Utopia-Redakteur Benjamin lebt seit fast zehn Jahren vegan. In bestimmten Ausnahmen isst er trotzdem Tierprodukte, wenn auch nur sehr selten.
Seit ich 16 Jahre alt bin, verzichte ich auf Fleisch. Mit 19 habe ich meine Ernährung auf vegan umgestellt. Anfangs war ich noch sehr dogmatisch. Als ich etwa zu Schulzeiten in ein Gemüsesandwich biss, das beim Bäcker zu eng neben einem Thunfisch-Fladen gelegen hatte, landete etwas Fisch zwischen meinen Zähnen. Für mich fühlte es sich fast wie eine Sünde an. Ich dachte, ich müsste mir nun möglichst schnell den Mund auswaschen – obwohl es gar nicht meine Schuld und auch keine bewusste Entscheidung war, den Fisch zu essen.
Mittlerweile bin ich seit fast zehn Jahren Veganer und seit etwa 14 Jahren Vegetarier. Meine Überzeugung von pflanzlicher Ernährung ist im Laufe der Zeit nur stärker geworden, doch in der praktischen Umsetzung wurde ich lockerer. Wie diese beiden Aspekte zusammenpassen, erkläre ich am Ende dieses Artikels. Erstmal möchte ich aber die drei Szenarien nennen, in denen ich hin und wieder Tierprodukte konsumiere.
1. Essen wird sonst weggeworfen
Das einzige, was schlimmer ist, als Tiere ihr ganzes Leben lang zu versklaven, zu mästen und zu töten, ist, all das zu tun und das Endprodukt dann wegzuwerfen. Deshalb finde ich es als Veganer absolut vertretbar, Tierprodukte zu essen, die ansonsten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im Müll landen würden.
Für mich ist das bloße Essen von Tierprodukten keine moralisch verwerfliche Handlung. Es ist die Produktion und der Konsum, also der Kauf von Tierprodukten, der zur Steigerung der Nachfrage und somit zum Leid von Tieren führt, nicht der Moment des Verzehrs.
Natürlich gibt es auch indirekte Faktoren zu beachten: Wenn ich sabbernd die Spare Ribs meines Kumpels begaffen würde, in der Hoffnung, dass er sie nicht schafft und ich mich darauf stürzen kann, würde das den Veganismus ins Lächerliche ziehen. Und wenn ich andere mit meinem Verhalten zum Kauf tierischer Nahrungsmittel motivieren würde – nach dem Motto: Wenn am Ende was übrig bleibt, esse ich das schon – dann wäre das genauso schlimm, wie sie selbst zu kaufen.
Mir geht es hier um die eindeutigen Fälle, in denen Lebensmittel wirklich weggeworfen oder verderben würden, wenn ich sie nicht esse. Aus der Ausnahme sollte aber niemals eine Routine werden.
Einmal war ich zum Beispiel bei meinen Eltern und schüttete gedankenverloren Kuhmilch auf mein Müsli, weil ich gar nicht auf den Milchkarton geachtet hatte. Ich war es eben gewohnt, nur Pflanzenmilch im Kühlschrank zu haben. Hätte ich die Milch deshalb wegschütten sollen? Wem hätte ich damit geholfen? Also habe ich das Müsli gegessen. Netter Nebeneffekt: Ich fand es nicht so lecker wie mit Hafer- oder Sojamilch und wurde in meinem Veganismus bestärkt.
2. Es geht um meine Gesundheit
Auch wenn es um meine Gesundheit geht, mache ich bei meiner Ernährung Ausnahmen. Das bedeutet aber nicht, dass ich Veganismus für ungesund halte. Für manche Personen, die von einer oder sogar etlichen Allergien geplagt sind und deshalb kaum pflanzliche Auswahl haben, mag das zutreffen. Grundsätzlich ist eine gesunde pflanzliche Ernährung mit Zugabe von Vitamin B12 aber sehr gut möglich. Das Problem: Nicht immer hat man diese Option.
Wenn ich zum Beispiel im Krankenhaus liege und dort kein veganes Angebot existiert, greife ich eben zum vegetarischen. Ich will meinem Körper in einer ohnehin schon ernsten Situation nicht auch noch mit Hunger und möglichem Nährstoffmangel belasten, indem ich zu wenig esse.
Ja, als Veganer möchte ich Leid vermeiden, doch dabei schließe ich mein eigenes Leid mit ein und deshalb halte ich den Schutz der eigenen Gesundheit für einen legitimen Grund für eine Ausnahme. Das gilt auch für den Einsatz von Medikamenten, die leider auch nicht immer vegan sind.
Hoffentlich entwickelt sich die Gesellschaft in Zukunft in eine Richtung, die vegane Ernährung überall ermöglicht und somit Situationen verhindert, in denen man der eigenen Gesundheit wegen derartige Kompromisse eingehen muss.
