Radfahren hält fit – kann im Straßenverkehr aber lebensgefährlich werden. Im Interview erklärt Caroline Lodemann vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC), wie sich das Radfahren verändert, welche politischen Maßnahmen es für einen sicheren Radverkehr braucht und wie viel das kosten wird.
Jeden Tag sterben in Deutschland statistisch gesehen 1,2 Menschen beim Radfahren. Wie eine Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) errechnete, kam es 2023 auf deutschen Landstraßen zu 189 getöteten und 2.996 schwerverletzten Radfahrer:innen. Innerhalb von Ortschaften waren es sogar 257 verstorbene Personen auf einem Fahrrad, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.
Insgesamt zählte die Polizei 2023 2,5 Millionen Verkehrsunfälle auf deutschen Straßen – und damit fast fünf Prozent mehr als noch im Vorjahr. Und auch wenn die Zahl der Verkehrstoten zwischen 2010 und 2023 insgesamt um 22 Prozent zurückging, endet Radfahren heute öfter tödlich als noch vor zehn Jahren: Die Zahl der auf Fahrrädern Getöteten stieg um 17 Prozent.
Ein Trend, den es schnellstmöglich umzukehren gilt. Utopia hat beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) nachgefragt, wie der Fahrradverkehr in der Bundesrepublik sicherer werden kann. Im Gespräch erklärt Caroline Lodemann, politische Bundesgeschäftsführerin des ADFC, wie gut man in Berlin mit dem Rad pendeln kann, warum so viele Fahrradunfälle passieren und wo Deutschland auf dem Weg hin zum Fahrradland steht.
Politische Bundesgeschäftsführerin des ADFC im Utopia-Interview
Utopia: Frau Lodemann, sind Sie heute schon Fahrrad gefahren?
Caroline Lodemann: Aber natürlich! Ich nutze im Moment die Möglichkeit, das Rad für ein Stück in die Bahn mitzunehmen. Da ich es von meinem Wohnort im Berliner Umland etwas weiter habe, um in die Stadt zu fahren, wollte ich bei 30 Grad nicht schon vor der Arbeit zu sehr ins Schwitzen kommen. Zum Feierabend fahre ich dann mit dem Rad nach Hause.
Utopia: In Ihrer Schilderung klingt es naheliegend, in und nach Berlin mit dem Rad zu pendeln. Ich stelle mir den Berliner Stadtverkehr aber durchaus anstrengend vor.
Lodemann: Das stimmt auch. Auf der einen Seite ist in Berlin viel passiert. Es gibt gerade auf meiner Strecke und wenn man die Freiheit hat, sich Strecken zusammenzusuchen, inzwischen gute und sichere Abschnitte, etwa mit Fahrradstraßen. Grundsätzlich muss man sich aber gut vorbereiten, wenn man in Berlin regelmäßig Fahrrad fahren will. Das liegt zum einen daran, dass es noch Bereiche gibt, in denen die Radwege nicht gut oder gar nicht vorhanden sind. Es liegt aber auch ein bisschen daran, wie wir auf der Straße miteinander umgehen. Da ist die Stimmung im Moment doch reichlich rau.
Berlin und München: Radfahren in Städten teils gefährlich
Utopia: Diese Eindrücke teilen wir in München: Die Stadt ist nicht konsequent aufs Radfahren ausgelegt, sondern hat viele Knotenpunkte, die für Radfahrer:innen gefährlich sind.
Lodemann: Abschnitte, die bereits gut funktionieren, sind für uns als ADFC wichtig. So entsteht ein gutes Bild vom Radfahren und viele erhalten einen Eindruck, was es bedeuten würde, wenn man sich gut und sicher auf dem Rad bewegen kann. Das eigene Erleben von guten Beispielen ist essentiell.
