843 vermeidbare Verkehrstote: Warum Deutschland nicht von Oslo und Co. lernt

Verkehrsunfall mit Fahrrad und Auto
Foto: Colourbox.com

Jedes Jahr sterben in Deutschland rund 800 Radfahrer:innen und Fußgänger:innen – die meisten davon unverschuldet. Beispiele aus anderen europäischen Städten zeigen: Viele dieser Toten ließen sich mit kleinen Maßnahmen vermeiden. Warum lassen wir das tägliche Sterben auf unseren Straßen dennoch weiter zu? Eine Kolumne von Ingwar Perowanowitsch.

Alle paar Wochen landet die immer gleiche E-Mail in meinem Postfach. Sie stammt vom Berliner ADFC und ruft zu einer Mahnwache für eine im Berliner Straßenverkehr getötete Person auf – mal für einen Fußgänger, mal für eine Fahrradfahrerin. Die E-Mails ähneln sich im Wortlaut wie auch in der Unfallbeschreibung, denn meist geschieht es an Kreuzungen: Ein:e Auto- oder LKW-Fahrer:in biegt rechts ab und überfährt den oder die geradeaus fahrende Radfahrer:in oder Fußgänger:in.

Mahnwachen verhindern keine Verkehrstoten in Berlin

Darauf folgt der immer gleiche Ablauf: Die Lokalpresse berichtet und spricht von einem „tragischen Unfall“. Manchmal drücken Politiker:innen ihr Beileid aus und Rad- und Fußverbände gedenken in Mahnwachen dem Opfer – verbunden mit dem stillen Appell an die Politik, endlich etwas zu ändern. Mit mäßigem Erfolg.

Seit 2016 organisiert der Berliner Verein Changing Cities für alle in der Hauptstadt getöteten Fahrradfahrer:innen eine Mahnwache. 106-mal kamen sie bis Ende 2024 zusammen. Bereits seit 2009 stellt der Berliner ADFC für alle in der Hauptstadt getöteten Radfahrer:innen ein weiß lackiertes Geisterrad an der Unfallstelle ab. Bislang standen an etwa 200 Orten der Stadt Geisterräder. Um schnell reagieren zu können, werden die Räder im Voraus lackiert. Nach der Mahnwache ist vor der Mahnwache – das haben die Aktiven über die Jahre schmerzlich erfahren.

Warum empören sich nicht mehr Menschen über Verkehrstote?

Was in der Hauptstadt wöchentlich geschieht, passiert im ganzen Land mehrmals täglich: 2024 kamen 441 Fahrradfahrer:innen und 402 Fußgänger:innen im Straßenverkehr ums Leben (Quelle: Statistisches Bundesamt). 843 Menschen, deren Leben jäh, brutal und vor aller Augen beendet wird – und deren Angehörige und Zeug:innen teils über Jahre traumatisiert zurückbleiben. Müsste der Umstand, dass jeden Tag in Deutschland unschuldige Bürger:innen in aller Öffentlichkeit totgefahren werden, nicht mehr Menschen empören? Müsste die Politik nicht viel stärker in Erklärungsnot geraten?

Wir haben uns an getötete Radfahrer:innen gewöhnt

Dass Verkehrstote die breite Gesellschaft so unberührt lassen, hat vor allem mit dem Gewöhnungseffekt zu tun. Geschieht etwas immer wieder, verlieren die Menschen das Interesse daran. Ein weiterer wichtiger Grund: Viele glauben, Verkehrstote ließen sich einfach nicht verhindern. Dass es sich zwar um tragische Unfälle handelt, diese aber unvermeidlich seien, weil der Verkehr nun mal ein gewisses Risiko beinhalte. Dementsprechend lässt sich auch niemand so richtig zur Verantwortung ziehen – selbst die Verursacher nicht, denn auch sie handeln nicht in böser Absicht.

Irrglauben: Verkehrsunfälle sind vermeidbar!

