Die Klimakrise ist die größte globale Herausforderung unserer Zeit. Sie greift in alle Lebensbereiche und fordert gesamtgesellschaftliche Strategien. Dazu müssen Perspektiven aus verschiedenen Bereichen gehört werden. Utopia hat deshalb dieselben fünf Fragen fünf Expert:innen gestellt. Das sind ihre Antworten.
Wie wollen wir als Gesellschaft angesichts der voranschreitenden Erderwärmung leben? Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Vielmehr müssen unterschiedliche Ansichten integriert werden, um der Klimakrise gesamtgesellschaftlich zu begegnen. Utopia macht mit seinem Format 5 Fragen – 5 Expert:innen den Anfang, wenngleich es noch vieler weiterer Stimmen bedarf: Fünf Menschen aus der Zukunftsforschung, Psychotherapie, Politik, dem Aktivismus und der Migrationsforschung schildern darin ihre Sichtweisen rund um die Klimakrise.
Im zweiten Teil der Serie antwortet Nora Oehmichen. Sie ist Lehrerin für Geschichte, Ethik und Französisch an einem allgemeinbildenden Gymnasium im Raum Stuttgart und Klimabildungsaktivistin. Oehmichen gehört zu den Gründungsmitgliedern von Teachers for Future Germany, engagiert sich dort im Bundesvorstand.
Utopia: Frau Oehmichen, die Meldungen zu Hitze-Rekorden, Sturzfluten, Dürren – kurzum Extremwetterereignissen – überschlagen sich in letzter Zeit. Wenn das der neue Normalzustand wird: Wie müssen wir damit umgehen?
Nora Oehmichen: Mit Blick auf die Schulen sollten wir damit aufhören, den menschengemachten Klimawandel als „Lernstoff“ zu behandeln. Er muss nicht in die Köpfe von Schüler:innen, um ihn nur in der nächsten Klassenarbeit abzufragen. Vielmehr gilt es ein Verständnis für die Klimakrise zu entwickeln: Demokratiebildung funktioniert ja auch nicht, indem man Wahlsysteme und Gewaltenteilung auswendig lernt. Die reine Stoffvermittlung in Sachen Klimawandel trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Zwei Ebenen sind Teachers for Future Deutschland im Umgang mit der Klimakrise an Schulen wichtig:
1. Die psychologische Ebene: Was macht das Wissen um die Klimakrise, deren Symptome und Folgen wir auch hier in Deutschland immer stärker sehen und spüren, eigentlich mit uns? Welche Gefühle verbinden wir damit? Gleichgültigkeit? Angst? Wut? Ohnmacht? Jeder Mensch, auch jede:r Schüler:in, hat Klimagefühle. Ihnen Raum zu geben ist ein wichtiger Schritt raus aus dem Verdrängungsmodus, in dem sich nach wie vor offenbar weite Teile unserer Gesellschaft bis hinein in die politische Sphäre befinden.
2. Die Handlungsebene: Schulen müssen weg vom überkommenen „teaching to the test“-Verständnis. Das heißt: Es sollte mehr projektbasiertes, team- und handlungsorientiertes Lernen stattfinden. Wer Leistung will, muss Sinn bieten, anstatt beständig weiter den Druck sowie das Konkurrenzdenken zu erhöhen. Für immer weniger Schüler:innen und Lehrkräfte ist unser Schulsystem sinnstiftend. Wir sollten Schüler:innen dazu befähigen, die sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft mitzugestalten. Das beinhaltet Fragen wie: Wie nachhaltig ist das Essensangebot in der Mensa? Wo findet demokratische Partizipation statt? Oder: Wie ist es um die Radwege-Infrastruktur in der Kommune bestellt?
„Wir halten es für müßig, über Aktionsformen zu streiten“
Stichwort lebenswerte Zukunft für nachfolgende Generationen: Manche Menschen zweifeln angesichts der Klimakrise an der Sinnhaftigkeit, überhaupt noch Kinder zu bekommen. Ist das nachvollziehbar und was würden Sie ihnen sagen?
Psychologisch ist das leider sehr nachvollziehbar. Viele Menschen, die sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung engagieren, sind genau deshalb da: Weil sie in großer Sorge um die Zukunft ihrer Kinder sind. Die Frage, ob man angesichts der wissenschaftlichen Prognosen überhaupt noch Kinder bekommen sollte, drängt sich förmlich auf. Wir möchten auf diese Frage mit einem Zitat aus dem Buch „Klimagefühle“ von Lea Dohm und Mareike Schulze antworten, beide bei den Psychologists for Future aktiv: „Sowohl eine Entscheidung für als auch die Entscheidung gegen Kinder ist nachvollziehbar […] und in jedem Fall zu respektieren.“
Teachers for Future kann sich dem nur anschließen, am Ende des Tages ist die Beantwortung der Kinder-Frage auch von vielen weiteren persönlichen Faktoren abhängig. Wahrscheinlich wird die Zukunft der nachfolgenden Generationen – etwa durch klimabedingte Schulschließungen oder Extremwetter – sehr herausfordernd sein.
