Auf Geisterfahrt – wie die Berliner CDU die Verkehrswende sabotiert

Brandenburger Tor in Berlin und Wahlplakat der CDU 2023
Fotos: CC0 Public Domain / Pixabay - scholty1970, Ingwar Perowanowitsch

Während europäische Metropolen wie London, Barcelona und allen voran Paris den ökologischen Stadtumbau seit Jahren entschlossen vorantreiben, herrscht in der deutschen Hauptstadt Stillstand. Schlimmer noch: Seit dem Regierungswechsel 2023 hat der CDU-SPD-geführte Berliner Senat sogar den Rückwärtsgang eingelegt – mit fatalen Folgen. Eine Kolumne von Ingwar Perowanowitsch.

Ich erinnere mich noch gut an die Tage im Februar 2023: Ich fuhr mit dem Fahrrad auf viel zu schmalen und ungeschützten Radspuren durch das graue Berlin. In der Hauptstadt war gerade Wahlkampf – schon wieder, denn nach diversen Pannen am eigentlichen Wahltag im September 2021 musste die Wahl zum Abgeordnetenhaus wiederholt werden.

Und so zogen neben unzähligen Autos auch zahlreiche Wahlplakate an mir vorbei, auf denen die Parteien mit knackigen Slogans um die Stimmen der rund 2,4 Millionen Wahlberechtigten warben. Besonders stachen mir dabei die türkisen Plakate der CDU ins Auge: „Berlin, lass dir das Auto nicht verbieten“, hieß es an einer Stelle oder: „Berlin ist für alle da, auch für Autofahrer“.

Berliner CDU: „Berlin, lass dir das Auto nicht verbieten“

Auf mich als Fahrradfahrer, der sich täglich durch den gefährlichen Berliner Autoverkehr kämpfen musste, wirkten diese Sprüche wie blanker Hohn. Hier wurde doch tatsächlich der Anschein erweckt, Berlin stünde kurz vor der Übernahme der Fahrradfahrer:innen und Autofahrer:innen kurz vor der Illegalität. Dabei hätte ein Blick auf die Straßen genügt: Nichts liegt in dieser Stadt weiter entfernt von der Realität.

Wahlplakat der CDU in Berlin 2023
Ein Wahlplakat der CDU für die Berliner Senatswahl 2023 (Foto: Ingwar Perowanowitsch)

Tatsächlich hatte die CDU den Widerstand gegen die rot-rot-grüne Verkehrspolitik zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht. Diese war zwar auch nicht uneingeschränkt erfolgreich, zumindest hatten SPD, Linke und Grüne über die Jahre aber personelle, wirtschaftliche und rechtliche Voraussetzungen geschaffen. Jetzt sollte die Berliner Verkehrswende endlich Fahrt aufnehmen, so die Hoffnung vieler.

Radwege gestrichen – und nur nach Protest wieder genehmigt

Doch es kam anders. Die CDU gewann die Wiederholungswahl mit 28 Prozent und zog nach über 20 Jahren erstmals wieder ins Rote Rathaus ein. Rot-Rot-Grün war abgewählt und plötzlich folgte eine Hiobsbotschaft der nächsten: Zuerst stoppte die damalige Verkehrssenatorin Manja Schreiner alle 16 geplanten oder sich bereits im Bau befindlichen Radwege – ein Schock für alle, die sich teils jahrelang für diese Wege eingesetzt hatten. Die Begründung: Man wolle sich einen Überblick verschaffen, ob die Radwege nicht zulasten des Autoverkehrs gingen.

Der Radwege-Stopp mobilisierte. Zehntausende gingen gegen den autozentrierten U-Turn der CDU auf die Straße. Ein Protest mit Wirkung13 der 16 Radwege wurden schlussendlich wieder genehmigt.

Doch die Angriffe auf den ökologischen Umbau der Stadt gingen weiter. Plötzlich wurden Busspuren wieder für den Autoverkehr freigegeben, millionenschwere Stadtentwicklungsprojekte wie die Umgestaltung des Halleschen Ufers eingestampft, die Förderung für autoarme Kiezblocks gestrichen und die Friedrichstraße von einer Fußgängerzone in eine Autostraße rückabgewickelt.

Berliner Mobilitätsgesetz wird deutlich abgeschwächt

Zusätzlich wurde die Axt an das Herzstück der Berliner Verkehrswende angelegt: das Mobilitätsgesetz. Nach einem erfolgreichen Volksbegehren für mehr Fahrradwege im Jahr 2016 wurde dieses 2018 als erstes Mobilitätsgesetz Deutschlands vom rot-rot-grünen Senat verabschiedet. Erstmals hielt ein Gesetz fest, dass der Umweltverbund bestehend aus Rad- und Fußverkehr sowie dem ÖPNV Vorrang vor dem Autoverkehr genießen soll. Letzterer sollte reduziert werden – ein Meilenstein deutscher Gesetzgebung! Der Königsparagraph: Artikel 43. Bis 2030 sollen an allen Hauptstraßen sichere Radwege gebaut werden.

All das wurde von Christ- und Sozialdemokrat:innen in den Ruhemodus versetzt. Und auch wenn das Gesetz bislang nicht gänzlich abgeschafft wurde, wurde es doch an entscheidenden Stellen geschwächt oder die Voraussetzungen so verändert, dass eine fristgerechte Einhaltung quasi unmöglich ist.

Tempo 50 vor Kitas und Stadtautobahn statt Verkehrsberuhigung

Ganz aktuell treibt die CDU die Aufhebung von bis zu 25 Tempo-30-Zonen voran. Vor Schulen soll das vom grünen Vorgängersenat eingeführte Tempolimit zwar bestehen bleiben, doch vor Kitas soll nach dem Willen des Mobilitätssenats künftig wieder Tempo 50 gelten. Am 02. September fiel nun die Entscheidung, dass auf 23 von 41 Straßenabschnitten tagsüber wieder Tempo 50 statt Tempo 30 gilt.