Doch die Vorstellung der Unvermeidbarkeit ist falsch. Wer die Hintergründe tödlicher Verkehrsunfälle betrachtet, stellt schnell fest: Sie folgen einem Muster, ähneln sich in der Art, treten häufig an denselben Orten auf und betreffen dieselben Verkehrsteilnehmenden.

Und was das natürliche Unfallrisiko angeht, trifft das fürs Fahrrad nur bedingt und fürs Zu-Fuß-Gehen schlichtweg nicht zu: Fahrradfahren an sich ist nicht gefährlich – und zu Fuß gehen noch weniger. Nie ist ein Fußgänger ohne jede Fremdeinwirkung im Verkehr gestorben, bei Fahrradfahrer:innen ist es die absolute Ausnahme. Erst durch die Präsenz anderer Verkehrsteilnehmer wird es gefährlich – besonders dann, wenn Radfahrer:innen und Fußgänger:innen nicht ausreichend geschützt werden. Und genau das werden sie nicht, obwohl sich die Politik das seit vielen Jahren auf die Fahnen schreibt.

Vision Zero: Die Lösungen für weniger Verkehrstote gibt es schon

Das Ziel, eines Tages keine Verkehrstoten mehr beklagen zu müssen, wird als Vision Zero bezeichnet. Politisch hat sich der Begriff in den vergangenen Jahren auf höchster Ebene etabliert und erhielt sogar Einzug in den aktuellen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD. Doch angesichts der realen Weigerung vieler Entscheidungsträger:innen auf lokaler und nationaler Ebene, mehr für die Verkehrssicherheit zu tun, bleibt das formulierte Ziel bislang nur ein Lippenbekenntnis.

Dabei ist das Verhindern schwerer Verkehrsunfälle im städtischen Raum keine Raketenwissenschaft. Die Maßnahmen für mehr Sicherheit sind längst bekannt: die Ausweitung von Tempo 30, geschützte Radwege, mehr Platz für Fußgänger:innen – und ganz wichtig – sichere Kreuzungen. Denn sogenannte „Fehler beim Abbiegen“ sind in vielen Städten die häufigste Todesursache. Zusätzlich gilt immer: Je weniger Autos und LKWs auf den Straßen unterwegs sind, desto sicherer ist der öffentliche Raum.

Oslo, Bologna, Lyon und Helsinki zeigen, dass null Verkehrstote möglich sind

Dass die Maßnahmen wirken, ist längst in der Praxis getestet. Einige europäische Städte konnten in den vergangenen Jahren beeindruckende Erfolge auf dem Weg zu Vision Zero vermelden: In der norwegischen Hauptstadt Oslo kamen bereits 2019 kein einzige:r Radfahrer:in oder Fußgänger:in im Verkehr ums Leben. Im italienischen Bologna reduzierte sich 2024 die Zahl der Verkehrstoten innerhalb eines Jahres um 50 Prozent. Der Grund: Die Stadt hatte 2023 beinahe vollständig Tempo 30 im Stadtgebiet eingeführt.

Die Stadt Helsinki investiert in sicheren Radverkehr.
Die Stadt Helsinki investiert in sicheren Radverkehr. (Foto: CC0 Public Domain / Unsplash - Tapio Haaja)

Auch das französische Lyon meldete ein Drittel weniger Verkehrsunfälle, nachdem auf 80 Prozent der Straßen das Tempo auf 30 km/h gesenkt wurde. Gerade erst Ende Juli meldete die finnische Hauptstadt Helsinki, dass es innerhalb der vergangenen zwölf Monate keinen einzigen Verkehrstoten und nur 277 Verletzte gab.

Das ist kein Zufall: Helsinki investiert seit Jahren in mehr Verkehrssicherheit, weitet sukzessive Tempo-30-Zonen aus – besonders vor Schulen –, baut sichere Rad- und Gehwege und macht das Autofahren in der Innenstadt generell teurer und ungemütlicher. Hier ist Vision Zero nicht bloß ein Lippenbekenntnis, sondern eingebettet in eine konkrete Strategie. Das nächste Ziel: Null Verkehrstote soll keine Ausnahme, sondern die Regel werden.

