Während deutsche Großstädte noch über keine einzige autofreie Innenstadt verfügen, macht die Stadt Gent längst vor, wie es geht. Unsere Redakteurin schildert ihre Eindrücke aus der belgischen Metropole.
Eine autofreie Innenstadt? In Deutschland sucht man diese bislang vergeblich – auch wenn beispielsweise Hannover und Münster ehrgeizige Ziele verfolgen. Anders sieht es dagegen in Belgien aus, genauer gesagt in der Region Flandern. Ich habe dort die Universitätsstadt Gent besucht, die über die größte autofreie Zone Europas verfügt – und war begeistert.
Autofreie Innenstadt: Gent beweist, dass es funktioniert
Gent ist mit rund 265.000 Einwohner:innen die zweitgrößte Stadt Belgiens. Seit 2017 hat die Metropole in der Innenstadt das größte verkehrsberuhigte Gebiet Europas. Darauf sind die Menschen in Gent stolz.
An einem Wochenende Ende September bot sich mir folgendes Bild: Bei Sonnenschein waren tausende Menschen in der Stadt unterwegs – überwiegend zu Fuß. Dazu gesellten sich einige Radfahrer:innen; innerhalb eines Nachmittags sahen wir nur eine Handvoll Taxis und Autos durch die Stadt fahren. Hinzu kamen einige Trambahnen und Busse, die die Innenstadt durchqueren.
Als Tourist:in fühlte sich das großartig an. Denn trotz der vollen Stadt hatten alle Platz, da man die gesamte Straße zum Spazieren und Radfahren nutzen konnte. Die wenigen Autos auf der Straße fuhren Schrittgeschwindigkeit und warteten geduldig, bis sie an den Fußgänger:innen vorbeikonnten. Der Fuß- und Radverkehr hat hier eindeutig Vorrang und das scheint allgemein akzeptiert zu sein.
Doch wie funktioniert das Verkehrskonzept von Gent im Alltag und wie kam die Stadt dorthin?
Gent: Innenstadt wird zur Umweltzone
Bereits in den 1970er und 1980er Jahren richtete die Stadt Gent autofreie Straßen ein und baute das Konzept in den 1990ern weiter aus. Entscheidend war das Jahr 2017: Damals wurde der verkehrsberuhigte Innenstadtbereich so vergrößert, dass er nun der größte in ganz Europa ist. Das ursprüngliche Ziel: Die gesamte Innenstadt zur Umweltzone transformieren, um die Luftqualität in der Stadt zu verbessern.
Hierfür wies man autofreie Straßen aus sowie Fahrradstraßen, auf denen Radfahrende Vorrang haben. Den innerstädtischen Autoverkehr lagerte Gent auf Umgehungsstraßen um. Nur Busse und Straßenbahnen dürfen direkt durch die Stadt fahren. Doch selbst einige Tramlinien wurden im gesamten Stadtkern zurückgebaut oder stillgelegt.
Wer mit dem Auto nach Gent reist, kann es außerhalb der Innenstadt kostenfrei auf P+R-Parkplätzen abstellen und mit dem Bus oder Mieträdern in die Stadt fahren. Auch in der Innenstadt gibt es zwar (kostenpflichtige) Parkplätze, allerdings fast ausschließlich in unterirdischen Parkhäusern. Will man mit dem PKW in die Stadt, muss man sich vorab online für die Umweltzone registrieren. Je nach Euro-Norm des Wagens gilt die Zulassung nur für bestimmte Tage oder man muss dafür bezahlen.
Das schafft Platz für Fußgänger:innen und Fahrradparkplätze. Von letzteren hat Gent eine ganze Menge – und braucht sie auch. Auf einem sehr großen Fahrradparkplatz mitten in der Stadt parkten bei unserem Besuch durchgehend hunderte Räder (siehe Bild).
Eine Stadt ganz ohne Autos?
Es ist nicht so, dass man nun keinerlei Autos mehr in der Innenstadt sieht – aber nur sehr wenige. Vereinzelt fahren Taxis durch die Stadt und natürlich darf auch der Lieferverkehr in die Innenstadt. Um Barrierefreiheit zu gewährleisten, wurde die Innenstadt nach Angaben des Tourismusbüros möglichst rollstuhlgerecht angepasst. Klingt fast zu schön, die Verkehrswende in Gent?
