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„Radwege kann man im Vergleich zu einer Autobahn aus der Portokasse zahlen“ – Changing Cities zur Verkehrswende

Ragnhild Soerensen von Changing Cities über Verkehrswende
Fotos: Norbert Michalke/Changing Cities, Ragnhild Soerensen

Wie werden deutsche Städte lebenswerter? Wie schaffen wir Platz und Sicherheit für Radfahrende und Fußgänger:innen? Und wie kann die Verkehrswende in Deutschland doch noch gelingen? Utopia hat mit der Pressesprecherin von Changing Cities gesprochen – der Stimme für die Verkehrswende von unten.

Staus, stinkende Abgase und wenig Fahrradspuren – so sieht die Verkehrssituation nicht nur in München, sondern in vielen deutschen Städten aus. Das muss sich ändern. Das Gute daran: Mobilität ist ein Bereich, in dem die oder der Einzelne eine große Wirkung erzielen kann. So sieht das auch Ragnhild Sørensen, Pressesprecherin bei Changing Cities.

Der Verein möchte als Ehrenamtsorganisation die Verkehrswende in Deutschland und speziell in den deutschen Städten vorantreiben. Wir haben mit Frau Sørensen darüber gesprochen, wie viele Autos Städte vertragen, warum sie die Berliner Landesregierung manchmal an der Politik zweifeln lässt und weshalb wir in ganz Deutschland Kiezblöcke brauchen.

Wie werden unsere Städte lebenswerter? Changing Cities im Interview

Utopia.de: Frau Sørensen, auf Ihrer Website schreiben Sie, dass sich Ihr Verein für lebenswerte Städte einsetzt. Sind deutsche Städte bislang denn nicht lebenswert?

Ragnhild Sørensen: Nein, sind sie nicht. Nächste Frage bitte (lacht). Spaß beiseite: In den vergangenen 70 Jahren haben sich die Städte zunehmend zu autogerechten Orten entwickelt. Am Anfang war es eine Utopie, dass wir weit weg schön im Grünen wohnen und dann einen weiten Weg zur Arbeit fahren. Doch diese Utopie ist inzwischen übererfüllt. Wir haben jetzt so viele Autos auf den Straßen, dass alle Menschen in Deutschland auf den Vorderbänken sitzen könnten. Wir bräuchten keine Rücksitzbänke mehr.

Das ist viel zu viel. Wir haben die Städte mit Autos vollgestopft, obwohl wir wissen, dass die Fahrzeuge 96 Prozent der Zeit nur rumstehen. Diese Ineffizienz, die wir uns erlaubt haben, macht die Städte rein faktisch nicht mehr lebenswert. In Berlin zum Beispiel gibt es viele Bezirke, in denen wir mehr Platz für parkende Autos haben als Grünfläche. Wir müssen diesen Raum für die Menschen zurückerobern.

Utopia: Autos verbrauchen aber nicht nur viel Platz.

Sørensen: Nein, sie verschmutzen auch die Luft und sorgen für eine hohe Lärmbelästigung.

Ragnhild Sørensen: Wenn wir Autos anders nutzen, bräuchten wir nur noch ein Drittel der Fahrzeuge

Utopia: Man kann die vielen Probleme, mit denen Städte zu kämpfen haben, also allesamt auf das Auto zurückführen?

Sørensen: Alle Probleme nicht, aber viele. Das Umweltbundesamt hat zum Beispiel berechnet, dass wir unsere Mobilität mit etwa 150 Autos pro 1.000 Einwohner:innen decken können. Deutschlandweit kommen wir aktuell aber auf 580 Autos. Wenn wir – und ich spreche nicht mal davon, dass aus Klimaschutzgründen auch weniger Auto gefahren werden sollte – diese vielen Autos nicht so lange rumstehen lassen, sondern sie anders nutzen würden, könnten wir die Zahl der Autos auf ein Drittel reduzieren. Das würde das Stadtbild komplett verändern, plötzlich hätten wir viel freien Raum.

Utopia: Ihr Verein hat sich vor rund acht Jahren aus der Initiative Volksentscheid Fahrrad Berlin heraus gegründet. Ist Berlin weiterhin Ihr Fokus, weil dort die meisten Probleme herrschen in Deutschland?

Sørensen: Berlin ist ein bisschen wie unser Baby, weil wir dort herkommen. Aber wir arbeiten bundesweit. Der erste Radentscheid in Berlin hat Nachahmerinnen in ganz Deutschland gefunden hat. Wir haben momentan über 50 Radentscheide in der Bundesrepublik. Die Menschen sagen damit deutlich: Es muss möglich sein, sicher und komfortabel mit dem Rad zu fahren. Wir wollen nicht ins Auto gezwungen werden, weil wir uns nicht trauen, auf der Straße zu laufen oder mit dem Rad zu fahren.

