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Theorie der prekären Männlichkeit: Warum junge Männer gewaltbereit sind

prekäre männlichkeit
Foto: CC0 / Unsplash / Dan Burton

Warum scheinen vor allem junge Männer häufig aggressiv und gewaltbereit zu sein? Eine Reihe von Studien versucht, diese Frage zu beantworten – indem sie Männer mitunter Haare flechten und Buchstabenketten vervollständigen lassen. Doch es gibt auch Kritik an dem Ansatz.

Junge Männer bilden eine besonders gewaltbereite Gesellschaftsgruppe. Zu bestimmten Anlässen fällt das auch in der Öffentlichkeit stark auf: In der Silvesternacht 2022/23 gab es laut der Deutschen Presse-Agentur (dpa) allein in Berlin über 100 angezeigte Attacken auf Einsatzkräfte, hauptsächlich von Männern, und fast alle Täter waren unter 25. Auch die Polizeistatistiken belegen: Insgesamt sind über 80 Prozent der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten Männer.

Wissenschaftler:innen erforschen schon lange, warum das so ist. Ein Erklärungsansatz ist die Theorie der prekären oder fragilen Männlichkeit – also einer Männlichkeit, die leicht zu verletzen und zu verlieren sei. Das liegt der Theorie nach daran, dass man sich Männlichkeit erst hart erarbeiten müsse, indem man beispielsweise einen hohen sozialen Status erzielt. Verliert der Mann dann diesen Status, wird ihm auch die Männlichkeit schnell wieder abgesprochen. Weiblichkeit müsse man sich hingegen in den Augen der Gesellschaft nicht verdienen, könne sie aber auch nicht so einfach verlieren – so die These.

Ist die Männlichkeit verloren, könne man sie dann angeblich mit Gewalt wiederherstellen. „Denn wie zeigt man, dass man nicht schwach ist?“, fragt Jennifer Bosson, eine der führenden Forscher:innen auf dem Gebiet. „Man verhält sich aggressiv!“, lautet ihre Antwort.

Forschung an prekärer Männlichkeit

Seit 2008 ist Bosson, Psychologin an der University of South Florida, gemeinsam mit ihrem Kollegen Joseph Vandello federführend in der Forschung zur prekären Männlichkeit. In einer Studienreihe legten sie folgendes offen: Männlichkeit werde demnach generell als zerbrechlicher als Weiblichkeit angesehen, und werde mehr von „social proof“ (sozialen Nachweisen) definiert als von biologischen Merkmalen.

Männlichkeit müsse man sich also sozusagen verdienen, während man Weiblichkeit durch bestimmte körperliche Merkmale automatisch zugeschrieben bekomme. Außerdem fühlten sich Männer eher bedroht, wenn ihre Männlichkeit infrage gestellt wurde – nicht so jedoch Frauen. Zuletzt zeigten die Versuche, dass diese empfundene Bedrohung bei Männern, jedoch nicht bei Frauen, körperlich aggressive Gedanken auslöste.

2009 folgten drei weitere Studien. Sie zeigten, dass Männer diese Gedanken auch ausleben, wenn sie die Chance dazu bekommen: Die Teilnehmer konnten während des Versuchs frei wählen, ob sie ein Puzzle lösen oder boxen wollten. Das Puzzle diente dabei als eine neutrale, und nicht aggressive Beschäftigung, während das Boxen die körperlich aggressivere Option darstellte. Bei einer Teilgruppe wurde deren Männlichkeit zuvor durch das Versuchsdesign infrage gestellt. Und diese Männer entschieden sich danach vermehrt fürs Boxen.

Wer sich vor anderen Leuten aggressiver zeigen konnte, indem er auf einen Boxsack einschlug, schien daraufhin ein gesenktes Stresslevel zu zeigen. „Männer können ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, indem sie Dinge tun, die öffentlich sichtbar sind und auch riskant, so dass es auch die Möglichkeit des Scheiterns gibt“, zitiert das Wissenschaftsmagazin Spektrum die Sozialpsychologin Bosson.

