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Muttertag ohne Mutter: Entfremdung „kann gesunde Antwort sein“

Muttertag ohne Mutter
Foto: CC0 / Pixabay - Lukas_Rychvalsky (Symbolbild) // Bernd Weißbrod/dpa

Zum Muttertag begegnen uns viele Bilder von glücklichen Familien. Manchmal sieht die Realität aber ganz anders aus: In etlichen Familien gibt es Kontaktabbrüche. Die Muster ähneln sich.

Wann Svenja (32) das letzte Mal mit ihrer Mutter gesprochen hat, weiß sie noch genau. Es war Weihnachten vor zwei Jahren, und ihre Mutter wollte ihr – so hat sie es jedenfalls empfunden – mal wieder vorschreiben, wie sie ihr Leben leben sollte: Der Enkel bräuchte eine andere Frisur (eine „richtige Jungenfrisur“), die Wohnung müsste besser geputzt sein und von ihrem Partner sollte sie sich lieber trennen. Seither herrscht zwischen Svenja und ihrer Mutter Funkstille. Auch den Muttertag verbringen beide getrennt – ohne Kontakt. 

„Immer wieder habe ich meiner Mutter versucht zu erklären, dass ich möchte, dass sie mein Leben und meine Grenzen akzeptiert, aber sie beharrt auf ihren Vorstellungen“, sagt Svenja. Zwar mache sie der Kontaktabbruch selbst traurig, aber nach Treffen mit ihrer Mutter sei es ihr noch schlechter gegangen. „Ich war dann oft sehr verunsichert und wusste nicht, zu wem ich halten soll: meiner Mutter oder meiner eigenen Familie mit unseren Wertvorstellungen.“

Zwei von Hundert ohne Kontakt zur biologischen Mutter

Kontaktabbrüche zwischen erwachsenen Kindern und Eltern sind keine Seltenheit. In einer repräsentativen, auf mehrere Jahre angelegten Studie mit über 10.000 Personen in Deutschland – der sogenannten Pairfam-Studie (Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics) – gaben die befragten Erwachsenen in sieben Prozent der teils wiederholten Befragungen an, keinen Kontakt zu ihrem biologischen Vater zu haben, in zwei Prozent keinen zur biologischen Mutter. Noch mehr fühlten sich emotional distanziert von ihren Eltern. Fast jede zehnte Person gab innerhalb von zehn Jahren zumindest eine Phase der Entfremdung zur leiblichen Mutter an, zum Vater sogar jede fünfte. 

Noch wesentlich häufiger kommt es laut der Studie zu Kontaktabbrüchen und Entfremdung bei Stiefeltern. Weitere Studien zeigen ähnliche Häufigkeiten. Die Beziehungen zwischen den Generationen seien sehr heterogen, bilanzieren die Autoren der Pairfam-Studie, Oliver Arránz Becker von der Uni Halle-Wittenberg und Karsten Hank von der Uni Köln. 

Entfremdung „kann eine gesunde Antwort sein“ 

Das zeigt sich auch bei Familienberatungsstellen. Er erlebe nicht nur Familien mit abgebrochenem Kontakt, sondern oft auch Menschen, die noch Kontakt zur Herkunftsfamilie hätten, aber darunter litten, berichtet Ulric Ritzer-Sachs von der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke), einem Fachverband für Erziehungs-, Familien- und Jugendberatung mit Sitz in Fürth. „Sie halten den Kontakt, obwohl er ihnen nicht guttut und sie seit der Kindheit immer wieder dasselbe erleben.“ Daher schreibt die britische Psychologin Lucy Blake, die sich eingehend mit Kontaktabbrüchen und Distanz in Familien beschäftigt hat: „Sich zu entfremden, kann eine gesunde Antwort auf eine ungesunde Umgebung sein.“

Zu große Enge – Wunsch nach Distanz

Gründe für Kontaktabbrüche zu den Eltern gibt es viele. Selten sind es extreme Gründe wie körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch in der Kindheit. Überdurchschnittlich oft kommen Kontaktabbrüche in Familien mit getrennten Elternteilen und in Familien mit Suchtproblemen vor, etwa wenn ein Elternteil alkoholabhängig ist. Aber auch wenn sich Kinder bei einem Elternteil als Partnerersatz gefühlt haben und der Kontakt zu eng war, kann das im Erwachsenenalter zu einem deutlichen Wunsch nach Distanz führen. 

In einer Befragung aus England wurden emotionaler Missbrauch, unterschiedliche Erwartungen an Familie und Rollenbilder sowie große Klüfte in Werten und Persönlichkeit als Hauptgründe genannt. In einer Studie aus den USA nannten Kinder als häufigsten Grund „toxisches Verhalten“ ihrer Eltern, wie ständige Respektlosigkeit, oder das Gefühl, nicht unterstützt und akzeptiert zu werden. Die Eltern geben in den Studien als Grund hingegen eher äußere Gründe an wie Scheidung oder die Partner ihrer Kinder. 

