Wie nachhaltig ist die digitale Gesellschaft? Um diese Frage geht es im neuen “Jahrbuch Ökologie”. Jörg Sommer, einer der Herausgeber des Buches, klärt über Trugschlüsse der digitalen Nachhaltigkeit auf.
Das neue “Jahrbuch Ökologie” beschäftigt sich mit der Nachhaltigkeit in der digitalen Gesellschaft. Ökologische Probleme könnten mithilfe digitaler Technologien gelöst werden, lautete eine weitverbreitete Versprechung. Digitalisierung wird vielerorts fast mit Nachhaltigkeit gleichgesetzt. Doch das ist ein Trugschluss. Jörg Sommer, einer der Herausgeber des “Jahrbuch Ökologie” und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung, erläutert warum:
Herr Sommer, Nachhaltigkeit ist selten ein Thema, das im Vordergrund steht, wenn es um Digitalisierung geht. Wenn doch, heißt es oft, dass digitale Prozesse per se ökologisch nachhaltig seien – zumindest auf lange Sicht. Stichwort hierfür ist beispielsweise die Sharing Economy. So einfach ist es nicht, oder?
Jörg Sommer: Ist es im Grunde schon: Nichts ist nachhaltig an der Digitalisierung. Natürlich KANN Digitalisierung zur Nachhaltigkeit beitragen. Sie kann aber auch das Gegenteil bewirken. Es kommt, wie so oft, darauf an, was wir daraus machen, welche gesellschaftliche Rahmensetzung wir definieren. Ungezügelt und allein den Marktgesetzen folgend geht die Tendenz eher in die falsche Richtung. Die Fakten sprechen für sich: Einerseits waren wir noch nie so digitalisiert wie heute. Andererseits haben wir noch nie so viele Ressourcen verbraucht. Die Nutzung und die Verschleuderung umweltschädlicher fossiler Ressourcen schreiten ungebremst zu neuen Rekordhöhen voran.
Auf Digitalisierung beruhende Geschäftsmodelle sind häufig sogar dann alles andere als nachhaltig, wenn sie nachhaltige Schlüsselideen wie das Sharing bedienen. Allein in Berlin kämpften in den vergangenen zwei Jahren über ein Dutzend Anbieter um den Bike-Sharing Markt. Häufig wurden sprichwörtlich über Nacht Tausende von Fahrrädern im Stadtgebiet verteilt, die meisten Anbieter haben sich zwischenzeitlich wieder mehr oder weniger geordnet zurückgezogen, einige dabei nicht einmal ihre erst wenige Wochen alten Räder eingesammelt. Aktuell hat sich der Fokus der Auseinandersetzung von Fahrrädern auf eRoller verlagert. Auch diese werden als umweltfreundlich beworben. Nacht für Nacht werden viele davon aber von Freelancern eingesammelt und in deren Wohnzimmer aufgeladen. Gerne auch mal mit Atomstrom von Vattenfall & Co. Meist verdienen diese „Juicer“ dabei nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. Was ist also nachhaltig an diesen typischen Beispielen? Die Antwort ist einfach: Nichts.
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Im „Jahrbuch Ökologie“ schreiben Sie, dass wir derzeit nicht in der Lage sind, die sozial-ökologisch Folgen der rasanten digitalen Transformation zu verstehen. Was brauchen wir, um die sozial-ökologische Dimension der Digitalisierung abschätzen zu können?
Jörg Sommer: Wir sollten uns vor allem zunächst einmal darüber im Klaren sein, das wir das eben NICHT können. Es ist typisch für alle historischen Produktivkraftumwälzungen, dass die große Masse der Menschen, aber auch der unmittelbar damit befassten Akteure diese als direkt Beteiligte nicht umfänglich verstehen, sich in Umfang der Auswirkungen der Geschwindigkeit der Prozesse, in der Entwicklung der Eigendynamiken und dem gesellschaftsverändernden Potential völlig verschätzen.
Die Unberechenbarkeit ist eine inhärente Eigenschaft von komplexen Systemen. Die Digitalisierung wirkt sehr stark auch dadurch, dass existierende komplexe Systeme – v.a. soziale und ökonomische Systeme – miteinander verknüpft werden, wodurch stetig neue Interaktionsmöglichkeiten geschaffen und realisiert werden.
Wir wären gut beraten, Digitalisierung nicht als lineares Fortschrittsmodell zu betrachten, sondern sie als systemischen Prozess zu verstehen, der immerzu neue positive Rückkopplungen entfesselt und dadurch in der Eskalation seiner selbst mündet.
Sie schreiben auch, dass die Digitalisierung die Grenzen des Wachstums – scheinbar – verschiebe, was „hochproblematisch“ sei. Können Sie das näher erläutern?
Jörg Sommer: Die Digitalisierung ermöglicht zum Beispiel die Ausbeutung fossiler Rohstoffe, die anders nicht oder nicht zu ökonomisch attraktiven Kosten verwertbar wären. Auch tragen die durch sie realisierten Effizienzgewinne dazu bei, ökologisch bedenkliche Prozesse wie die Kohleverstromung zu verbilligen.
