Geldverschwendung, Smog, Müll, verletzte Menschen, verschreckte Tiere – dass Böllern nicht vernünftig ist, wissen wir alle. Über die miserablen Arbeitsbedingungen in Indien und China ist dagegen wenig bekannt.
„Wahnsinn, wie viel Geld da verballert wird“– mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir auch dieses Silvester einen solchen Satz zu hören bekommen, während es knallt und der Himmel bunt leuchtet. Vielleicht wird auch jemand auf verängstigte Tiere hinweisen. Und am Neujahrsmorgen werden wir uns vermutlich über die unsäglichen Mengen Müll aufregen, zu denen sich Raketen und Böller dann verwandelt haben.
Anders gesagt: Wir wissen, dass der Neujahrsbrauch mit mehr Irrsinn als Sinn behaftet ist – und trotzdem halten die bekannten Argumente viele Menschen nicht vom Feuerwerkskauf ab. Vielleicht vermag das ein anderes, weniger bekanntes Problem: die Herstellung.
Eigentlich müsste uns klar sein, dass der gebräuchliche Begriff „Berufsrisiko“ in der Feuerwerksindustrie ungekannte Ausmaße erreicht. Meldungen wie „Explosion in Feuerwerk-Fabrik: Elf chinesische Arbeiter sterben“, sind darum jedes Jahr aufs Neue zu lesen – wortwörtlich jedes Jahr!
Dieser Artikel erschien 2016, seitdem aktualisieren wir ihn und sind jedes Mal wieder bestürzt: Ende 2016 starben über 30 Menschen bei einer Explosion auf einem Markt für Pyrotechnik in Mexiko. Im ostchinesischen Guangfeng kam ein Mensch bei einer schweren Explosion in einer Feuerwerkfabrik ums Leben. Im November 2017 wurden fast 50 Menschen getötet: In einer Feuerwerksfabrik nahe Jakarta gab es eine heftige Explosion, bei der das Dach des Gebäudes abgesprengt wurde. Im Jahr 2018 starben 24 Menschen aufgrund von Explosionen in einer mexikanischen Feuerwerkfabrik. Im September 2019 wurden bei einer schweren Explosion in einer Feuerwerkfabrik in Indien mindestens 21 Menschen getötet, mindestens 17 wurden verletzt. 2020 explodierte eine Feuerwerksfabrik in der Türkei: 4 Tote, mehr als 80 Verletzte. 2021: Schwere Explosion einer Feuerwerkfabrik in Indien mit 19 Toten und 34 Verletzten. 2022: 7 Tote und 12 Verletzte, weil eine Feuerwerkfabrik im indischen Bundesstaat Himachal Pradesh explodiert ist. 2023: 10 Tote, mindestens 118 Verletzte bei der Explosion einer Feuerwerkfabrik in Thailand, 8 Tote bei einer Explosion in Indien.
Das Risiko der Arbeiter:innen wird anscheinend hingenommen. Sind wir an Nachrichten von ausgebeuteten, verunglückten Menschen in der asiatischen Textil- und Elektronikindustrie schon so gewohnt, dass uns eine explodierte Feuerwerksfabrik nur noch wenig schockieren kann? Es ist an der Zeit hinzusehen, wie es Menschen in der Feuerwerksproduktion ergeht.
„Sie haben keine Fingernägel mehr“
Die Hauptproduzenten der Feuerwerkskörper sind Indien und China. Mit ihrer Produktion decken sie 97 Prozent des Weltmarktes ab. In den letzten 20 Jahren stammten stets mehr als 90 Prozent, der nach Deutschland importierten Feuerwerkskörper, aus China. In beiden Ländern gibt es jeweils eine Region, wo der Großteil der Feuerwerksherstellung stattfindet – Liuyang in China und Sivakasi in Südindien.