Keine andere Aktivist:innen-Gruppe polarisiert momentan so sehr wie die Letzte Generation. Sie stößt auf Zustimmung, aber auch auf breites Unverständnis. Ist die gesellschaftliche Mehrheit, die einen derartigen Klima-Protest bislang meidet, nicht empört genug? Sollte sie mehr Widerstand zeigen – und wenn ja, wie?
Die Aktionen der Letzten Generation sind Akte des zivilen Ungehorsams. Also bewusste Verstöße gegen geltende Normen und einzelne Gesetze, um so auf die Versäumnisse der Bundesregierung hinzuweisen. Ziviler Ungehorsam, das liegt in der Natur der Sache, funktioniert per se nicht über größtmöglichen Beifall von Seiten der Gesellschaft, sondern vielmehr über Störung. Das war bei der Bürger- oder Frauenrechtsbewegung nicht anders. Wir halten es für müßig, über Aktionsformen zu streiten. Da sowohl die Wissenschaft als auch das Bundesverfassungsgericht eine unzureichende Klimapolitik attestiert haben, sind wir der Auffassung, dass ziviler Ungehorsam hier absolut gerechtfertigt ist. Er darf nicht kriminalisiert werden. Siehe dazu auch unsere Soli-Erklärung mit der Letzten Generation.
„Nicht im Ansatz eine adäquate Antwort auf die Klimakrise“
Was sollte uns angesichts der klimatischen Bedingungen die kommenden Jahre am meisten Sorgen machen – und was gibt uns Hoffnung?
Dass sich das Zeitfenster für die Verlangsamung der Erderwärmung nachweislich schneller schließt als zunächst prognostiziert, während die Emissionen weiter steigen. Laut dem Weltklimarat müssen die Treibhausgas-Emissionen bis 2025 ihren Höhepunkt erreicht haben und bis im Jahr 2030 um fast die Hälfte sinken, um zumindest die 2-Grad-Grenze noch zu halten. Diesen Pfad verfehlt die Weltgemeinschaft aktuell deutlich.
Als Lehrkräfte bereitet uns zudem Sorge, wie wenig die größte Bedrohung der Menschheit an unseren Schulen zum Thema gemacht wird. Es bräuchte deutlich mehr Raum und Zeit für eine handlungsorientierte Beschäftigung mit den Herausforderungen. Ein Projekt zur Mülltrennung an Schulen beispielsweise ist ohne Frage sinnvoll, stellt jedoch nicht im Ansatz eine adäquate Antwort auf die Klimakrise dar.
Hoffnung machen uns vor allem Menschen: Menschen, die erkannt haben, dass ein Leben im fossilen Turbo-Modus nicht nur unser aller Lebensgrundlagen untergräbt, sondern uns auf Dauer psychisch krank macht. Menschen, die begriffen haben, dass es hier nicht darum geht, auf lebensnotwendige Dinge zu verzichten. Sondern, dass wir bereits auf so essenzielle Dinge verzichten wie saubere Luft, ein intaktes Ökosystem, ein stabiles Klima und ein Leben ohne permanenten Leistungsdruck – auch in der Schule. Je offensichtlicher die Folgen der Klimakrise bei uns in Deutschland und in Europa werden, desto mehr Menschen werden hoffentlich begreifen, dass wir konsequente Maßnahmen brauchen. Jetzt.
„Klimaschädliche Subventionen stoppen“
Wenn Sie einen konkreten Klima-Wunsch an die Bundesregierung frei hätten: welcher wäre das?
Klimaschädliche Subventionen wie etwa Flugbenzin zu stoppen und ökologische, soziale sowie gesundheitliche Folgekosten in alle Bereiche des Konsums einzupreisen. Dadurch würden Produkte und Dienstleistungen deutlich teurer, die wenig nachhaltig sind. Wir glauben: Sobald eine ökologische wie klimaneutrale Lebensweise zur kostentengünstigeren Option wird, entscheiden sich mehr Menschen dafür. Nicht nur die, die von ihrer Richtigkeit überzeugt sind und sich das zeitlich und finanziell leisten können. Nachhaltiger zu leben, würde zur rationalen Entscheidung werden. Das 9-Euro-Ticket hat im kleinen Maßstab gezeigt, dass genau das möglich ist. Es ist die Aufgabe der Politik, die gesetzlichen Weichen für ökologische Entscheidungen im Alltag zu stellen.
Die anderen Teile der Serie 5 Fragen – 5 Expert:innen finden sich hier
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