Die Digitalisierung kommt so gerade recht in einer Zeit der Erschöpfung von Ressourcen und lebenserhaltenden Systemen. Sie bewirkt jedoch eine Beschleunigung und Diversifizierung der Ressourcennutzung bzw. eine Mobilisierung von zuvor nicht verfügbaren Ressourcen. Sie dehnt die Grenzen des Wachstums aus und gaukelt uns sogar vor, wir könnten sie überwinden.
Dazu kommt, dass die Digitalisierung die (illusorische) Phantasie nährt, die moderne, von Grund auf unökologische Industriegesellschaft könnte durch eine weitere Beschleunigung der Produktivkrafteentwicklung, den von ihr verursachten ökologischen Problemen quasi davonlaufen und/oder diese sogar “reparieren”. Es vergeht kein Tag, an dem nicht neue, digitalgetriebene Ideen und Projekte des Geoengineering entstehen. Ob CO2 aus der Atmosphäre oder Plastik aus den Weltmeeren extrahiert werden soll: Die Digitalisierung macht es (scheinbar) möglich – und vor allem nimmt sie Reformdruck von den nach wie vor nicht nachhaltigen Wirtschaftsstrukturen.
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Blicken wir auf die soziale Dimension der Digitalisierung: Sie beschreiben sie als „soziales Narkotikum“. YouTube, Netflix & Co. entkoppelten Menschen demnach „aus der realen Welt der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung“. Ist es schon zu spät für eine Rückkopplung? Wenn nicht, was braucht es dafür?
Jörg Sommer: Die Digitalisierung hat den Medienkonsum der Menschen innerhalb kurzer Zeit radikal verändert. Der praktisch freie Zugang zu mehr Information, Musik und Filmen, als sie in mehreren Leben überhaupt genutzt werden können, trägt zu einem größeren Gefühl der Freiheit der Wahl bei sowie potenziell auch zu verbesserten Bildungschancen. Die digitale Unterhaltungsangebote bilden längst eine virtuelle Realität – und für viele digital natives den Lieblingsaufenthaltsraum. Die virtuelle Realität macht häufig mehr Freude als die echte, und sie kann auch helfen, die reale Weltlage verdau- und verdrängbarer zu machen. Im Endeffekt wirkt die digitalisierte Unterhaltung wie ein soziales Narkotikum. Sie betäubt einen Teil der Gesellschaft, verlagert die primäre Aufmerksamkeit in die sich schnell verändernden und Aufregung kultivierenden virtuellen Räume und raus aus der realen Welt der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung, des langatmigen Dialogs und der Rückkopplung an reale Alltagswelten.
Eine Re-Kopplung der Menschen wird nur möglich, wenn es uns gelingt, an der Ursache des Problems zu arbeiten und die sozialen Konflikte unserer Gesellschaft auch in der Realität auszutragen. Die durch und durch digitalen Schüler*innen der Fridays-for-Future Bewegung tun zum Beispiel genau das: Sie nutzen digitale Tools, um gemeinsam in der Wirklichkeit zu wirken. Das ist eine Entwicklung, die Hoffnung macht.
Trotz aller Kritik: Welche nachhaltigen Chancen sehen Sie in der Digitalisierung?
Jörg Sommer: Digitalisierung wird uns gerne als „Motor der Nachhaltigkeit“ verkauft. Doch nicht der Motor ist der Schlüssel. Entscheidend ist, wer am Steuer sitzt – und wohin er steuert. Der Vergleich mit dem Motor zieht noch in einem ganz anderen Kontext. Digitalisierung beschleunigt. Und das macht sie in der Tat problematisch. Vor allem dann, wenn die gesellschaftlichen Strukturen diese Beschleunigung nicht mithalten können. Die Stärke demokratischer Gesellschaften ist immer auch das ihr innewohnende Ringen um Mehrheiten gewesen. Das stärkt Zusammenhalt, braucht dazu aber Zeit. Viel Druck, der zur Zeit auf unseren Demokratien lastet, hat etwas damit zu tun, dass diese gesellschaftliche Prozesse nicht mehr aushandeln und steuern, sondern ihnen nur noch hinterher hecheln.
Für die Digitalisierung jedenfalls gilt wie für die industriellen Revolutionen zuvor: Nichts was in dieser Welt schief läuft, wird durch Digitalisierung besser. Schon gar nicht, solange sie sich der gesellschaftlichen Kontrolle entzieht. Es geht also nicht um die Frage, ob und wo die globalen Digitalkonzerne Steuern zahlen (was immerhin schon ein großer Fortschritt wäre), sondern um die Frage, wem sie gehören. Wer im digitalen Zeitalter eine sozial-ökologische Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft will, der kommt um die Frage nach der gesellschaftlichen Kontrolle über die Digitalen Produktivkräfte nicht herum. Nur dann ist Nachhaltigkeit durch Digitalisierung denkbar.
Letztlich ist die Digitalisierung in der Tat ein mächtiges Werkzeug, allerdings eines zu unglaublich hohen ökologischen Kosten – und in den falschen Händen. Das müssen wir ändern.
Interview: Michael Rebmann
Der Beitrag erschien ursprünglich im Triodos-Bank-Blog diefarbedesgeldes.de
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