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Ansteckung über Social Media? Jugendliche entwickeln Tourette-artige Tics

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Foto: CC0 Public Domain - Unsplash/ Jonas Leupe

Junge Menschen haben vermehrt Tourette-artige Symptome entwickelt. Das Phänomen lässt sich nicht nur in Deutschland beobachten. Forscher:innen sehen eine Verbindung zu Social Media.

Zahlreiche Jugendliche haben während der Corona-Pandemie Tourette-artige „Tics“ entwickelt, wie unter anderem Spektrum berichtet. Diese werden wahrscheinlich durch funktionelle neurologische Störungen verursacht. Unterschiedliche Studien deuten auf einen Zusammenhang mit dem Konsum sozialer Medien hin.

Der Unterschied zwischen Tourette und funktionellen neurologischen Störungen

Zu häufigen Symptomen für funktionelle neurologische Störungen zählt die Deutsche Hirnstiftung Schwindel und Lähmungen, aber auch Anfälle und Bewegungsstörungen. Zu letzterem können Tics zählen, wie sie bei Touretteerkrankungen vorkommen – also zum Beispiel unwillkürliche Zuckungen und Lautäußerungen.

Tourette ist eine neuropsychiatrische Störung, die meist im Kindesalter diagnostiziert wird. Die Beschwerden verlieren sich häufig im Laufe der Pubertät, können aber auch chronisch werden und sind dann nicht heilbar. Funktionelle neurologische Störungen können behandelt werden, oft kommt dabei eine Verhaltenstherapie zum Einsatz.

Studie: Breitet sich Krankheit über Social Media aus?

Tourette-ähnliche Fälle von funktioneller neurologischer Störung haben laut Spektrum seit 2020 stark zugenommen. Fachleute warnten demnach bereits vor der Krankheitswelle von Tourette-ähnlichen funktionellen Bewegungsstörungen.

Viele Betroffene scheinen vor dem Einsetzen der Symptome im Internet Videos von Menschen angesehen zu haben, die ähnliche Symptome zeigen. Einige Studien haben untersucht, ob es einen Zusammenhang gibt. Die Ergebnisse stützen sich auf Analysen von wenigen Proband:innen.

So verglich eine Studie aus Lübeck 13 Jugendliche, die die Videos konsumiert und daraufhin Beschwerden entwickelt hatten, mit 13 Gleichaltrigen, die im Kindesalter mit Tourette diagnostiziert wurden. Sie stellten unter anderem fest, dass Proband:innen mit Tourette meist wenige einfache Tics aufwiesen. Bei Patient:innen mit funktioneller Störung waren die Symptome komplexer. Der Grad der Beeinträchtigung sei außerdem oft höher, bestätigt ein Autor der Studie, Alexander Münchau, gegenüber Spektrum.

Er gibt an, dass er an Betroffenen oft die ticartigen Bewegungen und Lautäußerungen des bekannten, an Tourette erkrankten YouTubers Jan Zimmermann beobachtet. Zimmermann spricht auf seinem Kanal „Gewitter im Kopf“ über seine Krankheit. „Sogar die Stimmfärbung der Patienten spiegelt manchmal die von Zimmermann“, erklärt der Studienautor. Allerdings hatten laut Spektrum nicht alle der untersuchten 13 Proband:innen mit funktionaler Störung Videos, auf denen Tourette zu sehen ist, konsumiert. Die meisten hätten aber irgendwann Kontakt damit gehabt.

Eine weitere Studie der University of Calgary in Kanada zeigt auf, dass auch in englischsprachigen Ländern die Fallzahlen steigen. Die Symptome der Proband:innen ähneln Spektrum zufolge denen reichweitenstarker Personen auf der Plattform TikTok. Allerdings hatten nur 26 der 34 Patient:innen angegeben, entsprechende Clips konsumiert zu haben. Dies kann darauf hindeuten, dass Videos und Social Media zwar eine Rolle bei der Verbreitung dieser Form von funktioneller neurologischer Störung spielen, aber nicht der einzige Übertragungsweg sind.  

Was verursacht funktionelle neurologische Störungen?

Funktionelle Syndrome können schlagartig bei zahlreichen Personen auftreten. Zu bekannten Beispielen zählt eine Highschool in den USA. Ein Mädchen entwickelte 2011 Tourette-artige Symptome und steckte scheinbar Mitschülerinnen an. Ähnliches scheint nun in den sozialen Medien zu passieren.

Derzeit wird davon ausgegangen, dass funktionelle neurologische Störungen entstehen, wenn ein oder mehrere Trigger eine dysfunktionale Reaktion starten. So ein Trigger kann das Beobachten einer Person mit Tourette-Symptomen sein. Dies kann dazu führen, das man sich unbewusst selbst nach Symptomen scannt – danach kann das Gehirn Signale anders als zuvor interpretieren.

Die Universität Harvard geht ebenfalls auf das Phänomen ein und hebt hervor, dass soziogene Krankheiten oft zu Zeiten auftraten, an denen die Menschen unter großem Stress standen. Das war auch während der Corona-Pandemie der Fall. Die Wissenschaftler:innen schließen: „Wir wissen nicht, warum manche Menschen soziogene Krankheiten entwickeln und andere nicht.“ Diese Erkrankungen seien aber relativ selten.

Auch andere Forscher:innen vermuten, dass die Corona-Pandemie eine Rolle beim Anstieg der Fallzahlen gespielt hat. Das Team der University of Calgary weist darauf hin, dass Betroffene durch die Pandemie vermehrt psychosozialen Stressfaktoren ausgesetzt waren. Teils berichteten diese von familiären Problemen, außerdem kam es zu der Zeit verstärkt zu sozialer Isolation. Dadurch verbrachten sie mehr Zeit auf Social Media und kamen häufiger in Kontakt mit entsprechenden Videos.

Die Proband:innen der Studie aus Lübeck sollen zusätzlich zu ihrer Tourette-ähnlichen Erkrankung häufig unter einer Depression oder Angststörung gelitten haben – andere Studien bestätigen ähnliches. Eine Expertin für funktionelle Störung, Selma Aybek, erklärt gegenüber Spektrum: Psychische Probleme wie erlebte Misshandlungen, Traumata und Stress würden die Entstehung der Krankheit begünstigen. 

Forscher:innen kritisieren Social Media

Betroffene von Tourette versuchen, über Kanäle wie YouTube über ihre Krankheit aufzuklären. Dies kann unter anderem dazu beitragen, Stigmatisierung von Menschen mit bestimmten Erkrankungen zu reduzieren. Dennoch betont Aybek, dass entsprechende Videos ein Teil mehrerer Trigger für funktionelle neurologisch Störungen sein können: Je mehr sich junge Menschen mit den Influencer:innen identifizieren, desto höher sei das Risiko, dass sie von ihnen beeinflusst werden.

Studienautor Münchau sieht die Kanäle mancher Influencer:innen kritisch. „Das ist ein Wirtschaftsmodell, aber es hat für andere Menschen offenbar sehr nachteilige Folgen.“

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