Ich bin Mutter von zwei Kindern, die beide gerne radfahren. Als Eltern achtet man nochmal stärker auf die Wahl der Radwege. Da wir wissen, dass Mobilität eine Prägung ist, geht es darum, Kinder und Jugendliche frühzeitig ans Radeln zu gewöhnen und sie unabhängig zu machen. Sie sollten nicht nur auf den Rücksitz im Auto angewiesen sein.
An der Schule meiner Tochter, wo ich Verkehrslotsin bin, werden erschreckend viele Kinder mit dem Auto gebracht, obwohl man die Schule gut zu Fuß, mit dem Roller oder dem Fahrrad erreichen kann. Auf dem Rad haben Kinder und Jugendliche ein frühes Autonomieerlebnis und mehr Bewegung, die sie dringend brauchen. Zwar können auch Bildungseinrichtungen unterstützen, doch für mich liegt hier viel an uns Eltern und daran, was wir den Kindern vorleben.
Utopia: Aber gerade innerhalb von Ortschaften ist das Radfahren ja besonders gefährlich, dort passieren die meisten Fahrradunfälle. Was sind die größten Probleme, die man innerorts lösen muss?
Lodemann: Innerorts nimmt der Radverkehr zu, das ist gut so. Aber damit steigt auch die Zahl der Unfälle. Wir merken, dass eine echte Gestaltung des Radverkehrs fehlt. Damit meine ich baulich getrennte Radwege entlang stark befahrener Straßen wie Protected Bike Lanes [geschützte Radfahrstreifen] mit Elementen wie Pollern – und eben nicht nur einen Schutzstreifen, den man auf die Straße pinselt und der schnell zugeparkt wird.
Besonders schwierig sind Kreuzungen, sie sind der Hauptgefahrenpunkt innerorts. Das liegt daran, dass die Sicht schlecht ist, aber auch daran, dass das Tempo häufig zu hoch ist. Wir fordern innerorts flächendeckend Tempo 30. Es würde eine Verlässlichkeit mit sich bringen, zu wissen, dass um mich herum nur eine bestimmte Geschwindigkeit gefahren wird. Gleichzeitig verhindert es die ganz harten Schäden, wenn es zu Kollisionen kommt. Bessere Führungen an Kreuzungen und getrennte Ampelschaltungen würden dazu ebenfalls beitragen. Das wäre etwas, was man gemeinsam üben muss.
ADFC: Tempo 30 innerorts bringt Verlässlichkeit
Utopia: Wie muss man sich das vorstellen, gemeinsam zu üben?
Lodemann: Dazu kann man in die Niederlande schauen. Unsere Nachbarn üben das seit Jahrzehnten und wissen, wie das funktioniert. Sie haben sich darauf eingerichtet, dass der Radverkehr manchmal Vorrang hat. So etwas muss man mit Geduld und Beharrlichkeit miteinander einüben.
Utopia: Wenn man sich die Zahlen des Statistischen Bundesamts anschaut, endet Radfahren heute öfter tödlich als noch vor zehn Jahren. Reicht die Begründung, dass der Radverkehr zugenommen hat, hier aus?
Lodemann: Mehr Radverkehr und eine fehlende flächendeckende Radinfrastruktur sind zwei Gründe für mehr Unfälle. Auch die technologischen Entwicklungen spielen eine Rolle, Stichwort Pedelec. Dadurch kann man etwa zur Arbeit bequem weitere Strecken fahren und neue Zielgruppen steigen aufs Fahrrad.
Machen E-Bikes den Radverkehr gefährlicher?
Utopia: Sie sprechen von E-Bikes und Pedelecs, die auch ältere Menschen vermehrt nutzen. Vergangenes Jahr wurden das erste Mal mehr E-Bikes verkauft als reguläre Fahrräder. Steigt damit das Unfallrisiko?