Und in deutschen Städten?

In Deutschland tun wir uns mit konkreten Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit bislang schwerer. Zwar wurden die gesetzlichen Hürden für mehr Tempo-30-Zonen und sichere Radwege für die Kommunen in der jüngsten Reform der Straßenverkehrsordnung gelockert, sie problemlos anzuordnen ist aber weiterhin nicht möglich. In Deutschland gilt weiter das Prinzip: Strengere Tempolimits, Radwege, Fußgängerzonen und verkehrsberuhigende Maßnahmen müssen sich juristisch begründen lassen. Das Maß aller Dinge bleibt der frei fließende und parkende Autoverkehr.

Wohin das bisweilen führt, sehen wir in Berlin: Dort möchte die regierende CDU zahlreiche Tempo-30-Zonen wieder abschaffen und auf Tempo 50 erhöhen – und begründet den Schritt damit, dass die rechtlichen Voraussetzungen für Tempo 30 nicht mehr gegeben seien. Diese wurden einst vom Vorgängersenat wegen der Luftreinhaltung eingeführt.

Natürlich dient das der CDU nur als Vorwand. Für konservative Parteien steht mehr Verkehrssicherheit grundsätzlich unter Ideologieverdacht und sie lehnen sie in der Praxis häufig wegen einer Einschränkung der automobilen Freiheit ab. Getragen wird das von der Vorstellung, der Staat solle sich nicht zu sehr regulierend in das Leben der Menschen einmischen.

Der Staat muss uns vor anderen schützen – null Verkehrstote darf keine Vision sein

Klar ist: Der Staat kann nicht jeden Unfall verhindern – ob auf der Arbeit oder im Haushalt. Unfälle gehören leider zum Leben dazu und Aktivitäten wie Kochen, Putzen oder Heimwerken sind bisweilen gefährlicher als alle Autos zusammen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Es handelt sich um Unfälle im klassischen Sinne, die die betroffene Person selbst herbeigeführt hat. Die Handlungsaufgabe des Staates lässt sich auf folgendes Prinzip herunterbrechen: Der Staat ist nicht verpflichtet, uns vor uns selbst zu schützen. Er ist aber verpflichtet, uns vor anderen zu schützen.

Selbstverständlich gilt dieser Grundsatz nie im absoluten Sinne. Stets findet eine Güterabwägung zwischen der Freiheit des Individuums und der Sicherheit der Allgemeinheit statt. Während der Corona-Pandemie trat diese Gratwanderung besonders heftig zutage, handelte es sich bei den Maßnahmen doch zum Teil um bislang beispiellose Einschnitte individueller Rechte.

Das Leben Zehntausender schützen oder die Privilegien von Autos?

Doch im Straßenverkehr sieht die Sache anders aus und wir müssen uns die Fragen stellen: Welches Grundrecht wird beschränkt, wenn wir ein Tempolimit beschließen? Welche Freiheit wird beschnitten, wenn wir Tempo 30 innerorts einführen? Wer wird benachteiligt, wenn wir sichere Radwege und Kreuzungen bauen?

Damit retten und schützen wir tagtäglich Leben und Gesundheit. Die verlorene Freiheit, wenige km/h schneller zu fahren und wenige Sekunden kürzer an der Kreuzung zu warten, steht in keinem Verhältnis zur gewonnenen Freiheit zehntausender unversehrter Leben. Dass diese eigentlich klare Güterabwägung in Deutschland immer noch zugunsten der automobilen Freiheit entschieden wird, ist ein Armutszeugnis – für ein im Selbstverständnis zivilisiertes Land und für einen Staat, dessen Aufgabe es ist, die Allgemeinheit zu schützen und nicht die Privilegien einiger weniger.

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