Die Verkehrspolitik in Berlin ist klar auf Autos ausgerichtet.
Kolumnist Ingwar Perowanowitsch: Die Verkehrspolitik in Berlin ist klar auf Autos ausgerichtet. (Foto: CC0 Public Domain / Pixabay - wal_172619)

Weiter ins Bild passt, dass vor wenigen Tagen der 16. Bauabschnitt der Stadtautobahn A100 eröffnet wurde. Die Verlängerung der teuersten Autobahn Deutschlands liegt zwar in der Hand des Bundes, das Land Berlin hätte sie durch Widerstand jedoch stoppen können – Widerstand, der mit dem Senatswechsel 2023 zum Erliegen kam. Mehr noch: Die CDU ist großer Befürworter der Autobahn, da sie angeblich die Wohngebiete entlaste. Drei Tage nach der Eröffnung wurden bereits der erste Stau und die erste Tunnelsperrung vermeldet.

Berlin legt Rückwärtsgang ein, Europa blickt nach vorne

Das verkehrspolitische Irrlichtern in Berlin ist besonders tragisch, wenn man bedenkt, was zur selben Zeit in anderen europäischen Großstädten geschieht. Ob Paris, London, Amsterdam, Barcelona oder Helsinki – in vielen Städten wird das Auto zurückgedrängt, verlangsamt, die Stadt begrünt und der Radverkehr gefördert.

Besonders die französische Hauptstadt hat sich in den vergangenen Jahren als Vorreiter des ökologischen Stadtumbaus hervorgetan. Die Videos von vollen Pariser Radwegen und den neuen Stadtwäldern gehen um die Welt. Die Stadt schafft gerade 70.000 Parkplätze ab und wandelt sie in Radwege, Gehwege und Grünflächen um, pflanzt 170.000 Bäume, verkleinert und begrünt ihre Stadtautobahn und hat Teile der Seine nach über 100 Jahren wieder zum Schwimmen freigegeben. Mehr dazu in diesem Beitrag meiner Kolumne:

Barcelona macht Schlagzeilen mit seinen autofreien Superblocks, Helsinki damit, seit einem Jahr keine Verkehrstoten beklagen zu müssen. Mailand will bis 2035 ein 750 km langes sicheres Radwegenetz aufbauen und auch aus der englischen Hauptstadt kommen vermehrt gute Nachrichten: Seit Jahren baut London neue Radwege – auch auf Kosten des Autoverkehrs. Dieser wird durch die Ausweitung der City-Maut aufs gesamte Stadtgebiet jetzt noch stärker in die Verantwortung gezogen.

Londons „Cycling Action Plan“ formuliert das ehrgeizige Ziel, den Radverkehr bis 2030 um ein Drittel zu steigern und 40 Prozent aller Einwohner:innen einen nahen Zugang zu einem sicheren Radwegenetz zu bieten. Schon heute ist der Radverkehr laut neuesten Zählungen in London City das wichtigste Verkehrsmittel: Bis zu 40 Prozent aller Fahrten werden per Rad unternommen, die Zahl der Radfahrer:innen versechsfachte sich seit der Jahrtausendwende.

Berlin als Geisterfahrer der Verkehrswende

Europäisch gesehen ist Berlin damit ein Geisterfahrer. Hier wird der fossile, autozentrierte Status quo zementiert und der ökologische Umbau blockiert – alles im Namen von „mehr Miteinander“, wie es die CDU häufig betont. In Wahrheit bedeutet dieses „Miteinander“ freie Fahrt für Autos zulasten aller anderen. Berlin ist weit davon entfernt, eine fahrradfreundliche Stadt zu sein. In der Hauptstadt mit 1,3 Millionen Autos fehlt es an elementarer Fahrradinfrastruktur und die CDU zeichnet das Bild, als müsse sie die Menschen vor übergriffiger Fahrradpolitik schützen. Eine Verdrehung der Tatsachen par excellence!

Wie schafft Berlin die Wende für die Verkehrswende?

Wie manövriert sich Berlin jetzt aus der Sackgasse? Meine Antwort, auch wenn es schwerfällt: positiv bleiben und auf die Menschen hoffen. Nirgendwo im Land ist die ökologische Zivilgesellschaft so stark, zahlreich und professionell aufgestellt wie in Berlin. Ihr verdankt Berlin das Mobilitätsgesetz, die Kiezblocks und zahlreiche neue Fahrradwege. Sie hat es in der Vergangenheit geschafft, die Verkehrswende in die breite Bevölkerung zu tragen.

Gerade erst wurde die Initiative „Volksentscheid Berlin autofrei“ vom Berliner Verwaltungsgericht für zulässig erklärt – eine Initiative, die die Berliner:innen darüber abstimmen lassen möchte, ob das Stadtgebiet innerhalb des S-Bahn-Rings nahezu autofrei werden soll. Eine gemessen an aktuellen Maßstäben utopische Idee – doch die Initiative ist hoch motiviert und agiert professionell.

Und selbst wenn es Rückschläge gibt: Das Richtige hat sich langfristig immer durchgesetzt. Vor 16 Jahren wurde das Rauchen in öffentlichen Innenräumen gesetzlich verboten. Der Aufschrei war groß, das Ende der Freiheit wurde besungen. Heute wollen selbst viele Raucher:innen den alten Zustand nicht wieder zurück. Ich bin überzeugt: Mit lebenswerten Städten wird es genauso sein.

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