Lodemann: Lange dachte man, dass E-Bikes aufgrund ihrer höheren Geschwindigkeiten gefährlicher sein könnten. Das ist so nicht richtig. Dass die Unfallzahlen steigen, liegt daran, dass immer mehr Pedelecs unterwegs sind und die Menschen damit weitere Strecken fahren. Außerdem ist das Durchschnittsalter der Pedelec-Nutzenden höher und mit dem Alter steigt auch das Risiko schwerer Verletzungen, besonders ab 75 Jahren. Der ADFC bietet etwa Fahrsicherheitstrainings für Menschen, die sich ein E-Bike kaufen. Das hilft, sich mit dem neuen Fahrgefühl vertraut zu machen.
Utopia: Dennoch passieren weiterhin viele Radunfälle.
Lodemann: Ja. Leider auch außerorts, wo anteilsmäßig die meisten schweren Verkehrsunfälle mit dem Rad stattfinden. Häufig gibt es entlang von Landstraßen keine Radwege oder schlechte Querungshilfen, wenn der Radweg plötzlich auf der anderen Straßenseite weiterläuft. Hier müssen wir den Radverkehr endlich ganzheitlich mitdenken, auch beim Tempo. Der ADFC fordert 70 Kilometer pro Stunde auf Landstraßen.
ADFC fordert: „Radverkehr endlich ganzheitlich mitdenken“
Utopia: Tempolimits von außerorts 70 km/h und innerorts 30 km/h sowie durchgängige Radwege würden den Verkehr positiv verändern. Aber eigentlich müssen wir doch Städte und Gemeinden strukturell anders denken und weg vom Auto. Heißt zum Beispiel weg von einem Nahversorgungszentrum mit hunderten Autoparkplätzen am Ortsrand hin zu lebendigen Ortskernen mit kurzen Wegen.
Lodemann: Für mich geht es darum, Städte für viele verschiedene Verkehrsträger einfacher zugänglich zu machen. Das Modell der 15-Minuten-Stadt versucht genau das: Städte ganzheitlich für den Menschen zu denken. Statt über Autos und Fahrräder zu reden, sollten wir über Menschen und ihre Bedürfnisse reden. Man sollte fragen, wo sind die Knotenpunkte, wo müssen Menschen hin? Sie wollen einkaufen, zum Sport, in die Schule oder zur Uni.
Wenn wir Quartiere und Wohngebiete ganzheitlich denken, gibt es dort keinen Durchgangsverkehr, sondern große Fahrradparkplätze. Weniger Autoverkehr heißt auch weniger Lärmemissionen, weniger Luftverschmutzung und lebenswertere Städte. Schaut man sich in unseren Städten um, darf man sich schon fragen, was der Mensch sich eigentlich für den Menschen erdacht hat und was er korrigieren muss, weil er erkannt hat, dass wir das eigentlich alles schöner gestalten könnten.
Utopia: Kürzlich wurde die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) erneuert. Sie soll es Kommunen einfacher machen, Platz für geschützte Radfahrstreifen und Fahrradparkplätze zu schaffen. In einer Pressemitteilung haben Sie den Schritt gelobt, sich aber nicht vollkommen zufrieden gezeigt.
Lodemann: Der ADFC hat jahrelang darauf hingearbeitet, die StVO und das Straßenverkehrsgesetz (StVG) zu reformieren – immerhin stammen beide aus dem letzten Jahrhundert. Dass es jetzt endlich eine Reform gibt, ist gut! Die Gesetzesänderung schafft Möglichkeiten, etwa ohne große bürokratische Umstände Fahrradstreifen einzusetzen oder Tempo 30 anzuordnen. Diese müssen die Kommunen jetzt breit nutzen. Sie müssen den politischen Mut aufbringen, lebenswerte Städte, Gemeinden und Dörfer zu gestalten.
Utopia: Der Grundstein ist für Sie also gelegt, jetzt kommt es auf die Umsetzung an.
Lodemann: Die Arbeit fängt jetzt an. Noch ist das Mindset in Deutschland stark auf das Auto ausgerichtet, doch wir können viel Verkehr auf das Rad verlagern. Die Vorteile von guter Radinfrastruktur kann jeder sehen und fühlen. Das hilft auch denen, die wirklich Auto fahren müssen. Denn dann ist auf den Straßen mehr Platz.
