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„Wirtschaftswachstum ist ein Flachwurzler“

Foto: dioxin Quelle: photocase.com

„Große Teile der Welt hängen am Wirtschaftswachstum wie Alkoholiker an der Flasche“, behauptet Professor Meinhard Miegel. Utopia hat mit dem Wissenschaftler über seine provokanten Positionen gesprochen. Teil 1 der neuen Utopia-Serie: Muss die Wirtschaft ewig wachsen?

„Exit. Wohlstand ohne Wachstum“ – so heißt das aktuelle Buch, das Professor Meinhard Miegel geschrieben hat. Der renommierte Sozialwissenschaftler untersucht die „Ersatzreligion“ Wirtschaftswachstum und stellt fest: „Große Teile der Welt hängen am Wirtschaftswachstum wie Alkoholiker an der Flasche oder Drogensüchtige an der Nadel.“ Mit Utopia hat er über das vorherrschende Wachstumsdogma gesprochen.

Utopia: Von der Steinzeit bis heute – welche Rolle spielt Wirtschaftswachstum in der Geschichte der Menschheit?

Meinhard Miegel: Während des längsten Teils der Menschheitsgeschichte gab es kein Wirtschaftswachstum. Es beginnt erst mit der Sesshaftwerdung des Menschen vor etwa 8.000 Jahren. In den Jahrzehntausenden davor wirtschafteten die Menschen, ohne dass sie ihre Güter- und Dienstmenge vergrößerten. Aber auch nach Sesshaftwerdung des Menschen veränderte sich nur wenig. So schätzen Wirtschaftshistoriker, dass sich in den 1.000 Jahren zwischen Karl dem Großen und Napoleon die pro Kopf erwirtschaftete Gütermenge in Europa gerade einmal verdoppelt hat. Erst mit der Industrialisierung beschleunigt sich dieser Prozess. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer abermaligen Verdoppelung. Die stichflammenhafte Expansion des Wirtschaftswachstums ereignete sich aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesen 50 Jahren verfünffachte sich die in früh industrialisierten Ländern erzeugte Güter- und Dienstmenge. Wenn wir von Wirtschaftswachstum sprechen, sprechen wir also von einer sehr kurzen Periode. Zu sagen, es sei die Natur des Menschen, dass seine Wirtschaft ständig wachse, findet keinen Beleg in der Geschichte. Wirtschaftswachstum ist historisch betrachtet ein ausgesprochener Flachwurzler.

Warum führt dann die Säkularisierung der Gesellschaft zu einem neuen Verständnis von Wachstumsprozessen?

M.M.: Mit der Säkularisierung verblasst das bis dahin gepflegte Gottesbild, und die Menschen suchen einen neuen Lebenssinn. Bis dahin lautete die Antwort auf die Sinnfrage, Gott zu loben und zu preisen und dadurch in den Himmel zu kommen. Die Menschen betrachteten ihr irdisches Dasein als eine kurze Zeit der Prüfung, als das Durchwandern eines Jammertals. Ihr eigentliches Ziel war es, zur Anschauung Gottes zu gelangen. Mit der Säkularisierung änderte sich das. Nunmehr sagten sich die Menschen, der Sinn ihres Lebens sei ihr irdisches Dasein. Und folglich konnte dieses Dasein gar nicht lange genug dauern und zugleich sollte es materiell möglichst opulent sein. Seitdem ist das Glücks- und Heilsversprechen der säkularisierten Gesellschaften die permanente Mehrung materiellen Wohlstands. Voraussetzung hierfür ist Wachstum. Dieses Versprechen wurde scheinbar – ich betone scheinbar – über einen gewissen Zeitraum eingehalten, nämlich während des 19. und 20. Jahrhunderts. Wenn ich scheinbar sage, dann deshalb, weil auch während dieser Zeit eine Wohlstandsillusion genährt worden ist. Diese Illusion schwindet, wenn Menschen erkennen, dass sie den Preis für den erlangten Wohlstand noch gar nicht entrichtet haben. Denn seit Beginn der Industrialisierung wurden in großem Umfang natürliche Ressourcen verbraucht und die Umwelt belastet. Darüber hinaus wurde die menschliche Gesellschaft zermürbt. Entsprechende „Rücklagen“ wurden jedoch nicht gebildet. Oder anders formuliert: Die Menschheit hat eine gewaltige Zeche auflaufen lassen, die ihr jetzt präsentiert wird. Werden die Kosten des Wohlstands von diesem abgezogen, bleibt zwar immer noch etwas übrig, aber so sehr viel ist das nicht.