Changing Cities: Die Berliner Landesregierung bremst die Verkehrswende massiv aus

Utopia: Was hat Changing Cities – abgesehen vom Radentscheid – bisher in Berlin erreicht?

Sørensen: Aus dem Volksentscheid heraus haben wir das Mobilitätsgesetz mit dem Berliner Senat [Name der Berliner Landesregierung, Anmerkung der Redaktion] verhandelt, eines der fortschrittlichsten Gesetze zum jetzigen Zeitpunkt. Wir mussten aber die bittere Erfahrung machen, dass man auch für die Umsetzung eines Gesetzes politischen Willen braucht. Wenn Menschen in Politik und Verwaltung ein Gesetz nicht wollen, wird es auch nicht umgesetzt. Mit der neuen Berliner Landesregierung [ein Bündnis aus CDU und SPD, Anm. d. Red.] erleben wir gerade, dass die Verkehrswende massiv ausgebremst wird.

Utopia: Inwiefern bremst die Berliner Regierung die Verkehrswende aus?

Sørensen: Es gab bereits den ersten Versuch, das Mobilitätsgesetz umzuschreiben. Das Mobilitätsgesetz schreibt den Vorrang des Umweltverbundes, also Fuß-, Radverkehr und ÖPNV, vor. Das möchte die CDU-SPD-Regierung im Moment gerne zurückdrehen, sodass man eben nicht mehr in erster Linie für den Fuß-, Radverkehr und ÖPNV bauen soll, sondern eher für den Autoverkehr. Die Regierung stoppt die Planung von vielen, vielen Radprojekten, die gesetzlich vorgeschrieben sind und lehnt bewilligte Förderungen vom Bund ab. Seit fast zwei Jahren passiert einfach gar nichts mehr: Bus-Sonderspuren werden nicht eingerichtet, Tramprojekte liegen auf Eis.

An manchen Tempo-30-Bereichen, die eingeführt wurden, weil die Luft so schlecht war, herrscht inzwischen wieder Tempo 50. Zusätzlich hält man an Renovierungen von großen Hauptverkehrsstraßen und am Autobahnausbau wie der A 100 fest. Wenn es so weitergeht, werden bald Stadtviertel abgerissen für eine Autobahn in Berlin. Das muss man sich 2024 einmal vor Augen führen, das ist wirklich krass.

Die Autobahn A100 in Berlin soll weiter ausgebaut werden, dabei ist die Idee alles andere als zeitgemäß.
Die Autobahn A100 in Berlin soll weiter ausgebaut werden. (Foto: Pixabay/ CC0/ stux)

Utopia: Wie viel Autoverkehr wäre verträglich für eine lebenswerte Stadt?

Sørensen: Eine exakte Zahl zu nennen, ist schwierig, denn es hängt auch davon ab, wie die Stadt sonst organisiert ist. Im Modell einer 15-Minuten-Stadt, wie zum Beispiel Paris anstrebt, braucht man sehr viel weniger Autos, weil die Wege nicht mehr so lang sind. Wenn ich allerdings in Brandenburg wohne und 50 Kilometer in die Stadt fahren muss, brauche ich ein Auto. Natürlich wäre ein guter ÖPNV hier wünschenswert, aber so etwas dauert und ist bei einer dünnen Besiedlung nicht immer realisierbar.

Die 150 Kraftfahrzeuge pro 1.000 Einwohnern des Umweltbundesamtes sind deshalb ein guter Richtwert. Wichtig dabei ist, dass die Autos nicht mehr alle im Privatbesitz sind, sondern geteilt werden. Autos in der Stadt sind nicht per se das Problem, sondern die Masse an Autos, die wir momentan haben.

Utopia: Was hieße das konkret für Berlin?

Sørensen: In Berlin haben wir im Moment rund 280 Kraftfahrzeuge auf 1.000 Einwohnerinnen, also vergleichsweise wenig Fahrzeuge. Wenn wir uns die berechnete Zahl des Umweltbundesamts zum Ziel setzen, bräuchten wir nur noch etwa die Hälfte der momentan angemeldeten Autos. Diese Zielmarke kann ich mir für eine Stadt wie Berlin gut vorstellen.

„Macht keinen Sinn, die schwierigsten Aufgaben zuerst zu lösen“

Utopia: Was entgegnen Sie Menschen, die darauf pochen, ihr eigenes Auto zu fahren – auch in der Stadt?