Berichte über die Arbeit in diesen Städten erinnern an Beschreibungen des Höllenfeuers:
Sie haben keine Fingernägel mehr. Ihre Hände sind verätzt. Arme und Gesicht sind von Brandnarben gezeichnet. Laut des Kinderhilfsordens Don Bosco stellen Kinder in der südindischen Stadt Sivakasi Raketen, Böller und Wunderkerzen her.“
(taz)
Circa 70 000 Kinder arbeiten in Indien in der Feuerwerksindustrie. Laut dem Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi fangen die Kinder schon mit fünf Jahren an. Zehn- bis Zwölfjährige arbeiten bis zu 13 Stunden am Tag – sechs Tage die Woche. Sie verdienen nur einen Bruchteil von dem, was die erwachsenen Arbeiter bekommen, sind aber bei ihrer Arbeit einer extremen Gefahr ausgesetzt.“
(Aktiv gegen Kinderarbeit)
Jeder Neunte der Angestellten leidet unter Asthma oder Tuberkulose. Ursache hierfür ist der direkte Kontakt mit chemischen Substanzen wie Schwefel, Schwarz- und Aluminium-Pulver. Zudem finden aufgrund fehlender Sicherheitsvorkehrungen zahlreiche Unfälle statt. In den letzten zehn Jahren verloren allein in Sivakasi offiziell 75 Menschen ihr Leben und über 190 Arbeiter:innen wurden schwer verletzt.“
(Jugend eine Welt)
In der Stadt Liuyang in China ist mit 1700 Fabriken der größte Fabrikant. In Liuyang arbeitet ein Drittel der Bevölkerung in der Feuerwerksproduktion. Dieses Jahr starben im September bei einer Explosion in Südchina 12 Menschen, 33 wurden verletzt. Die chinesischen Medien berichten allerdings nur über große Unglücke, die meisten Unfälle gelangen demnach nie an die Öffentlichkeit.“
(Aktiv gegen Kinderarbeit)
Kurz gesagt: Die Feuerwerksherstellung ist lebensgefährlich, ausbeuterisch und produziert unermessliches Leid.
Ausbeutung und Kinderarbeit – geht das immer einfach so weiter?
Ja und Nein. Das Hilfswerk „Jugend eine Welt“ zum Beispiel setzt sich in Indien mittels Aufklärungs- und Hilfsprogrammen für weniger Kinderarbeit und bessere Arbeitsbedingungen in der Feuerwerksproduktion ein. Laut der NGO ist die Anzahl der dort in der Feuerwerksindustrie arbeitenden Kinder in den vergangenen Jahren offiziell deutlich zurückgegangen, weil schärfer kontrolliert wird: 2014 verloren 17 Betriebe in der Region Sivakasi Nadu ihre Lizenz, nachdem bei unangekündigten Kontrollen unter 14-jährige Kinder angetroffen wurden.
Doch Vorstandsmitglied Reinhard Heiserer warnt: „Unsere Projektpartner gehen davon aus, dass die Kinderarbeit zwar stark zurückgegangen ist, aber nach wie vor im Verborgenen stattfindet.“ Das Problem würde oft durch Auslagerung in ländliche Gebiete umgangen, wo seltener kontrolliert wird.
Das US-Department of Labor führt eine Liste von Gütern und deren Herkunftsländern, bei denen es Grund zu der Annahme hat, dass sie durch Kinderarbeit oder Zwangsarbeit unter Verletzung internationaler Standards hergestellt werden. Diese umfasst 158 Waren aus 77 Ländern (Stand: 28. September 2022). Bezüglich der Feuerwerksproduktion warnt die Institution vor folgenden Ländern: China, El Salvador, Guatemala, Indien und Peru.
2021 sorgte der coronabedingte Verkaufsstopp dafür, dass satte 81 Prozent weniger Feuerwerkskörper nach Deutschland importiert wurden als 2019, dem Jahr vor der Pandemie. Zum Jahreswechsel von 2022 auf 2023 durfte Deutschland wieder böllern – und hat es auch getan: Der Verkauf von Silvesterfeuerwerk sorgte mit einem Umsatz in Höhe von rund 180 Millionen Euro für ein historisches Hoch.
Böller Made in Germany?
Für mehr Sicherheit und bessere Löhne braucht es laut Jugend eine Welt vor allem mehr Druck von europäischen Importeuren. Wie ein solcher aussehen kann, zeigt Weco – der Hersteller mit Sitz in Köln gehört zu drei marktführenden Unternehmen in Deutschland.
Schon in den 90er Jahren hat Weco seine Geschäftsbeziehungen nach Indien aufgrund der dortigen Produktions- und Arbeitsumstände abgebrochen. Als einziges großes Unternehmen hat man eigene Produktionsstätten in Deutschland, wo die Herstellung weitgehend automatisiert stattfindet. Dort fertigt Weco (bei Aldi Süd verkauft das Unternehmen unter dem Namen „Helios“) nach eignen Angaben um die 35 Prozent seiner Feuerwerkskörper. Auch Weco bezieht den größten Teil des hierzulande verkauften Feuerwerks aus Asien, den allergrößten Teil aus China. Aufgrund des coronabedingten Verkaufsstopps für Feuerwerkskörper in den Jahren 2020 und 2021 musste Weco eines von drei Werken in Deutschland schließen.
Utopia meint: Die Arbeitsbedingungen in der Feuerwerksproduktion sind Menschen nicht würdig. Und auch, wenn ein in Deutschland hergestellter Böller ein besserer Böller sein mag, bleibt er ein unsinniges Produkt. Bitte kauft keine Feuerwerkskörper und sagt’s weiter!
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