Verkehrswende mit Gegenwehr – bis hin zu Morddrohungen
Filip Watteeuw, stellvertretender Bürgermeister für Mobilität, öffentlichen Raum und Stadtplanung bei der Stadt Gent, hat das Verkehrskonzept maßgeblich mitgestaltet und dafür auch heftige Kritik geerntet.
Mobilitätsexpertin und Bestsellerautorin Katja Diehl erzählte unserem Chefredakteur Martin Tillich im Utopia-Changemaker-Podcast von einem Gespräch mit Filip Watteeuw. Dieser schilderte ihr, dass seine Familie aus Sicherheitsgründen sechs Wochen lang an einem geheimen Ort leben musste: Er hatte Morddrohungen erhalten.
Bereits kurz nach Umsetzung des neuen Mobilitätskonzepts allerdings seien die Menschen in Gent begeistert gewesen. Watteeuw erinnert sich: „2017 habe ich den Verkehrsplan umgesetzt. Und bei der Wahl 2018 habe ich einen Zuwachs an Stimmen um das Vierfache bekommen. Das war in dem Moment ein Mandat, die Leute wollten, dass wir uns weiter mit Mobilität und Stadtplanung beschäftigen.“ (Quelle: „Raus aus der Autokratie“, Katja Diehl).
Weniger Autos, mehr Radverkehr – Gents Konzept wirkt
Auch BR24 berichtete 2023 über Gent und liefert Daten, die die positiven Auswirkungen der autofreien Innenstadt untermauern: Seit 2015 ging die Zahl der Haushalte mit eigenem Auto um 25.000 zurück – das entspricht einem Zehntel der Einwohner:innen. Der Radverkehr verdoppelte sich. Gleichzeitig passieren 30 Prozent weniger Verkehrsunfälle. Hinzu kommen weniger Lärm und eine verbesserte Luftqualität.
Watteeuw ergänzt in Katja Diehls Buch: „In der Zeit, in der ich als stellvertretender Bürgermeister begann, hat es auf bestimmten Fahrradrouten jeden Tag etwa 3000 Radfahrende gegeben. Jetzt sind es 8000 – 9000.“
Fazit: Städte ohne Autos können funktionieren
Die Stadt hat eindrucksvoll bewiesen, dass eine Verkehrswende zwar nicht ohne Gegenwehr, aber definitiv möglich ist. Gent hat sich auch in anderen Bereichen als dem Verkehr mehr Nachhaltigkeit verschrieben: Die Stadt ist schon seit 2009 die „Veggie-Hauptstadt“ Europas. Am Donnerstag etwa ist „Veggietag“: Die Stadt ermuntert ihre Einwohner:innen, donnerstags kein Vlees (Fleisch) oder Vis (Fisch) zu essen und serviert in städtischen Diensten und Schulen an diesem Tag eine vegetarische Mahlzeit.
Übrigens: Auch in der größten Stadt Belgiens – Antwerpen – macht Fahrradfahren viel Spaß. Breite Fahrradstreifen führen durch die und ganze Fahrradstraßen in die Innenstadt. Bei unserem Besuch war gefühlt die halbe Stadt mit dem Rad unterwegs, selbst als es leicht zu regnen anfing.
Utopia meint: Wir brauchen mehr sicheren Fahrradverkehr in den Städten
Beispiele wie Gent und Antwerpen zeigen: Autofreier Verkehr kann sich durchsetzen und bringt zahlreiche Vorteile mit sich. Aus Sicht einer Touristin kann ich sagen, dass verkehrsberuhigte Städte mit guter Radinfrastruktur wahnsinnig schön zu entdecken sind. Gent wirkte quirlig, lebendig und gleichzeitig angenehm gemütlich und sicher.
Was mich am meisten überraschte: Sogar ins Fußballstadion fährt man in Gent mit dem Fahrrad oder kommt zu Fuß. Einen Autoparkplatz rund um die moderne Fußballarena zu ergattern, war fast unmöglich. Die beste Lösung für uns: Das Auto einige Kilometer vom Stadion entfernt abstellen und sich aufs Rad schwingen, denn Fahrräder konnten vor der Planet Group Arena problemlos tausende parken.
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