Ein Jahr lang hat Regisseur Stephan Lamby Politiker und Journalisten begleitet. Er war bei Parteitagen und Demonstrationen, bei Presseterminen und Krisensitzungen. Herausgekommen ist das Porträt einer Gesellschaft: verunsichert, hektisch, hysterisch.
Will ein Regisseur brutale Szenen besonders dramatisch aussehen lassen, so kann er ein beliebtes Mittel einsetzen: Klassischer Gesang aus dem Off. Während auf der Leinwand das Blut nur so spritzt, trällert im Hintergrund eine Opernsängerin vor sich hin. Eine krasse Schere aus Bild und Ton – mindestens irritierend, fast schon verstörend. Zwar fließt in Stephan Lambys Film „Nervöse Republik“ kein Blut, doch auch hier greift der Effekt: Lamby zeigt den wütenden Mob einer Zwickauer Demonstration, während im Hintergrund prunkvollem Gesang läuft. Er lässt Journalisten und Politiker allerlei Hasskommentare vorlesen. Und zeigt sie, wie sie von einem Termin zum nächsten eilen – im Auto, den Gang entlang, im Aufzug.
Regisseur Stephan Lamby hat für den Film ein Jahr lang Spitzenpolitiker begleitet. Darunter Verteidigungsminister Thomas de Maizère (CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD), CDU-Generalsekretär Peter Tauber, SPD-Generalsekretärin Katarina Barley, Linken-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht und AfD-Chefin Frauke Petry. Außerdem hat Lamby die Redaktionen von Bild.de und Spiegel Online besucht.
Hier der Trailer zum Film:
Lambys Film trägt den Untertitel „Ein Jahr Deutschland“. Und so gestaltet sich der Film auch wie ein rasanter Rückblick auf 2016. In Höchstgeschwindigkeit springt Lamby durch das Jahr: Tortenwurf auf Sahra Wagenknecht, Brexit-Referendum, Amoklauf in München, Donald Trumps Wahlsieg, Erfolge der AfD, Terroranschlag in Berlin und schließlich, Anfang 2017, die Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidat. In 90 Minuten imitiert Lamby das irre Tempo, das in politischem Alltag und Nachrichtenredaktionen den Takt vorgibt. Eilmeldungen und Schlagzeilen ziehen vorüber, Politiker beziehen Stellung, springen ins Auto und rasen zum nächsten Termin. Eine „nervöse Republik“ in Aktion.
„Man hätte es auch hysterisch nennen können“, sagte Dokumentarfilmer Lamby bei der Vorstellung seines Films Ende März in Berlin. „Aber nervös, darin steckt das Wort ‚Verunsicherung’.“ Damit meint er insbesondere die Verunsicherung von Politik und Medien. Zweier Branchen, die sich – konfrontiert mit dem Anwachsen von Pegida und AfD – irritiert die Augen reiben und fragen: Haben wir uns zu weit von dieser Bevölkerungsgruppe entfernt?
Besonders deutlich wird das an den Aufnahmen von einer Kundgebung in Zwickau zum 1. Mai 2016. Justizminister Heiko Maas ist gekommen, um eine Rede zu halten. Doch die Demonstranten feinden ihn an. Sie pfeifen, schreien aus vollem Halse „Hau ab“ und „Volksverräter“. Sie halten Schilder in die Höhe: „Hier steht das ‚Pack’“ und „Meinungsfreiheit“ ist darauf zu lesen. Maas, der inmitten des Lärms kaum zu verstehen ist, ruft ins Mikrofon: „Wisst ihr eigentlich, wie lächerlich es ist, hier die Meinungsfreiheit hochzuhalten und nichts anderes zu tun als anderen zu verbieten, die Meinung zu sagen?“
Die Menge johlt, als Maas davonfährt
Wenige Minuten später läuft Maas zügig zu seinem Dienstwagen, steigt ein und rauscht davon. Die Zwickauer Menge johlt. Auch auf dem AfD-Parteitag, der zeitgleich in Stuttgart stattfindet, wird die Begegnung angesprochen. „In Zwickau ist heute der Herr Maas von der Ersten-Mai-Demo davongejagt worden“, verkündet der sächsische AfD-Politiker Uwe Wurlitzer. „Er ist mit seinem Auto geflohen, das fand ich richtig gut.“ Der AfD-Parteitag reagiert ähnlich wie die Demonstranten in Zwickau: mit frenetischem Applaus und Standing Ovations.