Warum gilt für Sie die Gleichung nicht: Wohlstand = Wachstum?

M.M.: Wie ich eben schon angedeutet habe, ist der heutige materielle Wohlstand in erheblichem Umfang durch Schulden finanziert. Folglich befinden wir uns in der Situation von Erben, die eine überschuldete Erbschaft angetreten haben. Solche Erben müssen arbeiten und arbeiten, ohne dass sich dadurch ihr Wohlstand erhöhen würde. Sie stopfen ja nur die Löcher, die ihre Eltern verursacht haben. Das ist Wachstum ohne Wohlstandsmehrung. Ein Beispiel: Da erklärt die Europäische Union, in den nächsten drei Jahrzehnten etwa zwei Billionen Euro aufwenden zu müssen, um das „2 Grad Celsius Ziel“ einhalten zu können. Was sind denn diese zwei Billionen Euro? Doch nichts anderes als der Preis für bereits genossene Wohltaten. Es ist also durchaus möglich, dass das Statistische Bundesamt auch in Zukunft Wachstumsraten verzeichnet. Aber immer mehr Menschen werden feststellen, dass sie nichts davon haben. Sie werden auch bei harter Arbeit wirtschaftlich auf der Stelle treten oder sogar zurückfallen. Dass das Motivationsprobleme aufwirft, scheint mir unmittelbar einsichtig.

Das heißt, wir brauchen auch eine andere Form der Wohlstandsmessung?

M.M.: Unbedingt. Wenn Wohlstand wie bisher im Wesentlichen aus Materiellem besteht, werden die Menschen zunehmend enttäuscht sein. Denn das Materielle wird in wohlhabenden Ländern wie Deutschland – wenn überhaupt – kaum noch zunehmen. Um dieser Enttäuschung vorzubeugen, muss der Wohlstand der Zukunft sehr viel mehr immaterielle Elemente enthalten, als das in der Vergangenheit der Fall war. In gewisser Weise wird der Wohlstand wieder mehr jenem Wohlstand ähneln, der vor Beginn der Industrialisierung für die Menschen maßgeblich war. Vor der Industrialisierung bedeutete Wohlstand vorrangig Gesundheit und ein Wohl-Stehen mit Mitmenschen und Gott. Auch wenn solche Vorstellungen künftig nicht wieder die Bedeutung haben werden wie in der vorindustriellen Periode, wird der Wohlstandsbegriff der zurückliegenden 200 Jahre dennoch nachhaltig modifiziert werden. Verluste im materiellen Wohlstandssegment werden kompensiert werden müssen durch Zugewinne im immateriellen. Anderenfalls werden die Menschen unglücklich werden.


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In der Zeitung lauten häufig zwei Aussagen: Unternehmen müssen wachsen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Und: Nur ein Wirtschaftswachstum über der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität schafft neue Arbeitsplätze. Gibt es daher in der Marktwirtschaft einen Zwang zum Wirtschaftswachstum?

M.M.: Nicht in der Marktwirtschaft als solcher, aber in ihrer derzeitigen Ausprägung. Denken Sie nur an die ganze Zinsproblematik. Dass es hier noch viele unbeantwortete Fragen gibt, ist offensichtlich. Schließlich wurde seit Generationen nicht mehr darüber nachgedacht, wie Probleme zu lösen sind, wenn das Wachstum ausbleibt. Aber es nützt ja nichts. Gäbe es Wachstum, das nicht die Ressourcen irreversibel verbraucht, ohne Ersatz zu schaffen sowie die Umwelt und die Gesellschaft zu belasten, wäre es eine großartige Sache. Da es dieses Wachstum aber nicht gibt, bringt es wenig, sich hinzustellen und zu sagen: Aber wir brauchen doch das Wachstum, damit unsere Wirtschaft funktioniert. Vielleicht brauchen wir es, aber wir werden es ganz schlicht nicht mehr haben. Darauf gilt es sich einzustellen. Konkret bedeutet das, dass einige Unternehmen sich wie bisher sehr dynamisch entwickeln können und aufsteigen. Eine gleich große oder vielleicht sogar größere Zahl wird jedoch absteigen. Anders als bisher wird die Zahl der Gewinner nicht größer sein als die Zahl der Verlierer. Das bedeutet unter anderem, dass der Kapitaleinsatz immer risikoreicher werden wird. Einen Vorgeschmack dessen bekommen wir gerade in diesen Wochen und Monaten.

