Ein Gespräch mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Philip Kovce zum Thema: Wie bunt in 500 Jahren die Idee des Grundeinkommens diskutiert wurde – und was wir heute daraus lernen können.
Die Diskussion übers Grundeinkommen ist nicht neu, sondern schon über 500 Jahre alt. Der Wirtschaftswissenschaftler Philip Kovce kennt sich mit dem Thema aus wie kaum ein zweiter. Wir, von der Triodos Bank, haben mit ihm gesprochen.
Was viele Menschen nicht wissen: Die Idee des Grundeinkommens ist uralt! Seine Geschichte geht schon bei Thomas Morus los, der von 1478 bis 1535 gelebt hat. Welche Vorstellungen hatte der britische Politiker zu diesem Thema?
Morus lässt 1516 im ersten Teil seines Romans „Utopia“ erörtern, wie die damaligen Verhältnisse im britischen Königreich aussehen. Dabei diskutieren seine Protagonisten auch über die Todesstrafe, die seinerzeit sogar für Mundraub verhängt wird. Diese Strafe wird in vielerlei Hinsicht als unangemessen betrachtet. Denn ein Mensch, so heißt es bei Morus, den der nackte Überlebenskampf gleichsam zur Räuberei zwingt, könne nicht in derselben Weise für seine Tat haftbar gemacht werden wie jemand, der allein aus moralischer Niedertracht ein Verbrechen begeht.
Deshalb erscheint es Morus als Staatsmann und Humanist sinnvoller, Mittellose mit einer Einkommensgarantie auszustatten, statt ihnen kurzerhand den Kopf abzuschlagen. Morus war schon vor gut 500 Jahren Pragmatiker genug, um die Einkommensgarantie als Beitrag zur inneren Sicherheit zu verstehen, und Idealist genug, um darin einen menschenrechtlichen Anspruch zu erkennen.
Hat sich Morus konkret geäußert, wie dieses garantierte Einkommen aussehen könnte?
Dazu ist nichts weiter überliefert. Wobei man betonen muss, dass Morus allein mit diesem Anliegen seiner Zeit bereits weit voraus ist. Mit der Forderung nach einer grundrechtlichen Einkommensgarantie anstelle drakonischer Strafen für Diebe und milder Gaben für Bettler steht er im 16. Jahrhundert politisch auf verlorenem Posten. Deshalb versucht er, wenigstens im Rahmen seiner persönlichen Möglichkeiten humanistischen Ansprüchen zu genügen. Er gilt als äußerst freigiebiger Philanthrop und gewährt anderen immer wieder aus eigener Tasche eine Art Grundeinkommen.
Ein weiterer Vordenker war Thomas Paine, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika.
Ja. Wobei Paine, im Unterschied zu Morus, nicht nur vom Ziel eines Grundeinkommens träumt, sondern auch einen politischen Weg dorthin aufzeigt. Als aufgeklärter Befürworter der Amerikanischen und Französischen Revolution begründet er 1797 in seiner Schrift „Agrarische Gerechtigkeit“ den Anspruch jedes Einzelnen auf einen Anteil der Früchte der Erde. Die Erde sei nicht von Menschenhand erschaffen und ursprünglich das gemeinschaftliche Eigentum aller, weshalb laut Paine alle gleichermaßen davon profitieren sollten.
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Aber Grund und Boden sind längst Privateigentum. Wie will Paine dieses Problem lösen?
Paine ist kein Gegner des Privateigentums an Grund und Boden. Im Gegenteil: Er sieht darin sowie in der modernen Arbeitsteilung sogar zivilisatorische Fortschritte wie die Produktivitätssteigerung der Wirtschaft im Allgemeinen bzw. die Ertragssteigerung der Landwirtschaft im Besonderen begründet. Von daher erscheint es ihm absurd, Privateigentum an Grund und Boden abzuschaffen und zu agrarischer Selbstversorgung zurückzukehren.
Dennoch besteht Paine darauf, dass jeder Mensch qua Geburt als Anteilseigner der Erde mit unveräußerlichen Grundrechten ausgestattet ist. Deshalb schlägt er vor, Nationalfonds aufzulegen, die jedem Einzelnen unabhängig von Leistung und Bedarf seinen finanziellen Anteil der natürlichen Ressourcen gewähren. Wobei die Fonds mittels Erbschaftsteuern auf Grundbesitz finanziert werden sollen.
Für Frankreich sieht Paine ganz konkret vor, jedem Bürger zunächst mit Beginn der Volljährigkeit einmalig ein Grundkapital sowie ab dem 50. Lebensjahr jährlich eine Grundrente auszuzahlen. Zwar fordert Paine noch kein lebenslanges existenzsicherndes Grundeinkommen, aber vor allem seine naturrechtliche Begründung läuft letztlich genau darauf hinaus.