Meistens, aber nicht immer, geht der Kontaktabbruch von den Kindern aus; manchmal sind es die Eltern, manchmal beide Seiten. Manchmal wissen die Beteiligten gar nicht mehr, wer es war, so Ergebnisse der englischen Befragung.

Häufige Abwertung als Problem

„Meine Erfahrung als Therapeutin ist, dass es häufig unauflösliche Probleme zwischen Eltern und Kindern gibt, die mit narzisstischen Strukturen zu tun haben“, sagt die Münchner Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki, die für ihre Arbeit zu „weiblichem Narzissmus“ bekannt ist. Etwa wenn die Kinder von den Eltern immer abgewertet werden und das Gefühl haben, es nicht richtig machen zu können. Auch erwachsene Menschen suchten immer noch die Liebe, Zuwendung und Anerkennung ihrer Eltern. Davon loszulassen? Emotional sehr schwierig.

Wann ist genug genug? Offenbar gibt es verschiedene Punkte im Leben, an denen ein Kontaktabbruch wahrscheinlicher wird. Ein solcher Punkt kann die Trennung der Eltern sein. Laut der erwähnten Studie aus England sind die meisten Kinder, die den Kontakt abbrechen, beim Kontaktabbruch zwischen 20 und Mitte 30. Der Kontakt zu Vätern geht häufiger schon vor dem Erwachsenenalter verloren. 

Laut der Pairfam-Studie kann es aber auch nach dem Tod eines Elternteils zum Kontaktabbruch mit dem anderen Elternteil kommen. Auch die Geburt eigener Kinder scheint so ein Punkt zu sein. „Dann muss man sich überlegen, wie viel Kontakt die Kinder zu Ihren Großeltern haben sollen“, sagt Berater Ritzer-Sachs. Gerade wenn die Großeltern gegenüber den Enkel:innen ähnliche Muster zeigen, wie die, unter denen die Kinder leiden oder gelitten haben.

„Sich verletzlich zu machen ist schwierig“

Ein Kontaktabbruch kann hilfreich sein, aber zunächst sollte man überlegen, ob es nicht doch eine Möglichkeit zur Versöhnung gäbe, meint Ritzer-Sachs. „Manchmal sind es dämliche Streits, in denen keiner den ersten Schritt machen mag.“ Dann sollten beide Seiten überlegen, ob sie nicht doch den ersten Schritt machen wollten. Doch Wiederannäherungsversuche sollte man sich gut überlegen. „Das Visier noch mal hochzuklappen und sich verletzlich zu machen, ist schwierig. Man muss sich überlegen: Halte ich noch eine Verletzung aus, wenn es wieder nach hinten losgeht?“

Selbsthilfegruppen für «Verlassene Eltern»

In England und den USA gibt es Selbsthilfeorganisationen – „Stand alone-Community“ und „Together Estranged“ – die Menschen aus zerrütteten Familien unterstützen, zum Beispiel mit Ratschlägen, wie man mit Feiertagen – den Hochfesten der Familie – umgehen kann.

Laut einer Befragung nehmen 78 Prozent der befragten Betroffenen den Mutter- oder Vatertag als besonders schwierige Zeit im Jahr wahr. Ähnlich ist es bei Geburtstagen, Weihnachten, Hochzeiten und Todesfällen. Beratung, Psychotherapien und Selbsthilfegruppen erleben viele als hilfreich. Auch in Deutschland gibt es in mehreren Städten Selbsthilfegruppen für Eltern oder auch Großeltern unter Titeln wie „Verlassene Eltern“. Die Kinder finden sich meist eher in thematischen Selbsthilfegruppen, etwa als Angehörige von Alkohol- oder Drogenkranken oder Kinder narzisstischer Eltern.

Der Malteser Hilfsdienst rät, nicht sofort zum Telefon zu greifen, da sich die Gegenseite dadurch schnell bedrängt fühlen könnte. Besser seien möglicherweise ein klassischer Brief oder eine E-Mail, der oder die zu einem selbstgewählten Zeitpunkt in Ruhe und auch mehrfach gelesen werden kann.

Svenja, die eigentlich anders heißt, hat auch das mehrfach getan: Briefe, Sprachnachrichten, Einladungen zu Gesprächen. Sie wollte ihrer Mutter erklären, warum ihr der Kontakt schwerfällt und was sie sich wünschen würde. Eine Reaktion ihrer Mutter kam nie. Inzwischen versucht sie es nicht erneut, auch wenn Muttertag ist.

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