„Der Hass in den Augen, den ich da gesehen habe – den habe ich so auch vorher noch nirgendwo gesehen“, sagt Maas später in einem Interview mit Lamby über seinen Auftritt in Zwickau. „Man wird wahrgenommen als jemand, der bekämpft werden muss. Es geht also nicht mehr um das, was man sagt, sondern nur noch darum, wer man ist.“ Viele Bürger, so zeigt der Film, haben das Vertrauen in das sogenannte „Establishment“, die „Elite“, verloren. Dazu zählen alle etablierten Parteien, aber auch die Medien.
Auf einer Pegida-Demonstration in Dresden wird Lambys Kamerateam wüst beschimpft. „Lügenpresse“ ist mitunter noch die frommste Beleidigung. Lamby fragt zwei junge Männer, welche Informationsquelle für sie die beste sei. Die Facebook-Seite von Pegida, antworten die beiden prompt.
„Wenn so viele Menschen uns lesen, dann vermutlich, weil wir so geistreich sind.“
Doch „Nervöse Republik“ ist keineswegs eine Schuldzuweisung, die ausschließlich Ungebildete, Abgehängte und Populisten verantwortlich macht. Die Dokumentation fragt vielmehr nach den Beweggründen für die heutige Situation. Dabei treten viele von Lambys Gesprächspartnern selbstkritisch auf. So sagt beispielsweise Julian Reichelt, Vorsitzender der Bild-Chefredaktionen: „Wir haben als Medien über Jahrzehnte hinweg unsere enormen Reichweiten als enorme Zustimmung interpretiert. Wir haben uns als relativ eitle Branche selber gesagt: ‚Naja, wenn so viele Menschen uns lesen, uns zuhören, im Fernsehen sehen, dann liegt das vermutlich daran, dass wir so geistreich, klug, analytisch und scharfsinnig sind.’“
Dabei sei ignoriert worden, dass es lange ja kaum Alternativen zu klassischen Medien gegeben habe – eine Situation, die sich mit dem Aufkommen von Social Media änderte. Reichelt sagt: „Viele Menschen haben nun auf einmal das Gefühl, Social Media geben ihnen jetzt Zugriff auf die Wahrheit, die wir (die Medien) ihnen jahrzehntelang vorenthalten haben könnten. Und das hat tatsächlich eine neue Parallelgesellschaft in der digitalen Welt geschaffen.“
„Nervöse Republik – ein Jahr Deutschland“ ist eine Dokumentation, die einen spannenden Einblick gibt, unter welchem Druck Politik und Medien stehen. Obwohl der Film beide Berufe stets als Gegenspieler begreift, blitzt doch immer wieder durch, wie sehr sich ihr Alltag ähnelt. Sie eilen durch helle gläserne Gebäude, sitzen an großen Konferenztischen. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley lässt sich über die aktuellen Umfrageergebnisse informieren. Bild.de-Chef Julian Reichelt checkt auf seinem Computer, welche Artikel am meisten Klicks bekommen. Sahra Wagenknecht erzählt, dass sie auf Facebook in einer Woche ungefähr eine Million Menschen erreicht, „das ist eine mittlere Zeitung“. Sie alle ringen um Aufmerksamkeit. Und sie alle erleben mit dem Erstarken der AfD einen Umbruch, der sie nervös macht.
Der Film „Nervöse Republik – Ein Jahr Deutschland“ von Regisseur Stephan Lamby wurde am 19. April im Ersten erstmals ausgestrahlt. Er ist in der ARD-Mediathek verfügbar. Am 25. April 2017 läuft er um 22:15 Uhr im NDR Fernsehen und um 22:45 Uhr im rbb Fernsehen. Wiederholungen folgen am 18., 19. und 20. Mai auf Phoenix.
GASTBEITRAG vom Greenpeace Magazin.
TEXT: Julia Huber
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