Das ist erstaunlich modern für die Zeit, in der Paine diese Gedanken entwickelt hat …
Hinzukommt, dass Paine zeit seines Lebens für die Abschaffung der Sklaverei eintritt und unter den Gründervätern der Vereinigten Staaten zu den wenigen zählt, die tatsächlich keine Sklavenhalter sind.
Wenn man Paines grundrechtliche Argumentation gegen Sklaverei bzw. für Grundkapital und Grundrente auf die heutige ökonomische Situation anwendet, dann landet man in ausdifferenzierten Überflussgesellschaften unmittelbar bei der Forderung nach einem lebenslangen existenzsichernden Grundeinkommen für alle.
Ähnlich argumentierte der Engländer Thomas Spence, ein Zeitgenosse von Thomas Paine. Er dachte aber schon viel mehr an ein Grundeinkommen, wie wir es uns heute vorstellen. Wie kam er dazu?
Während Paine am Privateigentum an Grund und Boden festhalten und die französischen Erben eine zehnprozentige Erbschaftsteuer zahlen lassen will, geht Spence dieser Vorschlag nicht weit genug. Ja, er wirft Paine geradezu vor, mit seiner bescheidenen Forderung seine naturrechtliche Begründung zu unterlaufen.
Spence fragt sich: Warum eigentlich nur schlappe zehn Prozent Erbschaftsteuer? Wer erwirtschaftet denn den Mehrwert der Landbesitzer? Nicht diese selber, nicht die Reichen und Schönen, sondern die Besitzlosen, die armen, elenden Arbeiter! Also gebühren ihnen nicht bloß einige Krümel, sondern große Teile des Kuchens! Deshalb fordert Spence nicht Grundkapital und Grundrente, sondern tatsächlich ein Grundeinkommen für alle. In diesem Sinne radikalisiert er Paines Ideen und landet dafür mehrfach in britischen Gefängnissen.
Ein klarer Angriff auf die Herrschafts- und Besitzverhältnisse von damals und heute, oder?
Auf jeden Fall! Spence will das Privateigentum an Grund und Boden abschaffen und in Gemeineigentum umwandeln, das treuhänderisch verpachtet wird. Aus den Pachterlösen sollen sowohl öffentliche Aufgaben als auch vierteljährlich ein existenzsicherndes Grundeinkommen finanziert werden. Auf diese Weise will Spence die Sozialbindung des Eigentums an Grund und Boden garantieren und der Ausbeutung der Arbeiter vorbeugen.
Wichtig ist in diesem Kontext, dass die Forderungen von Paine und Spence nichts mit irgendwelchen parteidiktatorischen, planwirtschaftlichen Verhältnissen des real existierenden Sozialismus zu tun haben. Und auch mit dem Bismarck’schen Sozialstaat haben sie weniger gemein, als man zunächst denken könnte. Auf der einen Seite befürworten Paine und Spence eindeutig Demokratie und Marktwirtschaft. Auf der anderen Seite verstehen sie ihre Forderungen gerade nicht als Sozialleistungen für Bedürftige, sondern als Grundrechte aller.
Welche Rolle spielt Friedrich Schiller in dieser Diskussion?
Schiller ist theoretisch gesehen ein ähnlicher Fall wie Morus. Zwar liegt von ihm kein ausgearbeiteter Grundeinkommensvorschlag auf dem Tisch, aber sowohl in seinen Dichtungen als auch in seinen Briefen findet sich die Idee angedeutet. So heißt es etwa 1797 in dem Zweizeiler mit dem Titel „Würde des Menschen“: „Nichts mehr davon, ich bitt’ euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, / Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“
Schiller weiß, wovon er spricht, denn praktisch gesehen ist er das Gegenteil von Morus. Er ist kein begüterter Gönner, der anderen private Grundeinkommen gewährt. Vielmehr ist er selbst andauernd auf Gönner angewiesen. Seinem Mäzen, dem Prinzen von Augustenburg, dessen Förderung sich letztlich Schillers „Ästhetische Briefe“ (1805) verdanken, schreibt er bereits 1793 in einem Brief: „Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muss warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll.“
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Wann schlägt die Diskussion ums Grundeinkommen besonders große Wellen?
Grundsätzlich gilt: Das Grundeinkommen wird immer wieder im Zuge geschichtsträchtiger Ereignisse diskutiert. Beispielsweise angesichts der Amerikanischen und Französischen Revolution, der 1848er-Revolutionen, der zwei Weltkriege oder des Mauerfalls. Weil das Grundeinkommen die herrschenden Verhältnisse grundlegend ändert, spielt es vor allem dann eine große Rolle, wenn grundlegende Veränderungen an der Zeit sind. Aktueller Anlass für Grundeinkommensdiskussionen ist meistens die digitale Revolution mit ihren unabsehbaren Folgen. Damit sind wir in der Gegenwart angelangt.
Wir sollten aber noch einen Blick auf Paul Lafargue werfen, der Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gewirkt hat. Was hat er zur Diskussion ums Grundeinkommen beigetragen?