Neuere Studien bekräftigen diese Ergebnisse. 2021 zeigten Forscher:innen der amerikanischen Duke University, dass nur Männer sich aggressiver zeigten, wenn man sie in ihrer Geschlechtsidentität verunsicherte. Bei Frauen blieb dieser Effekt aus. Im Folgeexperiment zeigte sich daraufhin auch, dass ältere Männer insgesamt weniger Aggression zeigten.

Die Studienautor:innen gehen laut Spektrum davon aus, dass ein stabileres Selbstbild bei älteren Männern dazu führt, dass sie auch ihre Männlichkeit als weniger zerbrechlich empfinden. So hätten diese auch weniger oft das Gefühl, ihre verletzte Männlichkeit durch Gewalt wiederherstellen zu müssen.

Methoden: Haare flechten, Boxsäcke und Buchstaben

In den oben beschrieben Versuchen untersuchen die Forschenden die männliche Rolle in ihrer traditionellen Definition, die Stärke, Härte und Selbstsicherheit umfasst.

Für die Studiendesigns war es oft notwendig, diese Geschlechtsidentität zuerst anzugreifen, um die Teilnehmer zu verunsichern. Wenn Männer beispielsweise Puppenhaare statt eines Seiles flechten mussten, fühlten sie sich danach in ihrer Männlichkeit bedroht. Schließlich sind lange Haare in den meisten Kulturkreisen etwas typisch Weibliches, sowie auch Puppen.

Ob die Männer dadurch gewaltbereitere Gedanken hatten, wurde – wie Spektrum es beschreibt – möglichst „unauffällig“ gemessen: Die Teilnehmenden mussten eine Buchstabenkette vervollständigen: Wer beispielsweise „SCHL“ eher zu „SCHLAGEN“ vervollständigte anstatt „SCHULE“ zu schreiben, könnte den Wissenschaftler:innen damit unbewusst eine aggressivere Stimmung zeigen. Wüssten die Teilnehmenden hingegen, dass gerade ihre Stimmung erfasst werden sollte, könnten sie die Ergebnisse bewusst oder unbewusst verfälschen – etwa, weil sie keinen negativen Eindruck machen wollten.

Um zu erforschen, ob die aggressiven Gedanken auch ausgelebt würden, kamen Boxsäcke zum Einsatz. In einem Versuch konnten die Männer auswählen, ob sie auf einen Boxsack einschlagen oder ein Puzzle lösen wollten. In der Teilgruppe der Männer, die sich durch den Versuch in ihrer Männlichkeit verunsichert fühlen, wählten mehr den Boxsack als in der Teilgruppe, deren Geschlechtsidentität nicht angegriffen wurde. Stand der Boxsack nicht zur Verfügung, schrieben die Männer in der Wort-Vervollständigungs-Aufgabe öfter mit Angst assoziierte Wörter, wie beispielsweise „STRESS“.

„Diese Ergebnisse zeigen, dass Männer körperlich aggressive Zurschaustellungen als Mittel zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung ihres Männlichkeitsstatus verstehen, nutzen und davon profitieren, insbesondere wenn dieser Status in Frage gestellt wurde“, zitiert Spektrum aus dem Fachartikel.

Gewalt als letzter Ausweg

Doch Expert:innen zufolge ist Gewalt nur der letzte Ausweg. Laut Bosson würden sie ihre Männlichkeit bevorzugt wiederherstellen, indem sie andere beispielsweise ungefragt belehrten, oder generell ihre intellektuelle Überlegenheit zu beweisen versuchten.

Auch Susanne Spindler, Professorin für Soziale Arbeit und Migration, sagt gegenüber Spektrum: „Wenn man überhaupt nicht die Möglichkeit hat, beruflich aufzusteigen und gesellschaftliche Anerkennung fehlt, dann kann Männlichkeit als Ressource herangezogen werden.“ So würden einige Männer auf Gewalt zurückgreifen, weil sie keine Alternativen sähen, ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen.