Srensen: Natürlich gibt es Leute, die ihr Auto gern behalten wollen. Es macht aber keinen Sinn, die schwierigsten Aufgaben zuerst zu lösen. Wir sollten zuvor die große Masse an Menschen bedienen, die gerne eine Alternative hätten. Wir müssen das Radfahren sicherer machen und Buslinien einrichten, damit Busse nicht im Stau stehen. Wenn jeder, der es möchte, vom Auto auf ÖPNV und Rad umsteigen könnte, würde das Platz für diejenigen schaffen, die gerne Auto fahren oder aufs Auto angewiesen sind.

Utopia: Bedeutet das, man braucht für die Verkehrswende gar nicht die breite Masse, sondern es reicht eine Gruppe von „Überzeugungstäter:innen“ aus?

Sørensen: Es geht leider nicht nur um die Überzeugung, es geht immer über die Infrastruktur. Wenn es keine sicheren Radwege gibt, wenn die Kreuzung nicht sicher ist, dann kann man noch so überzeugt sein, dann trauen sich viele Menschen trotzdem nicht in der Stadt Fahrrad zu fahren. Wir müssen zuallererst diese Sicherheit herstellen.

Utopia: Mit einem innerstädtischen Tempolimit von 30 km/h, wie der ADFC (Allgemeiner deutscher Fahrradclub) es fordert?

Sørensen: Auf jeden Fall, Tempo 30 ist entscheidend. Oslo und Helsinki zum Beispiel haben es eingeführt und haben tatsächlich keine Verkehrstoten mehr. Wir dagegen haben in Berlin noch viele Straßenabschnitte, die so dermaßen gefährlich ist, dass ich mein zehnjähriges Kind, das ja auf der Straße fahren muss, dort nicht fahren lassen kann. Mit einer wirklich guten und sicheren Infrastruktur aber kommen die Menschen.

Radverkehr: „Mit einer guten Infrastruktur kommen die Menschen“

Utopia: Man muss die Menschen also gar nicht aktiv fürs Radfahren begeistern, sondern ein gut ausgebautes und sicheres Radnetz allein reicht schon aus, dass die Leute aufs Fahrrad umsteigen?

Sørensen: Ja, es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass das so funktioniert. Das Prinzip gilt auch für den Autoverkehr. Dieser wurde so komfortabel ausgebaut, dass es etwa auf dem Land kaum Alternativen gibt. Heute kann man nicht anders, als mit dem Auto zu fahren, weil es breite Straßen gibt und keine Alternativen. Auch das Parken kostet nichts oder wie in Berlin nur zehn Euro pro Jahr fürs Anwohnerparken. Diesen Komfort wollen wir für den Umweltverbund erreichen, dann steigen die Leute auch um.

Utopia: Ohne Menschen, die sich lautstark äußern, hätte es aber auch den Fahrradentscheid Berlin nicht gegeben.

Sørensen: Der schnellste Weg zur Veränderung läuft über politisches Engagement. Vor allem in den Städten sind die Menschen viel weiter als die Politik, sie leiden am meisten unter dem überbordenden Autoverkehr. Deswegen haben wir auch so viele Radentscheide und Fußentscheide. Wir brauchen diese Verkehrswende von unten, denn wenn wir es nur dem Bundesverkehrsminister überlassen würden, passiert nichts. Die Politiker:innen trauen sich nicht oder wollen vielleicht auch gar nichts ändern. Wir müssen deshalb lautstark den Sinn der Verkehrswende kommunizieren, weil wir erstens unsere Städte lieben und zweitens auch eine drohende Klimakrise haben, auf die wir adäquate Lösungen finden müssen.

Was Verkehrspolitik ignoriert: Wie soll der Verkehr in Zukunft aussehen?

Utopia: Sie haben die Klimakrise angesprochen. Der Verkehr in Deutschland ist für 22 Prozent der Treibhausgasemissionen der Bundesrepublik verantwortlich. Was muss das Bundesverkehrsministerium dagegen tun?

Sørensen: Das größte Projekt, das angegangen werden muss, ist der Bundesverkehrswegeplan (BVWP). Der jetzige wurde 2016 verabschiedet und gilt bis 2030. Gerade arbeitet das Ministerium am nächsten, dem BVWP 2040.

Der BVWP 2030 bräuchte ein Moratorium, da er zu einem Zeitpunkt erstellt wurde, an dem die Klimaziele nicht berücksichtigt wurden. Das ist eine „Good old Autos sind die Zukunft“-Planung. Klima spielt darin keine Rolle, Gesundheit auch nicht. Stattdessen heißt es darin: Bauen, bauen, bauen.

Das Verkehrsministerium geht weiterhin nach diesem Prinzip vor und lässt Prognosen erstellen, wie sich der morgige Verkehr auf Basis des heutigen Verkehrs entwickeln wird. Da kommt man schnell zum Ergebnis, dass wir 2040 mehr Verkehr haben werden und deshalb mehr Straßen brauchen.