Während sein Schwiegervater Karl Marx 1848 im „Kommunistischen Manifest“ noch „gleichen Arbeitszwang für alle“ fordert, plädiert Lafargue 1880 in seiner gleichnamigen Streitschrift für ein „Recht auf Faulheit“. Warum?
Lafargue nennt dafür mehrere Gründe. Erstens: Arbeiter sollten nicht länger mit Maschinen konkurrieren. Vielmehr sollten sie heilfroh sein, dass Maschinen sie von der Arbeit befreien. Zweitens: Wer zu viel arbeite, arbeite schlechter und werde krank. Dazu liegen seinerzeit erste arbeitsmedizinische Studien vor, die Lafargue, der selber Arzt ist, als Beweismittel zitiert. Drittens: Nicht mehr der Mangel, sondern der Überfluss sei inzwischen das Problem. Um es zu lösen, müsse nicht für mehr Arbeit, sondern für mehr Freizeit gekämpft werden.
Wie wollte Lafargue das „Recht auf Faulheit“ durchsetzen?
Mit drastischen Maßnahmen. Er fordert etwa eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung auf maximal drei Stunden pro Tag. Außerdem plädiert er für ein Grundeinkommen in Höhe von damals stattlichen 20 Francs pro Tag. Wobei man Lafargues teils ironische, teils sarkastische Ausführungen nicht immer wortwörtlich nehmen muss. Vielmehr gilt es, das Grundanliegen zu verstehen, nämlich anstelle der Fetischisierung des Fleißes eine Demokratisierung der Muße anzustreben, damit aus einstigen Lohnsklaven künftige Freigeister werden können.
Lassen Sie uns einen Sprung zu Milton Friedman im 20. Jahrhundert machen. Der marktradikale Ökonom hatte ja auch sehr spezielle Vorstellungen, wie ein Grundeinkommen funktioniert.
Friedman lässt sich ganz gut mit Paine kontrastieren. Paine begründet zwar ein Grundeinkommen, fordert es aber nicht. Bei Friedman ist es genau umgekehrt: Er fordert zwar ein Grundeinkommen, begründet es aber nicht. Für Friedman ist das Grundeinkommen keine Lösung, sondern eine Notlösung. Er würde den Sozialstaat am liebsten ganz abschaffen und Armut bloß mittels Charity bekämpfen.
Weil es Friedman jedoch unrealistisch erscheint, wieder ins Almosen-Mittelalter zurückzukehren, will er wenigstens die ausufernden Sozialleistungen samt ihrer kostspieligen Kontrollbürokratie minimieren. Dafür schlägt er eine negative Einkommensteuer vor, das heißt Steuergutschriften für alle, deren Einkommen unterhalb des Existenzminimums liegt.
Friedmans Ideen spielen ja auch in der heutigen Diskussion um das Grundeinkommen eine wichtige Rolle. Was können wir denn aus der 500 Jahre alten Debatte lernen?
Puh, was lehrt uns die Geschichte? Auf jeden Fall, dass die Idee des Grundeinkommens bereits eine bewegte Geschichte hinter sich hat, obwohl es sich dabei eigentlich erst um ihre Vorgeschichte handelt. Denn das, was heute zunehmend als bedingungsloses Grundeinkommen gefordert wird, ist historisch beispiellos.
Stichwort „bedingungsloses Grundeinkommen“. Am Wort „bedingungslos“ scheiden sich die Geister in der gegenwärtigen Diskussion.
Ja, und zwar zurecht! Denn wer zwar für ein Grundeinkommen eintritt, aber nicht für seine Bedingungslosigkeit, der will im Grunde genommen an den herrschenden Verhältnissen gar nichts ändern. Ein Grundeinkommen haben wir längst, was fehlt, ist die Bedingungslosigkeit. Ohne Bedingungslosigkeit ist das Grundeinkommen gar nichts Neues.
Bedingungsloses Grundeinkommen heißt: existenzsichernde Höhe, individueller Rechtsanspruch, kein Arbeitszwang, keine Bedürftigkeitsprüfung. Das wäre wirklich etwas Neues! Es würde beispielsweise die Gefahr bannen, die weiterhin von Hartz IV ausgeht. Hartz IV ist ein neoliberales trojanisches Pferd, das dafür sorgt, dass unter dem Deckmantel der Losung „Fördern und fordern“ grundlegende Freiheitsrechte geschleift werden. Es ist höchste Zeit, dass diese Geschichte endlich zu Ende geht.
Anders gesagt: Wer den mehr oder minder offensichtlichen Arbeitszwang von heute hinter sich lassen will, der kommt an einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht vorbei. Die große Geschichte des Grundeinkommens wird erst dann so richtig beginnen, wenn Arbeit und Freiheit kein Widerspruch mehr sind.
Interview: Ingo Leipner
Der Beitrag erschien ursprünglich im Triodos-Bank-Blog diefarbedesgeldes.de
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