Helmpflicht weniger wichtig als Radinfrastruktur
Utopia: Würde eine Helmpflicht den Radverkehr bremsen oder voranbringen?
Lodemann: Die Menschen sollen frei entscheiden können, ob sie beim Radfahren einen Helm tragen. Einerseits zahlt ein Fahrradhelm auf das eigene Sicherheitsbedürfnis ein und kann Kopfverletzungen bei Stürzen vermeiden oder mindern. Andererseits zeigt das Tragen von Helmen, dass sich die Menschen in Deutschland beim Radfahren nicht sicher fühlen. Genau das bleibt aber unser Ziel. Wichtiger als die Diskussion um eine Helmpflicht sind sichere und hochwertige Radinfrastrukturen, sodass es gar nicht erst zu Kollisionen oder zu Alleinstürzen kommt. Unfälle verhindern kann ein Helm nicht. Bessere Radwege können das schon.
Utopia: Der Nationale Radverkehrsplan 3.0 (NRVP) sieht bis 2030 lückenlose Radverkehrsnetze von hoher Qualität vor. Wörtlich heißt es: Die Menschen „können sich schnell und sicher auf dem Rad fortbewegen.“ Wir haben Mitte 2024 – wie realistisch ist ein flächendeckender sicherer Fahrradverkehr in Deutschland in nur gut fünf Jahren?
Lodemann: Zunächst freuen wir uns, überhaupt einen nationalen Radverkehrsplan für 2030 als wichtige Grundlage zu haben. Er zeigt: Wir wollen Radverkehr. Es geht aber leider sehr, sehr langsam voran. Fünf bis sechs Jahre sind knapp bemessen, da muss man sich richtig reinhängen, um die Ziele zu erreichen. Ein großes Problem ist die bisherige Finanzierung des Radverkehrs in Deutschland. Wir brauchen je eine Fahrradmilliarde vom Bund, den Ländern und den Kommunen, damit das tatsächlich funktionieren kann.
Drei Milliarden Euro für den Radverkehr?
Utopia: Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Lodemann: Das sind Hochrechnungen, die davon ausgehen, dass wir pro Jahr in Deutschland rund 3 Milliarden Euro investieren müssen, um die Radinfrastruktur so auszubauen, dass die Menschen sich auf dem Rad sicher fühlen, gut von A nach B kommen und wir die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor senken können. Die Fahrradmilliarde vom Bund ist dabei essenziell – das sehen auch die Verkehrsminister:innen der Länder so.
Das Geld aus dem kürzlich beschlossenen Haushalt wird dafür nicht reichen. Wir können den Fahrradverkehr in Deutschland bis 2035 verdreifachen von jetzt 13-15 Prozent auf 45 Prozent im Nahbereich, das sind Strecken bis 30 Kilometer. Gleichzeitig können wir so 34 Prozent der Emissionen im Verkehrssektor einsparen. Das hat eine von uns in Auftrag gegebene Studie beim Fraunhofer ISI ergeben.
Man darf nicht vergessen: Man spart im Gegenzug zu dieser Investition viel ein, etwa Gesundheitskosten und Infrastrukturkosten. Außerdem kann man Mittel aus anderen Bereichen verlagern, die bisher subventioniert wurden. Das Geld ist da und wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass es an der richtigen Stelle investiert wird.
Utopia: Abgesehen von der Finanzierung, was wünschen Sie sich für den Fahrradverkehr in der Bundesrepublik?
Lodemann: Am Ende geht es darum, dass wir mit unseren Verkehrsmitteln eine kluge Wahl treffen können – und die klügste Wahl ist häufig das Rad. Gerade kurze Strecken kann man sehr gut mit dem Rad fahren, auch mit Kindern. Es spricht auch viel dafür, im Urlaub viel Fahrrad zu fahren und das danach mit in den Alltag zu nehmen. Das Gute ist: Es gibt für jeden Menschen das richtige Fahrrad.
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