3. Ich probiere Neues aus
In sehr seltenen Fällen probiere ich einen Bissen von einer nicht-veganen Speise, wenn ich diese noch nie zuvor gegessen habe. Ich bin ein sehr wissbegieriger Mensch und sammle gerne neue Erfahrungen. Das mag man mir in diesem Kontext als Charakterschwäche ankreiden, allerdings zweifle ich stark daran, dass das Probieren von nicht-veganen-Nahrungsmitteln – so wie ich es praktiziere – irgendeinem Tier Leid verursacht.
Denn erstens kommt das extrem selten vor. Ich schätze, dass ich im Schnitt einmal pro Jahr ein Tierprodukt probiere. Zweitens kaufe ich selbst in diesen Fällen nichts und animiere auch niemanden zum Kauf, sondern nehme einen Bissen von einer bereits gekauften Speise.
Wenn ich das tue, befriedigt das aber nicht nur meine Neugier, sondern stärkt auch meine Überzeugung. Denn wenn ich sage: „Als Veganer verpasst man nichts“, möchte ich das nicht einfach nur behaupten, sondern wissen, wovon ich rede. Dadurch, dass ich hin und wieder einen Blick über meinen Tellerrand hinauswerfe, kann ich einen Einblick in die Ernährungswelt von Mischköstler:innen werfen. Bisher kam ich dabei immer zu dem Ergebnis, dass Käse, Fleisch und Co. ihrer Popularität nicht gerecht werden.
Wenn andere mir also einreden wollen: „XY schmeckt so lecker, darauf kann ich nicht verzichten“, dann lasse ich mich nicht davon beeinflussen. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass aus diesem Satz oft nur die Gewohnheit spricht. Dadurch, dass ich beide Seiten kenne, bin ich noch überzeugter von der Sinnlosigkeit des Massenkonsums von Fleisch, Milch und Eiern.
Worum es beim Veganismus eigentlich geht
Veganismus ist für mich keine Religion, bei der man blind irgendwelchen Dogmen folgen muss und dabei selbst vernünftige Ausnahmen zur Sünde erklärt. Sogar die Definition der Vegan Society beinhaltet den Einschub „so weit wie praktisch durchführbar“, was durchaus einigen Spielraum bei der Gestaltung der eigenen veganen Lebensweise offenlässt.
Aber ob im Internet oder im echten Leben: Oft habe ich den Eindruck, dass es auf beiden Seiten der Diskussion Menschen gibt, die Veganismus schlicht mit einem unverrückbaren „keine Tierprodukte essen“-Dogma gleichsetzen, ohne zu verstehen, worum es dabei wirklich geht: unnötiges Leid zu vermeiden. (In erster Linie meine ich damit das Leid der Tiere, angesichts der schlechten Klima-Bilanz von Tierprodukten lässt sich aber auch menschliches Leid infolge der Klimakrise mit einbeziehen.)
Klar kann man Veganismus auch superstreng interpretieren, das habe ich in den ersten Jahren auch gemacht und gerade für den Einstieg ist ein 100-prozentiger Verzicht vielleicht sogar einfacher als ein 99-prozentiger, weil die Regeln klar sind und man nicht ständig abwägen muss. Doch das kann eben teils zu Situationen führen, in denen man sich absurderweise für etwas schuldig fühlt, das überhaupt keinen negativen Effekt auf irgendetwas hat, wie etwa mein „Thunfisch-Vorfall“ zeigt.
Keine Tiere essen vs. Leid vermeiden
Eben weil es auch Ausnahmen gibt, in denen der Verzehr von Tierprodukten kein Leid verursacht oder aus Gründen der eigenen Gesundheit gerechtfertigt werden kann, finde ich eine allzu strenge Auslegung des Veganismus zwar nicht verkehrt, aber auch etwas abschreckend.
Denn „Esse keine Tierprodukte“ kann kein allgemeingültiges Gebot für alle Lebenslagen sein, ist dadurch angreifbar und führt zu Abwehr- und Trotzreaktionen. Die Botschaft „Vermeide unnötiges Leid“ muss hingegen von jede:r Person mit auch nur einem Funken Empathie bejaht werden, obwohl in der praktischen Umsetzung in Bezug auf die Ernährung nur winzige Unterschiede bestehen.
Ich richte meinen Veganismus deshalb an letzterem Grundsatz aus. In der Praxis führt das zu gelegentlichen Ausnahmen vom Verzicht, die ich in diesem Artikel dargelegt habe. Doch auch in der Theorie finde ich es wichtig, jene Unterscheidung zu treffen, damit das „Warum?“ des Veganismus nicht in den Hintergrund rückt.
Hinweis: Dieser Artikel wurde 2023 erstveröffentlicht.
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