Kritik an Forschung um die „prekäre Männlichkeit“

Doch am Konzept der prekären Männlichkeit sowie der einzelnen Versuchsaufbauten gibt es Kritik. Spektrum schreibt, dass andere Wissenschaftler:innen hinterfragen, ob in derartiger Forschung Männlichkeit nicht mit sozialem Status verwechselt würde. Sie kritisieren demnach, dass die Teilnehmer:innen in den Versuchen in Wirklichkeit lediglich soziales Ansehen einbüßen würden.

Dagegen sprechen jedoch andere Studien, die zeigen, dass Männer sich in Versuchen beispielsweise nur dann in ihrer Geschlechtsidentität bedroht fühlten, wenn sie eine Frau als Vorgesetzte bekämen: Wenn die Forschenden die männlichen Teilnehmer informierten, dass sie in einem Leistungstest schlechter abschnitten als eine Frau, und ihr deshalb untergeordnet wurden, zeigten sie sich bedroht. Das war jedoch nicht der Fall, wenn ein Mann zum Vorgesetzten der Männer ernannt wurde, und genauso wenig, wenn eine am Versuch teilnehmende Frau eine andere Frau als Vorgesetzte bekam.

Auch Weiblichkeit müsse erarbeitet werden

Psychologin und Frauenforscherin Joan Chrisler kritisiert außerdem in einem Kommentar zu einer der Studien von Vandello und Bosson: Nicht nur Männlichkeit müsse man sich erarbeiten, sondern auch Weiblichkeit. Ihr zufolge ist diese demnach keineswegs automatisch gegeben. „Ich argumentiere, dass Frauen ihre Weiblichkeit durch das Streben nach Schönheit erreichen müssen, oder indem sie ‚gute‘ Mütter werden“, so die Forscherin. Wer das nicht schaffe, werde zwar immer noch als weiblich (original: „female“) angesehen, jedoch nicht als „echte Frau“ (original: „real woman“).

Auf diese Kritik antworteten Bosson und Vandello, wie Spektrum schreibt: „Dass Männer ihren Geschlechterstatus leichter verlieren können als Frauen, bedeutet nicht, dass Frauen niemals den Geschlechterstatus verlieren können.“

Prekäre Männlichkeit ist nur eine dieser vielen Variablen

Die Forschenden sind sich bewusst, dass nicht nur eine Bedrohung der Männlichkeit Menschen zur Gewalt veranlassen kann. „Es gibt viele Variablen, die eine Rolle dabei spielen, wann und warum Männer sich aggressiv verhalten, und prekäre Männlichkeit ist nur eine dieser vielen Variablen“, zitiert Spektrum Bosson. Dennoch sei es ein Ansatz, Gewalt zu reduzieren, indem man Geschlechterungerechtigkeit abbaut.

Ein Forschungsteam um Bosson konnte diesen Zusammenhang 2021 in einer Studie untermauern: Je besser die Geschlechtergerechtigkeit in einem Land, desto weniger gaben die Teilnehmer:innen an, dass sie denken würden, man müsse sich Männlichkeit hart erarbeiten und könne sie leicht verlieren. Es wurden Menschen aus 62 Ländern befragt.

Programme, die Geschlechterrollen hinterfragen sollen

Es gibt bereits Ansätze, durch die Geschlechterrollen hinterfragt und so die Geschlechtergerechtigkeit gefördert werden soll. Sogenannte „gender-transformative Programme“ sollen Männern beispielsweise helfen, ihre Geschlechterrolle in einem sicheren Rahmen zu hinterfragen. Ein solches Programm lief vor einigen Jahren in den USA. Doch erste Ergebnisse des „Manhood 2.0“ genannten Projekts waren ernüchternd: Die Maßnahmen zeigten keinen signifikanten Effekt darin, sexuelle Gewalt oder Missbrauch im Rahmen von Beziehungen zwischen jungen Erwachsenen zu reduzieren.

Eine Forschungsgruppe von der Washington University in St. Louis konnte 2019 in einer systemischen Review zeigen, dass auf Gesundheit und Geschlechtergerechtigkeit ausgerichtete Programme bessere Ergebnisse erzielten, sobald sie auch das soziale Umfeld der Menschen miteinbezogen. Die erfolgreichsten Programme berücksichtigen demnach auch die Bildung, die Menschen erhalten, sowie unterschiedliche soziale Schichten.

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