Wie sieht es mit dem Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen aus?

M.M.: Es gilt das Gleiche wie eben. Im bestehenden System lassen sich bei Wirtschaftswachstum Arbeitsplätze leichter schaffen als ohne ein derartiges Wachstum. Doch diese Betrachtung hilft nicht weiter. Vielmehr muss der gesamte Bereich von Wirtschaft und Arbeit neu gestaltet werden. In den zurückliegenden 200 Jahren wurde menschliche Arbeit permanent ersetzt durch Kapital, sei es in Form von Innovationen oder – noch viel entscheidender – in Form von Rohstoffverbrauch, insbesondere dem Verbrauch fossiler Energieträger. Dadurch ist die Arbeit weitgehend an den Rand des Wertschöpfungsprozesses gedrängt worden. Die Menschen in Europa arbeiten heute nur etwa halb so viel wie vor 100 Jahren und gleichzeitig hat sich der Einsatz natürlicher Ressourcen verfünffacht. Da diese Strategie jedoch nicht länger Erfolg versprechend ist, wird menschliche Arbeit eine Renaissance erfahren. Sie wird betriebswirtschaftlich betrachtet attraktiver sein als gegenwärtig. Darüber hinaus wird ein noch größerer Teil der Produktionsgewinne in Freizeit umgesetzt werden. In der Vergangenheit wurde etwa die Hälfte der Produktivitätsgewinne in Freizeit und die andere Hälfte in Wachstum umgesetzt. Diese Formel hat keinen Ewigkeitswert. Alles in allem mache ich mir aber über den Arbeitsmarkt der Zukunft die geringsten Sorgen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Anteil erwerbsfähiger Menschen in den vor uns liegenden Jahrzehnten zumindest in Europa zügig zurückgehen wird.

Welche Alternativen sehen Sie zu einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik, wie sie im Moment praktiziert wird?

M.M.: Das Wichtigste ist, dass die Politik nicht länger den Eindruck erweckt, sie könne den Wachstumsfaden dort wieder aufnehmen, wo er ihr vor 30 Jahren entglitten ist. Den Menschen muss reiner Wein eingeschenkt werden, damit sie ihre Kreativität auf veränderte Herausforderungen lenken. Ständig von Wachstum zu reden und dieses als Schlüssel zum Ganzen zu betrachten, hilft nicht weiter. Mehr noch: es lähmt. Es wäre schon ein hehres Ziel, das erreichte materielle Niveau zu halten und gleichzeitig immaterielle Wohlstandsformen zu vitalisieren. Wenn das gelänge, könnten die früh industrialisierten Länder mit sich sehr zufrieden sein.


Zur Person

Meinhard Miegel wurde 1939 in Wien geboren. Er studierte 1958 bis 1966 Philosophie, Soziologie und Rechtswissenschaften in Washington D.C., Frankfurt/Main und Freiburg. Stationen: 1973 bis 1977 war er Mitarbeiter des CDU-Generalsekretärs, Kurt Biedenkopf; ab 1975 leitete Miegel die Hauptabteilung Politik, Information und Dokumentation der CDU in Bonn. 1977 bis 2008 war er Wissenschaftlicher Leiter des „Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn“ (IWG BONN). 1992 bis 1998 arbeitete Miegel als Professor an der Uni Leipzig, er war dort Leiter des „Zentrums für Internationale Wirtschaftsbeziehungen“. 1995 bis 1997 war er Vorsitzender der „Kommission für Zukunftsfragen“ von Bayern und Sachsen. Seit 2007 ist Miegel Vorsitzender des „Denkwerks Zukunft – Stiftung kulturelle Erneuerung“.

Buchtipp: Meinhard Miegel, „Exit. Wohlstand ohne Wachstum“

 

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