Sinnvoller wäre aber der Ansatz, zu fragen, wie soll der Verkehr in Zukunft aussehen? Wie wollen wir ihn gestalten? Stützt man sich nur auf Prognosen, die abbilden, was bisher gemacht wurde, wird die Zukunft quasi nur als eine Verlängerung der Vergangenheit verstanden. So kann nichts Neues entstehen.

Utopia: Mit welchen Projekten versucht Changing Cities, dieses Verständnis von Verkehr zu ändern?

Sørensen: Wir sind stolz auf die extrem erfolgreiche Kiezblock-Bewegung, die wir 2020 gestartet haben, weil uns der Radwegeausbau zu langsam ging. Die Grundidee haben wir uns von Barcelona abgeguckt, wo es seit 2015 sogenannte Superilles gibt. Dabei wird der Durchgangsverkehr im Viertel bzw. im Kiez unterbunden.

Man braucht dazu einen Anwohner:innenantrag mit 1.000 Unterschriften, dann muss sich die Bezirksversammlung mit dem Thema auseinandersetzen. Wir haben derzeit 72 Initiativen in Berlin, 36 davon, also die Hälfte, sind beschlossen, die übrigen sind noch in der Mache. Wir treiben das Konzept auch bundesweit voran, denn wir haben gemerkt, dass diese sehr lokale Verkehrswende sehr gut bei den Menschen ankommt. Die Anwohner:innen machen sich Gedanken zu ihrem Wohnumfeld und wünschen sich ruhigere und grünere Straßen und Plätze.

Utopia: Das klingt nach einer Maßnahme für die Verkehrswende, die nicht viel kostet.

Sørensen: Absolut, man braucht nur drei oder vier Poller – das ist extrem günstig und vor allem schnell umsetzbar – wenn man will. Im Waldseeviertel im Norden von Berlin allerdings haben wir jetzt eine Klage gegen den Bezirk eingereicht, weil er die vor drei Jahren beschlossene Verkehrsberuhigung nicht umsetzt. Mit einem Urteil erhoffen wir uns eine Art Präzedenzfall, der aufzeigt, wann Menschen ein Recht auf Verkehrsberuhigung haben.

Ist die Verkehrswende zu teuer? „Könnten Radwege bis zum Mond bauen“

Utopia: Kritiker:innen argumentieren oft damit, dass die Verkehrswende in Deutschland nicht finanzierbar sei. Stimmt das?

Sørensen: Momentan werden Autoprojekte mit Milliardenbeträgen finanziert. Wenn wir das Mobilitätsbudget aber stattdessen in den ÖPNV oder in Radwege stecken würden, kämen wir schon sehr weit. Allein wenn wir Subventionen wie das Dieselprivileg abbauen, könnten wir Radwege bis zum Mond bauen.

Hinzu kommt, dass ein gefahrener Autokilometer den Staat 0,20 Euro kostet. Das sind Gesundheits-, Straßenbau- und Umweltkosten. Mit einem Fahrradkilometer dagegen verdient die Gesellschaft 0,30 Euro, weil die Menschen sich mehr bewegen und dadurch unter anderem Gesundheitskosten wegfallen. Und den Bau von Radwegen kann man im Vergleich zu einer Autobahn sozusagen aus der Portokasse zahlen. Wir haben das Geld, wir müssen aber entscheiden, wie wir es ausgeben.

Utopia: Wann ist die Arbeit von Changing Cities erfüllt?

Sørensen: Es sind immer kleine Schritte, mit denen wir uns einer perfekten Welt annähern. Wenn wir lebenswerte Städte haben, verschwinden nicht automatisch alle Interessenskonflikte. Die Urbanisierung hört nicht von heute auf morgen auf, auch künftig werden mehr und mehr Menschen in die Städte ziehen. Wir werden deshalb auf weniger Quadratmeter zusammenwohnen müssen. Das sind einschneidende Veränderungen. Wichtig ist, dass wir diese Konflikte anders austragen können, als wir es im Moment tun und die Lebensqualität mit mehr grüner Infrastruktur in den Städten hoch halten.

Utopia: Was stimmt Sie positiv, dass wir diese Konflikte gesellschaftlich lösen können?

Sørensen: Wir sehen, dass es zwar viel zu langsam, aber dennoch vorangeht. Vor fünf oder sechs Jahren haben wir beim Abendbrot nicht über den Sinn oder Unsinn von Autobahnen geredet. Heute aber ist Verkehr zum Kulturkampf geworden. Diese Verschiebung ist enorm, das Problem bleibt weiter die Umsetzung der Verkehrswende. Starke finanzielle Interessen mit Wurzeln in der fossilen Welt bremsen die Transformation aus.

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