige mit ihrem Label ‚Auf Augenhoehe‘“. Zu diesem Zeitpunkt war „Auf Augenhoehe“ allerdings lediglich der Name ihrer Bachelorarbeit, ein Modelabel noch in weiter Ferne. „Ich habe mich gefragt: Ist dass denn ein Modelabel, was ich hier gerade entwickle?“, erzählt die Gründerin. Nach der positiven Resonanz der Fashion Week stand für die Designerin fest, dass sie weiter arbeitet an ihrer Idee.
Passgenau dank eigens entwickelter Konfektionsgrößen
Im April 2018 nun – drei Jahre nach der Mercedes Benz Fashion Week – stellt Sema Gedik mit ihren Kollegen Jan Siegel, Elisabeth Kitzerow und Natalia Wisniewskie in einem eigenen Webshop ihre Kollektion vor.
Dafür erhielt das junge Modelabel über ein Crowdfunding auf der Plattform Startnext finanzielle Unterstützung. Zusätzlichen konzeptionellen Support liefern unter anderem die „Kultur und Kreativpiloten Deutschland“ und auch das Land Berlin ist über den ESF (Europäischen Sozialfond) sowohl finanziell als auch konzeptionell dabei.
Die Konfektionsgrößen für ihre Mode hat die Designerin komplett selbst entwickelt. Dafür ist sie einmal um die ganze Welt gereist und hat Maße von über 400 Menschen mit Kleinwuchs aus Chile, Bolivien, Spanien und Deutschland genommen.
Auf Augenhöhe mit der Modeindustrie und Gesellschaft
Das Besondere an dem Label ist nicht nur, dass es die weltweit erste Konfektionsgröße für kleinwüchsige Menschen herstellt, sondern auch, dass es für „Gleichberechtigung und Vielfalt in unserer Gesellschaft“ sensibilisieren will, so die Gründerin über das Unternehmen. „Wir führen dieses vernachlässigte Thema aus seinem Nischendasein heraus und begegnen der Modeindustrie und Gesellschaft ‚Auf Augenhöhe‘“, erläutert Sema Gedik die Idee hinter der Namensgebung.
Dafür setzt die Designerin auf Kundenorientierung, indem sie kontinuierlich Interviews mit ihren Kunden führt, um die Mode auf deren Bedürfnisse und Wünsche abzustimmen. Da sich „Auf Augenhoehe“ fortlaufend in der Forschungsphase befindet und sämtliche Größentabellen selbst herstellt, werden über Fragebögen auf der Homepage neue Maße von Probanden genommen.
Über solche Interviews fand Gedik auch heraus, dass kleinwüchsige Menschen keine passenden Strumpfhosen finden. Kurzerhand schrieb die Gründerin mehrere Firmen an. Das deutsche Strumpfhosen-Unternehmen „Glamori“ meldete sich und seither bietet „Auf Augenhoehe“ die ersten Strumpfhosen in seinem Webshop an. Das scheint einen Nerv zu treffen: sie sind momentan das beliebteste Produkt. Da aktuell ungefähr 70 Prozent der Kunden weiblich sind, verwundert das aber nicht.
Ob „Cardigan Kandel“ oder „Chino Hose Itz“ – auch bei der Benennung der Mode ist Kreativität im Spiel: Die Oberbekleidung ist nach Deutschen Bergnamen und die Unterbekleidung nach deutschen Flussnamen entstanden. Derzeit holen sich die Designer Inspiration aus Italien, hiervon sollen dann die Namen der neuen Kollektion zeugen.
Zukünftig noch inklusiver werden
Langfristig ist das Ziel, noch inklusiver zu werden. „In unserem neuen Online-Shop werden daher nicht nur von uns produzierte Kleidungsstücke für kleinwüchsige Menschen eingestellt, sondern auch Merchandises, wie unsere Sportbags, die jeder – egal ob klein oder groß – nutzen kann. So kommen wir unserer Vision einer inklusiven Modewelt ein Stück näher“, erklärt Gedik. Aktuell kooperiert das Modelabel auch mit der Porzellanfabrik „Kahla“ und bietet wiederverwendbare To-Go-Cups an.
„Über die Interviews habe ich festgestellt, dass sich kleinwüchsige Menschen wünschen, dass das Einkaufen für sie normalisiert wird. Wenn sie irgendwann mit ihrer nicht-kleinwüchsigen Freundin gemeinsam in einem Laden einkaufen können – dann haben wir unser Ziel erreicht“, ergänzt die Designerin. Die positive Resonanz bei den Kunden zeigt, dass das Label eine Lücke in der Modeindustrie entdeckt hat und diese nun kontinuierlich schließt – mit der Hoffnung, Mode zukünftig tatsächlich auf Augenhöhe produzieren zu können.
Gastbeitrag aus Enorm
Text: Theresa Kost
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